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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

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Was steht dazu in unserem Programm?

  • 8. Verantwortung für die Vergangenheit wahrnehmen

    In Deutschland entstand Ende des 19. Jahrhunderts die erste organisierte homosexuelle Bürgerrechtsbewegung der Welt, die auch hinsichtlich Trans- und Intergeschlechtlichkeit Pionierarbeit leistete. Auch entwickelte sich in den 1920er-Jahren eine blühende urbane Lesbenkultur, die in Europa einmalig war. Der Zivilisationsbruch ab 1933 konnte krasser nicht sein. Im nationalsozialistischen Deutschland fand eine Homosexuellenverfolgung ohne gleichen in der Geschichte statt, die zudem lange nachwirkte. Nach dem Ende der NS-Diktatur dauerte es viele Jahrzehnte, bis im demokratischen Staat LSBTI als Grundrechtsträger wahrgenommen und anerkannt wurden.

    Die Erinnerung an das NS-Unrecht wachhalten – Lehren für heute ziehen

    Lange Zeit blieben die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus aus der Gedenkkultur ausgeschlossen. Sie wurden in der Bundesrepublik nicht als Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes anerkannt. Auch in der DDR blieb ihnen Anerkennung versagt. Dabei haben die Nationalsozialisten die Lebenswelten von Schwulen und Lesben zerschlagen. Sie wurden aus Alltag und Kultur verbannt. Zehntausende schwuler Männer wurden nach § 175 Reichstrafgesetzbuch wegen „widernatürlicher Unzucht“ zu Gefängnis oder Zuchthaus verurteilt, mehrere Tausend Schwule wegen ihrer Homosexualität in Konzentrationslager verschleppt. Die meisten überlebten die Lager nicht. Auch lesbische Frauen wurden in Konzentrationslagern inhaftiert, gefoltert, missbraucht und ermordet.

    Nach langen Anstrengungen haben wir durchgesetzt, dass die Bundesrepublik Deutschland 2008 in Berlin ein nationales Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen errichtete. Dieses Denkmal ist kein Schlussstein, sondern ein Ansporn, dass Forschung und Erinnerungsarbeit auf allen Ebenen weitergehen und die nationalsozialistische Verfolgungs- und Unterdrückungspolitik in ihrer Gesamtheit im Blick haben müssen.

    Unterdrückung und Verfolgung nach 1945 aufarbeiten

    Die Geschichte der Unterdrückung und Verfolgung in der Bundesrepublik und der DDR muss stärker in das öffentliche Bewusstsein gerückt werden. Schwule und Lesben blieben auch nach 1945 gesellschaftlich geächtet. Das Grundrecht auf Versammlungs- und Koalitionsfreiheit wurde ihnen in der frühen Bundesrepublik ebenso wenig zugestanden wie das Recht auf freie Meinungsäußerung. Schwul-lesbische Publikationen fielen Zensur und Verboten zum Opfer. Auch nach Ende des Nationalsozialismus hat staatliche Unterdrückungspolitik weitere Generationen um ihr Lebensglück betrogen.

    Der 1935 verschärfte § 175 StGB blieb in der Bundesrepublik bis 1969 unverändert in der Nazi-Fassung in Kraft. Zehntausende Männer wurden im demokratischen Staat aufgrund von NS-Gesetzgebung Opfer von Strafverfolgung. Endgültig gestrichen wurde § 175 erst 1994. Auch die DDR hatte Homosexualität unter Erwachsenen bis 1968 nicht vollständig entkriminalisiert und bis 1989 galten ähnlich wie in der Bundesrepublik unterschiedliche strafrechtliche Schutzaltersgrenzen für Homo- und Heterosexualität. Unabhängige Organisationsbemühungen von Schwulen und Lesben wurden vom Ministerium für Staatssicherheit als staatsfeindlich eingestuft, bespitzelt, behindert und mit „Zersetzungsmaßnahmen“ überzogen.

    2017 konnte endlich die Aufhebung der meisten nach 1945 erfolgten Verurteilungen wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen erkämpft werden. Dieses Rehabilitierungsgesetz ist ein bedeutsamer historischer Schritt und zeigt die Fähigkeit des Rechtsstaats zur Selbstkorrektur. Allerdings müssen noch Lücken im Gesetz geschlossen werden. Denn es gibt eine Einschränkung bei der Aufhebung der Urteile, die neue Ungerechtigkeiten schafft. Das Rehabilitierungsgesetz führt rückwirkend erneut unterschiedliche Schutzaltersgrenzen zwischen Homo- und Heterosexualität ein. Man lässt also im Rehabilitierungsrecht einen Teil des § 175 StGB wiederauferstehen. Das muss umgehend korrigiert werden. Zudem sind die Entschädigungsregelungen unzureichend und müssen dringend nachbessert werden. Schon die strafrechtliche Ermittlung nach § 175 StGB bewirkte gesellschaftliche Ächtung, bedeutete oft den Verlust des Arbeitsplatzes und der gesamten beruflichen Karriere. Das muss ausgeglichen werden.

