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POLITIK ! 10 1/2005 „Ich vertraue auf die zersetzende Kraft der Toleranz“ Der Historiker Gustav Seibt im Gespräch über Multikulturalismus und Homosexuellenemanzipation Nach dem Mord an dem niederländischen Filmemacher Theo van Gogh brach eine heftige Debatte über die multikulturelle Gesellschaft los. Dabei rückten auch die Probleme ins Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit, die Einwanderung im Hinblick auf die Emanzipation von Frauen, Lesben und Schwulen mit sich bringt. Respekt sprach mit dem Berliner Historiker Gustav Seibt über Multikulturalismus und Homosexuellenemanzipation. Respekt: Herr Dr. Seibt, nach dem Mord an Theo van Gogh meine viele, der Multikulturalismus sei gescheitert. Sie haben in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung das Gegenteil vertreten. Seibt: Zum einen kann man fragen, ob das Projekt des Multikulturalismus überhaupt schon begonnen hat. Bisher gibt es doch nur ein Nebeneinander der Kulturen und Lebensstile. Ich denke aber, wir kön- nen es uns gar nicht leisten, den Multikulturalismus für gescheitert zu erklären. Es gibt keine Alternative in einer globalisierten Welt. Man kann den Menschen ihre Lebensform nicht vorschreiben. Vor allem: Man kann nicht Millionen Menschen in irgendwelche Ursprungsländer zurückverfrachten. Wir müssen mit dem Unterschied leben, ob wir wollen oder nicht. Die Kritiker meinen, „Multikulti“ sei nie mehr als ein Burgfrieden-Konzept gewesen, mit dem reale Probleme gedeckelt wurden, die nun zum Ausbruch kommen... Das ist richtig. Andererseits sollte man dieses Konzept eines gleichgültigen „Nebeneinanders“ nicht unterschätzen, weil es zur Konfliktentschär- fung beiträgt. Eine so pazifisierte und freie Gesell- schaft wie die unsere ist in der Geschichte bei- spiellos. Wir sollten keine überzogenen Forderun- gen nach Homogenität der Lebensstile stellen. Eine große Gesellschaft ist ein Haus mit vielen Wohnungen. „Ganz unten auf der Skala der Verachtung“ Aber wo findet Freiheit ihre Grenzen? Homo- sexuellenfeindlichkeit, Diskriminierung und Ge- walt z.B. geht nicht selten von muslimischen Ju- gendlichen aus. Bis vor kurzem hat es kaum einer gewagt, solche Probleme überhaupt anzuspre- chen... Ja, das stimmt, aber nur weil man Multikul- turalismus mit politischer Korrektheit verwechselt hat. Die Toleranzforderung richtet sich an alle, auch an Minderheiten. Konflikte zwischen Minderheiten muss man thematisieren. Solche Gewaltexzesse haben meines Erachtens viel mit mangelnder öko- nomischer Chancengleichheit zu tun. Schwule, die z.B. aus der Sicht chancenloser muslimischer Jugendlicher auf der „Skala der Verachtung“ ganz unten stehen, sind dann die ersten Opfer. Der islamische Fundamentalismus wirft die Frage auf, welchen Stellenwert wir der Religion in unse- rer Gesellschaft einräumen wollen und können. Wo sehen Sie die Grenzen der Religionsfreiheit? Multikulturalismus: mehr Neben- als Miteinander? Foto: A. Zinn

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