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POLITIK ! Beim Individuum. Jeder muss nach seiner Fasson selig werden können. Das beinhaltet die Freiheit zur Religion. Manche finden ihr Glück in der Unter- ordnung. Es muss aber auch die Möglichkeit des „Austretens“ geben. Letzteres ist innerhalb kulturel- ler Sondermilieus mit starken Familienbanden na- türlich sehr schwierig. Der Staat kann hier kaum ein- wirken; außer für ökonomische Chancengleichheit zu sorgen. Das Ideal des autonomen Individuums setzt materielle Unabhängigkeit voraus. Aber es gibt auch nicht die totale Freiheit, sie wäre das totale Unglück. Starke Familienstrukturen wie in der türki- schen Kultur sind ja nicht per se etwas Uner- freuliches. Ein Beispiel aus der Praxis: der LSVD hatte ein Plakat mit dem Slogan „Anna ist lesbisch, Fatma auch“ geplant. Das führte zu einem Aufschrei unter muslimischen Extremisten: der heilige Name Fatma werde besudelt. Der LSVD hat dann einen anderen Namen gewählt. War das richtig? Muss man hier Rücksicht nehmen auf die Gefühle von Gläubigen? Was würde die 19- jährige Fatma aus Kreuzberg, die gerade ihre Homosexualität entdeckt, dazu sagen? Wenn man die selbe Botschaft auch mit einem weniger religiös besetzten Namen transportieren kann, würde ich dazu raten. Es geht ja um die Sache – Konfliktverschärfungen bringen da nichts. Europa hat Ströme von Blut vergossen für die Möglichkeit, die Religion verhöhnen zu dürfen – und an dieser Freiheit soll auch nicht gerüttelt wer- den. Trotzdem fühle ich mich nicht wohl dabei, den Glauben eines anderen zu verletzen. Solange die Prinzipien klar sind, sollte man in der Form mode- rat bleiben. Man kann auch nicht jeden Schwulen als Arschficker bezeichnen. Doch wie soll man reagieren, wenn mit religiö- sen Ansprüchen auch die Freiheit anderer ein- geschränkt wird? Viele Lehrer, die Klassen mit hohem Migrantenanteil unterrichten, klagen z.B., sie könnten bestimmte Themen wie die Evolutionstheorie kaum mehr unterrichten... Da gibt es eine schöne historische Parallele: die Eroberung Roms durch die italienischen Natio- nalisten. Damals gab es exakt die selben Pro- bleme, als an den Schulen des ehemaligen Kirchenstaates plötzlich die darwinschen Lehren unterrichtet wurden. Die katholische Kirche ver- suchte das mit aggressiven Hetzkampagnen zu verhindern. Doch das hat sich totgelaufen durch Koexistenz. Aber hier und heute gilt natürlich: Evolutionstheorie muss unterrichtet werden. „Man wird das Problem verschärfen, wenn man Zwang ausübt“ Sie haben vor einer „Zwangslaiisierung islami- scher Mitbürger“ gewarnt. Ist nicht die weltwei- te (Re-)Islamisierung vor allem junger Muslime das eigentliche Problem? Ja, aber man wird das Problem verschärfen, wenn man Zwang ausübt. Ich vertraue auf die zersetzende Kraft der Toleranz. Dafür spricht die historische Erfahrung. Fanatismus ist ein Zustand der An- spannung, den man auf Dauer nicht aushalten kann. Die Kritiker des Multikulturalismus würden Ihnen entgegenhalten, zu viel Toleranz führe zur Verschärfung der Probleme. Wenn man es z.B. duldet, dass immer mehr Muslime ihre Kinder aus dem Sexualkundeunterricht nehmen. Oder dass Frauen - und auch schwule Söhne - zwangsverheiratet werden. Auch beim Sexualkundeunterricht gilt: Zwangs- maßnahmen sind äußerst heikel, weil man die Kinder damit in Konflikte stürzt. Prinzipienreiterei hilft nichts. Ein völlig anderer Punkt sind die Zwangsverheiratungen. Sie berühren das Selbst- bestimmungsrecht und sind ein Fall für die Ge- richte. Ja, Zwangsverheiratungen rühren an die Grundfesten der freiheitlichen Gesellschaft. Radikale Islamisten meinen, die demokratische Idee sei „unislamisch“, auch weil sie zu Gesetzen wie der Homo-Ehe führt. Kann man dem mit interreligiösem Dialog beikommen? Was wollen Sie sonst? Wollen Sie das Messer zücken? ...natürlich nicht. Aber die Frage ist doch, ob man sich in solchen „Dialogen“ bislang nicht um heikle Themen wie die Freiheitsrechte des Individuums herummogelt... Das ist richtig. Deswegen brauchen wir auch weni- 11 1/2005 Dr. Gustav Seibt, geboren 1959, arbeitet als Journalist u.a. für Die Zeit, Süddeutsche, Frankfurter Allgemeine und Berliner Zeitung. 1995 erhielt er den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Diverse Veröffentlichungen, u.a.: Rom oder Tod, Berlin 2001.
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