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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Veranstaltungsbericht Fachtag Mehrelternschaft

Am 11.04.2024 richtete der LSVD in Berlin einen Fachtag zu Mehrelternschaft aus.

Wie kann Mehrelternschaft rechtlich abgebildet werden? Welche Regelungsbedarfe ergeben sich aus dem gelebten Alltag von vorhandenen Mehrelternfamilien? Kann der niederländische Vorschlag auch ein Modell für Deutschland sein?

Es ist eines der großen Streitthemen unserer Zeit: Wer ist eigentlich Familie?

Die rechtliche Elternschaft für ein Kind ist aktuell auf die Person, die es geboren hat und den Mann beschränkt, mit der sie verheiratet ist, der die Vaterschaft anerkannt hat oder dessen Vaterschaft gerichtlich festgestellt  wurde. Dieses Mutter-Vater Kind-Prinzip ist maßgeblich und doch kann es die Realität nicht komplett abbilden. Kinder haben mitunter mehr als zwei Eltern, die sich tagtäglich um sie kümmern, Verantwortung übernehmen und Geborgenheit schenken. Doch auf dem Papier sieht das anders aus: Bis heute gibt es kein Land in Europa, das mehr als zwei rechtliche Elternteile anerkennt. Familienmitglieder werden auf diese Weise de jure zu Fremden erklärt. Für Kinder, die in Mehrelternkonstellationen aufwachsen, bedeutet das viele praktische und rechtliche Nachteile. In den Niederlanden hat sich eine Staatskommission schon vor einigen Jahren mit dem Thema befasst und empfohlen, rechtliche Elternschaft für bis zu vier Personen zu ermöglichen. Die niederländische Regierung hat die Empfehlungen in einem Brief an die Abgeordnetenkammer im Oktober 2023 befürwortet.

Der deutsche Bundesjustizminister hat hingegen im Januar 2024 Eckpunkte vorgelegt, die zwar die Absicherung vielfältiger Familienmodelle ermöglichen wollen, am rechtlichen Zwei-Eltern-Prinzip jedoch nicht rütteln wollen. Hingegen hat das Bundesverfassungsgericht am 06.04.2024 seine Jahrzehnte geltende Rechtsprechung geändert und aufgezeigt, dass es verfassungsrechtlich möglich ist, mehr als zwei rechtliche Elternpositionen zu schaffen. Dies bedeutet eine Anerkennung, dass immer mehr Kinder in Mehrelternkonstellationen aufwachsen.  Es stellt sich die Frage: Wie kann Mehrelternschaft rechtlich abgebildet werden? Welche Regelungsbedarfe ergeben sich aus dem gelebten Alltag von vorhandenen Mehrelternfamilien? Kann der niederländische Vorschlag auch ein Modell für Deutschland sein?

Am 11.04.2024 fand in Berlin tagsüber unter dem Titel „Mehrelternschaft in Deutschland und den Niederlanden – mögliche Wege der rechtlichen Absicherung“ ein Fachworkshop mit Fachkräften aus den Rechtswissenschaften, der Beratung und Politik, von den Wohlfahrtsverbänden, Stiftungen sowie mit Aktivist*innen und Mehreltern statt.

Der Workshop wurde mit einem Interview von Björn Sieverding, Vorstand (und zuletzt Präsident) im Netzwerk der Europäischen Regenbogenfamilienverbände (NELFA) mit Dr. Christine Wagner und Christian Gladel eröffnet. Dr. Christine Wagner hat die deutsche Co-Parenting-Plattform "familyship“ gegründet und ist gemeinsam mit einem schwulen Mann Co-Elternteil ihrer Tochter. Christian Gladel ist Vater in einer binationalen Mehrelternfamilie, in der er, sein Partner und die Mutter der drei Kinder gemeinsam Eltern sind. Er ist tätig im Vorstand von NELFA und assoziiert mit der niederländischen Mehrelternorganisation MeerdanGewenst.

Beide berichteten von ihrem individuellen Weg zum Co-Parenting bzw. zur Mehrelternschaft und von rechtlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen. So hängt die Staatsangehörigkeit des Kindes von der der rechtlichen Eltern ab, weshalb nicht alle von Christians Kindern seine deutsche Staatsangehörigkeit teilen. Die Begrenzung der rechtlichen Elternschaft auf zwei Personen führt darüber hinaus zu Herausforderungen bei der rechtlichen Vertretung etwa bei Ärzt*innen- oder Schulbesuchen. Die Akzeptanz von Mehrelternfamilien hängt häufig vom Wohlwollen des persönlichen Umfelds ab. Wenn dieses Wohlwollen fehlt, kann dies ganz konkret dazu führen, dass Kindern der Schutz ihrer de-facto Eltern verwehrt wird. Eine rechtliche Anerkennung würde solche Situationen vermeiden.   

