2.3.5. Einsatz für Rechte LSBTI-Geflüchteter gegenüber BAMF, Gerichten und Politik
Die Arbeit des Vorstandes fokussierte im Nachgang zum Gespräch mit der BAMF-Leitung am 1. Oktober 2021 im Wesentlichen die Bemühungen, weiter gegen die anhaltende europa- und verfassungsrechtswidrige Anwendung des „Diskretionsgebots“ durch das BAMF und Gerichte anzugehen. Hier gelang es dem LSVD, dass eine Überprüfung der Anhörungs- und Bescheidungspraxis des BAMF nunmehr auch im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung zugesichert wurde. Nachdem das VG Braunschweig bereits die Unzulässigkeit der Anwendung von Prognosen über ein zukünftiges Geheimhalten angeprangert hatte, schloss sich nunmehr auch das VG Leipzig am 18. November 2021 unserer Einschätzung an.
Unsere grundsätzliche Kritik wie auch die beiden genannten Urteile wurden in einem Beitrag im ARD-Mittagsmagazin prominent aufgegriffen. Auch wurde das neue Leipziger Urteil im Asylmagazin veröffentlicht, in dem der LSVD bereits zuvor zahlreiche Artikel bzw. Kommentare platzieren und so die Rechte queerer Asylsuchender stärken konnte.
Zum Thema queere Geflüchtete, konkret zum Thema „Diskretionsgebot“, konnte der LSVD überdies seine intensive Kooperation mit der Katholischen Kirche (Katholisches Büro, Caritas und Bistum Münster) fortsetzen. So fand am 9. Dezember 2021 erneut ein Workshop – diesmal vor allem mit Beratungsstellen – statt, zu dem Patrick Dörr und Philipp Braun als Referenten sowie eine geflüchtete Person für ein persönliches Zeugnis eingeladen wurden. Außerdem veröffentlichte die Caritas in der Beilage Migration & Integration Info der Zeitschrift Neue Caritas vom März 2022 den Artikel „Immer wieder weisen BAMF und Gerichte queere Geflüchtete aus Verfolgerstaaten ab“.
Am 16. Dezember 2021 nahmen in Frankfurt Philipp Braun und Patrick Dörr an dem Fachtag „LSBTIQ*-Geflüchtete: Schutzbedarf erkennen, adäquate Unterbringung ermöglichen, solidarisch Unterstützung leisten“ von Rainbow Refugee Support, dem Netzwerk der hessischen Aids-Hilfen teil, und konnten auch hier im Fachkreis die Kritik des LSVD an der Bescheidungspraxis des BAMF anbringen. Am 18. Januar 2022 hielten beide für den Vorstand den Vortrag LSBTI* im Asylverfahren - Herausforderungen und aktuelle Fragen und diskutierten mit den vom Niedersächsischen Flüchtlingsrat eingeladenen Beratungsstellen. Überdies hat Philipp Braun Ende Januar für den LSVD-Vorstand an den „Hohenheimer Tagen“ zum Asylrecht teilgenommen und die Belange queerer Geflüchteter vertreten.
Nachdem das BAMF in seinem internen „Entscheiderbrief“ seinen Entscheider*innen zur Kenntnis gab, dass diese weiterhin anhand von Prognosen über zukünftiges „diskretes Leben“, also ein Doppelleben, abweisen dürfen, wandte sich der LSVD-Vorstand in einem Schreiben an Bundesinnenministerin Nancy Faeser und forderte sie auf, der rechtswidrigen und menschenverachtenden Entscheidungspraxis des BAMF einen Riegel vorzuschieben. Der Vorstand ist zuversichtlich, dass es hier zeitnah, wenn auch durch den Ukraine-Krieg etwas verzögert, zu einem Gespräch mit dem Innenministerium kommen wird. Auch besprach der LSVD-Bundesvorstand in einem persönlichen Gespräch mit der Integrationsbeauftragten der neuen Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan, vom 8. Februar 2022, die auch das Projekt „Queer Refugees Deutschland“ fördert, unsere Kritik an der Entscheidungspraxis sowie an den sogenannten „sicheren Herkunftsstaaten“. Hier setzt sich der Vorstand weiter dafür ein, dass keine LSBTI-Verfolgerstaaten als solche eingestuft werden dürfen (derzeit gilt dies für Ghana und Senegal).
Neben der Arbeit an dem zentralen Thema „Diskretionsgebot“ setzte sich der Vorstand auch weiterhin für zahlreiche Einzelfälle queerer Asylsuchender ein. Hier bewähren sich weiterhin die Begleitschreiben, die LSBTI-spezifische Herkunftslandinformationen, unsere Sicht zu den rechtlichen Grundlagen und uns bekannte positive Asylentscheidungen beinhalten. Es wurden in dem kurzen Vorstandsjahr Schreiben zu circa 25 Ländern verschickt. Durch unsere Arbeit konnte der Vorstand in circa 30 Fällen dazu beitragen, dass queere Geflüchtete tatsächlich einen Schutzstatus erhalten haben. Auch hat sich der LSVD in einem Fall – allerdings vergeblich – dafür eingesetzt, dass ein schwuler Mann nicht in einen LSBTI-Verfolgerstaat abgeschoben wird.
