respekt_heft_02_07_2005
projekte ! 23 02/05 H omosexualität als Thema in Migrations- familien ist der Name eines neuen Modellprojektes, das der LSVD seit Anfang 2005 in Berlin durchführt und das vom Bundesfamilienministerium unterstützt wird. Der Start des Projektes fiel in eine heiße Phase der Diskussion um sexuelle Selbstbestimmung im Kontext von Migration. Anlass war die vom LSVD Berlin-Brandenburg initiierte Mahnwache für die von ihren drei Brüdern ermordete 23 Jahre alte Hatun Sürücu. Warum, fragten Medienvertreter und Migrantenverbände, engagiert sich der LSVD gegen Ehrenmorde? Weil es Zeit ist für einen Paradigmenwechsel in der Integrationspolitik und der lesbisch-feministi- schen Bewegung. Weil die Schwulenbewegung ein feministisches Profil braucht. Weil Ehrbegriffe, die die Selbstbestimmung von Frauen verhindern sol- len, sich immer auch gegen Lesben und Schwule richten. Frauenfeindlichkeit und Homophobie repro- duzieren sich durch patriarchale Familienstrukturen. Multikulti ohne die Anerkennung des Selbst- bestimmungsrechts von Frauen und Homosexuellen ist keine Integration. Das Projekt „Migrationsfamilien“ sucht den Kontakt mit Migrantenorganisationen und Multi- plikatoren der Familienberatung. Zusammen mit anderen Migrationsprojekten werden Konzepte zur Enttabuisierung von Homosexualität entwickelt. Die Veranstaltungen und Kampagnen zur Aufklärung setzen dort an, wo Werte, Konzepte von Sexualität und Rollenerwartungen zwischen den Genera- tionen ausgehandelt werden. Eine wichtige Kooperationspartnerin auf diesem Weg ist die in Istanbul geborene und in Berlin- Wedding aufgewachsene Rechtsanwältin Seyran Ates, Preisträgerin des Berliner Frauenpreises 2004. In ihrem Buch „Große Reise ins Feuer“ schildert sie die Emanzipation von Tradition und Familie. Respekt befragte Seyran Ates anlässlich des Projektstartes zu den Hintergründen von Zwangsverheiratungen. Renate Rampf Homosexualität in Migrationsfamilien Neues LSVD-Projekt wirbt für sexuelle Selbstbestimmung Respekt: Welche Rolle spielt die Religion in der Praxis der Zwangsverheiratungen? Es scheint so, als stammten die Berichte über diese Tradition vorwiegend aus einem islamischen Umfeld. Ates: Der Koran kennt keinen Zwang. Das ist die Aussage sämtlicher islamischer Organisationen und Vereinigungen. Aber die Ansicht der Gelehrten darüber, ob Zwangsverheiratung religi- ös begründet oder gar vorgeschrieben ist, interes- siert den Moslem nicht, der seinen Islam selbst auslegt. Obwohl islamische Gelehrte also strikt gegen Zwang sind, praktizieren Moslems einen anderen „Islam im Alltag“. Nach dieser Tradition gilt die Zwangsverheiratung als von Allah gewollt. Diese Diskrepanz ist spannend. Lässt sich das Phänomen der Zwangs- verheiratungen mit dem Paradigma von männ- lichen Tätern und weiblichen Opfern abbilden ? Grundsätzlich ja, da es sich um eine patriarchale Praxis handelt. Betroffen sind jedoch auch Männer, insbesondere Schwule. Aber die Auswirkungen von Zwangsheirat sind bei Männern andere. Sie sind kaum solch extremen Formen körperlicher Unterdrückung ausgesetzt, wie etwa nahezu täglichen Vergewaltigungen. Doch in beiden Fällen gilt das Engagement gegen Zwangsverheiratung dem Recht auf ein freies, selbstbestimmtes Leben und freie, selbstbe- stimmte Sexualität. Daher ist ein Bündnis zwi- schen Feministinnen und Schwulen erstrebens- wert. Sie sind eine der einflussreichsten Kritikerinnen der deutschen Integrationspolitik. Ein Engagement, das nicht überall ankommt. In Berichten der türki- schen Tageszeitung Hürriyet wur- den Sie als verrückte Feministin und Nestbeschmutzerin dargestellt. Trifft Sie das? Das trifft mich nicht persönlich. Ich bin schon lange darüber hinweg, alles persönlich zu nehmen. Ich weiß ja, wer ich bin und wofür ich stehe. Ich mache mir lediglich Gedanken darü- ber, ob andere Frauen, unter anderem auch die von Zwangsverheiratung betroffenen Frauen, sich in die Öffent- lichkeit trauen, wenn solche Kampagnen gefahren werden. Sie bekommen am 25. Juni auf dem CSD in Berlin den Zivilcouragepreis 2005 für „entschlossenes und cou- ragiertes Engagement im Sinne einer diskriminierungsfreien euro- päischen Gesellschaft“. Stärkt Ihnen das den Rücken? Absolut. Das ist eine Form der Anerkennung, über die ich mich sehr freue. Im Zusammenhang mit der Debatte über den Beitritt der Türkei zur EU ist es unbedingt notwendig, immer wieder darauf hinzu- weisen, dass wir in einem demokratischen Europa leben, in dem alle möglichen Lebensformen eine Existenzberechtigung haben. Es ist auch wichtig, die hier lebenden Türken und Kurden diesbezüg- lich aufzuklären, die sich teilweise fern von der Realität in der Türkei entwickeln. Dafür ist die Arbeit mit Multiplikatoren und Verbänden unum- gänglich. Zum Beispiel mit dem LSVD, der mit sei- nen Projekten wichtige Arbeit leistet und den ich gerne unterstütze. Interview: Renate Rampf Seyran Ates, Rechtsanwältin, engagiert sich für die Rechte von Frauen, Lesben und Schwulen in den Migrantencommunitys. RE_02_05+ 14.06.2005 12:29 Uhr Seite 23
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