Anschließend erfolgte ein Beitrag von Wilma Eusman, niederländische Anwältin und Aktivistin, Mitglied des Euro LGBT Family Law Institute und von 2014 bis 2016 Mitglied der niederländischen Staatskommission zur Neubewertung von Elternschaft, die einen Bericht u.a. zur möglichen rechtlichen Regelung der Mehrelternschaft erarbeitete. Wilma Eusman berichtete von der Arbeit der Kommission: Zunächst wurde sich über die Grundlagen der gemeinsamen Arbeit verständigt: Den Begriff des Kindeswohls, über das Verständnis guter Elternschaft und die Rolle des Staates (kein moralischer Auftrag, Rechte und Interessen des Kindes im Zentrum). Die Kommission erarbeitete einen Vorschlag für die rechtliche Gestaltung der Mehrelternschaft für bis zu vier Personen, die für die gebärende Person, die genetisch verwandten Eltern (Ei- oder Samengebende) und die Lebenspartner*innen all dieser Personen offenstehen soll. Alle rechtlichen Eltern sollen gleiche Rechte und Pflichten in Bezug auf das Kind haben: Unterhaltspflichten, Sorge- und Umgangsrecht, Erbrechte. Mehreltern sollten vor der Geburt des Kindes eine Mehrelternschaftsvereinbarung schließen, die gerichtlich bewilligt werden muss. Darin müssen u.a. der/die Wohnort(e) des Kindes, die Aufteilung von Unterhaltszahlungen und Sorgearbeit und der gewählte Nachname des Kindes festgelegt werden. Die gerichtliche Aufsicht soll der Wahrung der Interessen des Kindes dienen und Machtunterschiede zwischen den Beteiligten berücksichtigen.

Oft wird eingebracht, dass es rechtlich einfach zu kompliziert sei, Mehrelternschaft abzubilden. Mit diesem konkreten Gesetzesentwurf zeigte die Staatskommission hingegen auf, dass die rechtliche Gestaltung von Mehrelternschaft durchaus möglich ist. Der politische Prozess zur Einführung der Mehrelternschaft ist in den Niederlanden aktuell durch die Regierungsbildung ins Stocken geraten. Es ist ungewiss, ob es nach einer Regierungsbildung eine politische Mehrheit für eine rechtliche Neugestaltung der Elternschaft in den Niederlanden gibt.

Anschließend stellte Prof. Dr. Anne Sanders, M.Jur. (Oxford), deutsche Rechtswissenschaftlerin, Mitglied der Kommission Familien-, Erb- und Zivilrecht des Deutschen Juristinnenbunds und Autorin der 2018 erschienenen Habilitationsschrift „Mehrelternschaft“, ihr Konzept zur Anerkennung von Mehrelternverhältnissen vor. Sie differenzierte zwischen verschiedenen möglichen „Elternschaftsverbindungen“: intentional, genetisch, biologisch/gestational und sozial. Zur möglichen rechtlichen Regelung der Mehrelternschaft  stellte Anne Sanders zwei Modelle vor: Entweder gleichberechtigte Mehrelternschaft von bis zu vier Personen (damit vergleichbar mit dem niederländischen Modell) oder – wenn Mehreltern dies wünschen -  „Haupt- und Nebeneltern“, bei der zwei Personen mit vollen Elternrechten- und Pflichten ausgestattet sind, die (bis zu zwei) anderen mit abgestuften Rechten, vergleichbar mit dem kleinem Sorgerecht von Stiefelternteilen.

Zudem zeigte sie den Rechtsprechungswandel des Bundesverfassungsgerichts auf. 2003 hatte es die Beschränkung der Elternschaft auf zwei Personen bekräftigt, im April 2024 hingegen der Legislative die Option freigestellt, Elternschaft für mehr als zwei Personen zu öffnen. Leibliche Väter haben das Recht, rechtliche Elternteile zu werden, wenn sie eine sozial-familiäre Verbindung zum Kind haben oder eine solche zum rechtlichen Vater fehlt. Zugleich soll die bestehende soziale Familie geschützt werden. In diesen Fällen kann Mehrelternschaft eine Option sein.

