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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Detaillierte Analyse: Wie wirkt sich die neue Dienstanweisung des BAMF auf die Verfahren queerer Geflüchteter aus?

Asyl: 6 Monate nach Abschaffung der Diskretionsprognosen zieht der LSVD Bilanz

Noch bis 2022 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) regelmäßig lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche sowie queere (LSBTIQ*) Geflüchtete mit der Begründung ab, diese würden bei Rückkehr in ihr Herkunftsland ihre sexuelle Orientierung bzw. geschlechtliche Identität verbergen und sich somit vor Verfolgung schützen. Nachdem der LSVD und andere diese europarechts- und verfassungswidrige Anwendung des sogenannten "Diskretionsgebots" über Jahre kritisiert hatten, änderte Bundesinnenministerin Nancy Faeser zum 1. Oktober 2022 die entsprechende Dienstanweisung Asyl und schaffte die "Diskretionsprognosen" ab. Künftig sei im Asylverfahren bei der Prüfung der Gefährdung von queeren Geflüchteten in ihren Herkunftsstaaten immer davon auszugehen, dass die sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität offen gelebt wird, so Faeser damals. 

Noch bis 2022 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) regelmäßig lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche sowie queere (LSBTIQ*) Geflüchtete mit der Begründung ab, diese würden bei Rückkehr in ihr Herkunftsland ihre sexuelle Orientierung bzw. geschlechtliche Identität verbergen und sich somit vor Verfolgung schützen. Nachdem der LSVD und andere diese europarechts- und verfassungswidrige Anwendung des sogenannten "Diskretionsgebots" über Jahre kritisiert hatten, änderte Bundesinnenministerin Nancy Faeser zum 1. Oktober 2022 die entsprechende Dienstanweisung Asyl und schaffte die "Diskretionsprognosen" ab. Künftig sei im Asylverfahren bei der Prüfung der Gefährdung von queeren Geflüchteten in ihren Herkunftsstaaten immer davon auszugehen, dass die sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität offen gelebt wird, so Faeser damals. 

Unsere Pressemitteilung vom 05.04.2023

Wir freuen uns, dass die Dienstanweisung Asyl des BAMF im Themenbereich sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität (SOGI) grundlegend geändert wurde. Die letzten Monate haben gezeigt, dass sich mit der neuen Anweisung auch die Entscheidungspraxis in Asylverfahren ändert. Der LSVD hatte die Vorgaben der alten Dienstanweisung als rechtswidrig und realitätsfern kritisiert und dem Bundesinnenministerium konkrete Änderungsvorschläge vorgelegt. Über die Änderung der Dienstanweisung hinaus begrüßen wir zudem, dass das BAMF mit beratender Begleitung durch den LSVD eine Terminologie erstellt und veröffentlicht hat, die in sechs Sprachen die wichtigsten fachsprachlichen Begriffe zum Themenbereich „Sexuelle Orientierung / Geschlechtsidentität“ sowie einen Begleittext zur Sprachmittlung enthält. Diese Dokumente sind sowohl hilfreich für die Durchführung der Asylanhörung als auch für Beratungsstellen bei der Vorbereitung der Antragsteller*innen.

Die grundlegend überarbeitete Dienstanweisung Asyl korrigiert zahlreiche problematische Vorgaben im Asylverfahren für LSBTIQ*-Geflüchtete. Zu den zentralen Änderungen gehört, dass das BAMF bei der Verfolgungsprognose künftig davon auszugehen hat, dass die antragstellende Person ihre sexuelle Orientierung bzw. ihre geschlechtliche Identität in ihrem Herkunftsland offen ausleben würde. Wird der asylsuchenden Person ihre LSBTIQ*-Identität geglaubt, sorgt die reformierte Anweisung nun für eine erheblich bessere Chance auf eine Anerkennung als Flüchtling.