     

    Unrecht anerkennen und Entschädigung leisten

    Über den Bereich der Strafverfolgung hinaus gilt es weiteres Unrecht aufzuarbeiten, das durch historische Untersuchungen nach und nach ans Licht kommt. Dazu zählen zum Beispiel Fälle, bei denen lesbischen Müttern wegen ihrer Homosexualität das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen wurde. Neue Forschungsergebnisse machen deutlich, dass die drohende Kindeswegnahme viele Frauen daran hinderte, ihren Wunsch nach einem lesbischen Leben zu verwirklichen, da sie für das Verlassen der Ehe mit dem Verlust der Kinder bestraft worden wären.

    Bedrückend ist auch das vielen Jugendlichen zugefügte Unrecht, die wegen ihrer sexuellen Orientierung, ihrer geschlechtlichen Identität oder ihres Geschlechtsausdrucks in Heime, Psychiatrien und ähnliche Einrichtungen eingewiesen wurden. 

    Hier müssen auch die Eingriffe an intergeschlechtlichen Menschen benannt werden, die im Säuglings-, Kindes- oder Jugendalter ohne die vorherige, freie und vollständig informierte Einwilligung medizinischen Zwangsbehandlungen, insbesondere Sterilisierungen, unterzogen wurden. Wir fordern für sie Entschädigung und angemessene gesundheitliche Versorgung.

    Bis das Bundesverfassungsgericht die entsprechende Bestimmung des Transsexuellengesetzes für verfassungswidrig erklärte, mussten sich Trans-Personen einem die äußeren Geschlechtsmerkmale verändernden operativen Eingriff unterziehen und sich sterilisieren lassen, um personenstandsrechtlich im empfundenen und gelebten Geschlecht Anerkennung zu finden und eine Ehe bzw. eingetragene Partnerschaft eingehen zu können. Auch diese vom Gesetz erzwungenen Zumutungen müssen anerkannt und die Opfer entschädigt werden.

    Engagement würdigen und Verantwortung benennen

    Die historische und politische Aufarbeitung ist wichtig für die Würdigung der Opfer. Ebenfalls bedeutsam ist, das Wirken der Vorkämpferinnen und Vorkämpfer für die Menschenrechte von LSBTI zu erforschen und die Erinnerung an sie wach zu halten: an exponierte Aktivistinnen und Aktivisten aber ebenso an alle, die ihr alltägliches Leben als LSBTI mit aufrechtem Gang meisterten. Auch die vielen Straight Allies sind zu würdigen, ohne die keine Mehrheiten gewonnen werden könnten: Menschen, die sich für Gerechtigkeit für LSBTI einsetzen, ohne selbst „betroffen“ zu sein. Das Leben all dieser mutigen Menschen ist eine Kraftquelle für die heutigen Auseinandersetzungen mit Hass und Hetze, mit Vorurteilen und demokratiefeindlichen Ideologien. Wir fordern die Benennung von Straßen und Plätzen nach ihnen.

    Auch die Täter und Täterinnen sind in den Blick zu nehmen. Verfolgung und Unterdrückung fielen nicht vom Himmel. Es waren konkrete Menschen, die in Parteien, Kirchen, Behörden, Fürsorge, Medizin und Justiz Verantwortung dafür trugen, dass die menschenrechtswidrige Strafverfolgung und Ungleichbehandlung Homosexueller jahrzehntelang fortbestand, dass LSBTI medizinisch zwangsbehandelt oder Jugendliche wegen angeblicher „sittlicher Verwahrlosung“ in Heime gesperrt und gequält wurden.

    Der Verweis auf den „Zeitgeist“ allein ist keine ausreichende Erklärung, denn es gab immer auch Stimmen, die für die Rechte von LSBTI eintraten. Diese Stimmen wurden aber ignoriert, lächerlich gemacht und ausgegrenzt. Alle Institutionen, die Unrecht an LSBTI begangen, befürwortet oder ignoriert haben, sind aufgefordert, sich ihrer Vergangenheit zu stellen und ihre Verantwortung zu benennen.