Im daran anschließenden von Gabriela Lünsmann, Fachanwältin für Familienrecht und langjähriges Vorstandsmitglied des LSVD und Beauftragte des LSVD-Bundesvorstands für Rechtsfragen von Regenbogenfamilien, moderierten kollaborativen Workshop wurden u.a. mögliche Inhalte einer Mehrelternschaftsvereinbarung gesammelt. Diese können sein:

  1. Festlegung der gleichberechtigten Elternschaft (oder Bestimmung von „Haupt“- und „Nebeneltern“
  2. Aufteilung des Sorgerechts (ggf. in Teilbereiche wie Gesundheit, Religion, Finanzen etc.)
  3. Finanzielle Gerechtigkeit, auch bei Vermögensunterschieden zwischen den Eltern
  4. Umverteilung von (finanziellen) Ressourcen; Ausgleich von Sorgearbeit
  5. Gleichheit bei den Vertretungsbefugnissen gegenüber (staatlichen) Institutionen
  6. Vereinbarungen über Elternzeit
  7. Wohnort des Kindes
  8. Vereinbarungen darüber, wie die Zeit aufgeteilt wird (Feiertage, Urlaube, Umgang mit Großeltern/weiter Familie und Freund*innen der Eltern, Geschwister)
  9. Entscheidungsfindung (ggf. Aufteilung in alltägliche und wesentliche Fragen)
  10. Umgang mit Konflikten, Strategien, ggf. Benennung möglicher externer Unterstützung
  11. Rolle neuer Partner*innen, Möglichkeit, in Elternschaft ein- bzw. auszutreten
  12. Werte und Ansichten zu Bildung, Religion, Ernährung, Gesundheit (Impfungen, Beschneidung etc.), Umgang mit Behinderung des Kindes. Erwartungen
  13. Umgang mit Wunsch nach Umzug
  14. Aufklärung des Kindes über Entstehungsgeschichte (Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung: Was umfasst das alles?)
  15. Einbeziehung des Kindes/Berücksichtigung des Kindeswillens mit zunehmendem Alter

Außerdem wurden politische/rechtliche Reformbedarfe formuliert:

  1. Geschlechtsneutrale Regelung der rechtlichen Elternschaft
  2. Gleichbehandlung durch die Institutionen
  3. Elternzeit für bis zu vier Personen
  4. Finanzielle Kompensation für Sorgearbeit

Zum Abschluss des Fachtages moderierte Christian Gladel einen Austausch zur Strategie für eine rechtlichen Anerkennung von Mehrelternschaft. Als zentral wurde die Verbesserung der Sichtbarkeit von Mehrelternschaften identifiziert.  Außerdem waren sich die Teilnehmenden einig, dass es breiter Allianzen bedarf, um der Verbesserung der rechtlichen Lage von Mehrelternschaft politisch mehr Gehör zu verschaffen. Mehrelternschaften sind kein „queeres Nischenthema“, sondern in vielfältigen Familienkonstellationen bereits gelebte Realität.  

Am Abend fand schließlich eine politische Paneldiskussion mit den Workshop-Referent*innen und Katrin Vogler statt, seit 2009 Mitglied des deutschen Bundestags, gesundheitspolitische Sprecherin für Die Linke im Bundestag, queerpolitische Sprecherin für Die Linke im Bundestag und Ordentliches Mitglied und Obfrau im Gesundheitsausschuss.

Deutlich wurde, dass Mehrelternfamilien längst gelebte Realität sind: Die fehlende rechtliche Absicherung verhindert nicht, dass Mehrelternfamilien entstehen, sondern erschwert und belastet ihren Alltag. Für die Kinder sind bereits jetzt diejenigen die Eltern, die alltäglich Verantwortung für sie übernehmen.

Das Argument, dass mehr rechtliche Eltern zu mehr Konflikten führen, entspricht dabei nicht der Erfahrung der Familien. Mehrelternschaften entstehen sehr gewünscht und gut durchdacht. Das bezeugt etwa die bereits jetzt bestehende Praxis, schon vorgeburtlich umfangreiche Mehrelternschaftsvereinbarungen zu schließen. Alltägliche Fragen sowie potenzielle Konfliktsituationen wurden somit bereits rechtzeitig thematisiert. Wenn alle die gleiche Rechte haben, zeigt die Erfahrung, dass dann auch mehr Wille zur Einigung besteht. Es kann hingegen hilfreich bei der Lösung von Konflikten sein, wenn in vielen Fällen romantische Ebene und Elternebene getrennt sind oder wenn mehr als zwei Personen involviert sind,

Es ist gerade die Aufgabe der Politik, komplexen Sachverhalte einen guten rechtlichen Rahmen zu geben, der bestehende Machtunterschiede ausgleicht. Insbesondere queere Mehreltern erfahren Mehrfachdiskriminierung. Dass mehrere Personen gemeinsam für ein Kind sorgen möchten, ist für das Kind von Vorteil. Nun hat auch das Bundesverfassungsgericht aufgezeigt, dass es möglich ist! Eine mögliche Regelung der Mehrelternschaft sollte nicht mit dem pauschalen Verweis auf die rechtliche Komplexität abgewiesen werden. Stattdessen kann ausgehend von den bereits existierenden Erfahrungen von Mehreltern ein rechtlicher Rahmen geschaffen werden.