Gibt es überdies Straftatbestände gegen LSBTIQ* im Herkunftsland, die angewendet werden, dürfen Antragsteller*innen nicht auf Schutzmöglichkeiten bei staatlichen Akteuren verwiesen werden. Damit wird ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von 2020 umgesetzt. Stereotype Vorstellungen über LSBTIQ* werden ausführlicher und differenzierter adressiert, auf eine geschlechtersensible Ansprache der antragstellenden Personen durch Entscheider*innen wird hingewiesen. Schreiben von queeren Verbänden können künftig als Indiz für die Glaubhaftmachung berücksichtigt werden und sind zur Akte zu nehmen.

zur LSVD-Pressemitteilung vom 5.4.2023

Detaillierte Analyse der Dienstvorschrift

Zentral ist in der überarbeiteten Dienstanweisung Asyl, dass das BAMF bei der Verfolgungsprognose nicht mehr davon ausgehen darf, dass sich eine antragstellende Person bei einer hypothetischen Rückkehr in ihr Herkunftsland diskret verhalten und ein Doppelleben führen würde. Stattdessen heißt es hierzu in der Dienstanweisung: 

"Der Entscheidung über die Rückkehrgefährdung ist die Annahme zugrunde zu legen, dass der Antragsteller seine sexuelle Orientierung und/oder geschlechtliche Identität bei Rückkehr in sein Heimatland offen ausleben wird. Dies gilt auch, wenn der Antragsteller selbst im Zeitpunkt der Entscheidung vorgetragen hat, dass er bei Rückkehr beabsichtigt, seine sexuelle Orientierung und/oder geschlechtliche Identität nicht offen auszuleben."

Damit wird ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2013 umgesetzt. Seither sehen wir, dass sich die Entscheidungspraxis des BAMF tatsächlich gewandelt hat. Nur in seltenen Ausnahmefällen erleben wir noch, dass "Diskretionslogiken" angewendet werden. Überdies hat das BAMF auch viele der von uns eingereichten Einzelfälle überprüft und korrigiert, in denen noch vor der Änderung der Dienstanweisung Asyl Anträge anhand des "Diskretionsgebots" abgelehnt worden waren.

Außerdem freut uns, dass sich in der überarbeiteten Dienstanweisung ein expliziter Verweis auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte von 2020 findet. In der Dienstanweisung Asyl heißt es nun:

"Antragstellende, die vortragen wegen ihrer sexuellen Orientierung und/oder geschlechtlichen Identität verfolgt zu werden, können allerdings nicht auf Schutzmöglichkeiten bei staatlichen Akteuren zurückgreifen, wenn im Herkunftsland Straftatbestände gegen LSBTIQ- Personen existieren und sie der Gefahr ausgesetzt sind deswegen selbst bestraft zu werden."

Zuvor war verfolgten LSBTIQ* im Asylverfahren oft vorgehalten worden, sie hätten sich auch in LSBTIQ*-Verfolgerstaaten an die Polizei wenden können, um sich zu schützen.

Neben diesen entscheidenden Änderungen finden sich noch zahlreiche weitere Verbesserungen in der Dienstanweisung Asyl. Waren zuvor beispielsweise noch Begleitschreiben von "Homosexuellenverbänden" durch das BAMF zu ignorieren, sollen nunmehr

"Dokumente, die nicht die sexuelle Orientierung und/oder geschlechtliche Identität bescheinigen, von Verbänden mit Bezug zu LSBTIQ in der Gesamtschau ein Indiz für die Glaubhaftmachung des Sachvortrags darstellen und sind zur Akte zu nehmen."

Besonders freut uns weiterhin, dass die neue Dienstanweisung keinen Unterschied macht zwischen Homo- und Bisexualität und etwa Trans- und Intergeschlechtlichkeit. Auch bei letzteren darf kein Verbergen der geschlechtlichen Identität prognostiziert werden. Gleichzeitig setzen sich die neuen Vorgaben auch explizit mit Fragen der geschlechtlichen Identität auseinander. So darf beispielsweise – wie in der Vergangenheit bei iranischen trans* Personen geschehen – nicht mehr eine geschlechtsanpassende Operation verlangt werden. So heißt es nun:

"Es kann vom Antragsteller jedoch nicht erwartet werden, ein medizinisches Verfahren zur äußerlichen Anpassung des Geschlechts zu durchlaufen, um einer Verfolgung bei Rückkehr in sein Herkunftsland zu vermeiden."

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