Der Bundesvorstand vernetzt sich weiterhin bundesweit, vor allem mit den zahlreichen Beratungsangeboten der queeren Community sowie der Regelstrukturen, mit den Trägern der Freien Wohlfahrtspflege und mit beiden großen Kirchen. Im Bereich Unterbringung bzw. Gewaltschutz begleitet der Bundesvorstand weiterhin als Kooperationspartner das Projekt „BeSAFE“ der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) und der Rosa Strippe, gefördert vom Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, in dem in Modellprojekten ein System zur Erkennung besonderer Schutzbedarfe bei der Aufnahme geflüchteter Menschen entwickelt wird.
Weiterhin ist der LSVD als Mitglied der Kerninitiative in der Bundesinitiative „Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften“ aktiv und hat hier beispielsweise auf der Klausurtagung vom 16. Februar 2022 die Belange queerer Geflüchteter bei der Unterbringung eingebracht. Der Vorstand hat überdies für den Bereich Geflüchtete Kontakt zum Bundesverband Trans* aufgenommen, um hier einen stetigen Austausch zu etablieren. Hintergrund sind dabei einige spezifische Argumentationsmuster (einschließlich der Anwendung des „Diskretionsgebots“), mit denen trans*geschlechtliche Antragsteller*innen abgewiesen werden, sowie die massive Gewalt gegen diese Gruppe in den Sammelunterkünften der Länder und Kommunen.
Der Vorstand hat weiterhin das bundesweite LSVD-Projekt „Queer Refugees Deutschland“ eng begleitet und unterstützt. So übernimmt Patrick Dörr nach wie vor die Aktualisierung und Pflege der Webseite www.queer-refugees.de einschließlich des bundesweiten Mappings von Anlaufstellen. Philipp Braun hat die Vernetzung des Vorstands mit der Aktivist*innen-Gruppe des Projekts intensiviert und so beispielsweise am Austauschtreffen zwischen den Aktivist*innen und den Gewaltschutzmultiplikatoren der sieben DeBUG-Kontaktstellen teilgenommen.
Die Arbeit des Vorstands für queere Geflüchtete war überdies stark bestimmt von Krisen im Ausland. So setzte sich der Vorstand für LSBTI-Personen in Afghanistan ein, indem er sich in einem ersten Schreiben an Innenministerin Faeser und Außenministerin Baerbock wandte sowie – zusammen mit weiteren Organisationen – eine Petition zur Aufnahme queerer Afghan*innen startete, die inzwischen von über 10.000 Personen unterschrieben wurde (Stand 6. März 2022). In einem zweiten Schreiben vom 15. Februar 2022, zusammen mit weiteren deutschen LSBTI-Organisationen und ILGA-Asia, unterstrich der LSVD noch einmal seine Forderungen. Hintergrund war, dass Innen- und Außenministerium in der Ankündigung des „Aktionsplans Afghanistan“ queere Personen offenkundig vergessen hatten.
Aktuelle Situation aufgrund des Ukraine-Krieges
Der Angriffskrieg von Russland gegen die Ukraine bestimmt seit dem 24. Februar 2022 auch maßgeblich die Arbeit des Bundesvorstands, sowohl der zuständigen Mitglieder als auch darüber hinaus des ganzen Vorstandes. Der LSVD ist Teil des Bündnisses „Queere Nothilfe Ukraine“ und setzt sich in diesem Rahmen für queere Personen aus der Ukraine ein, die in die EU bzw. nach Deutschland flüchten oder dies beabsichtigen. Der LSVD ist Erstunterzeichner einer entsprechenden Petition, die bereits fast 4.000 Personen unterschrieben haben (Stand 6. März 2022). Zusammen mit einer großen Zahl weiterer zum Großteil queerer Organisationen hat sich der LSVD auch in einem Schreiben des Bündnisses an die zuständigen Ministerien und Beauftragten in der Bundesregierung gewandt, Forderungen aufgestellt und auf die besonderen Bedarfe queerer Menschen aus der Ukraine hingewiesen. Der LSVD hat zur Unterstützung seiner ukrainischen Partnerorganisation Nash Mir überdies ein Spendenkonto eingerichtet und diese sowie weitere Spendenaufrufe bundesweit publik gemacht. Alfonso Pantisano hat für den Vorstand im Rahmen des Bündnisses die Aufgabe übernommen, Unterkünfte für queere Geflüchtete aus der Ukraine zu vermitteln und hat sich ebenfalls für die Einrichtung einer spezialisierten Unterbringungseinrichtung in Berlin eingesetzt.