respekt_heft_20_2014
5 respekt | politik! D ie erste große Koalition zwischen CDU/ CSU und SPD auf Bundesebene brachte 1969 endlich die Entkriminalisierung der Homosexualität unter erwachsenen Männern. Auf das Gleis gesetzt hatte diese grundlegende Reform des § 175 StGB Justizminister Gustav Heinemann (SPD), der 1969 zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Die zweite große Koalition beschloss 2006 das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) für die Arbeitswelt und das Geschäftsleben. Gegenüber dem rot-grünen Vorentwurf von 2005 war das AGG zwar verwässert, ging aber beim Diskriminierungsschutz aufgrund der sexuel- len Identität immerhin über die verbindlichen Mindeststandards der EU hinaus. Der nun zwischen CDU/CSU und SPD geschlossene Vertrag für die dritte große Koalition enthält als einzige konkret benannte rechtspo- litische Maßnahme in Bezug auf Lesben und Schwule die Aussage: „Bei Adoptionen werden wir das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sukzessivadoption zügig umsetzen.“ Das ist freilich ein Placebo. Denn die Möglichkeit der Sukzessivadoption ist seit der Karlsruher Entscheidung vom Februar 2013 bereits geltendes Recht und Berlin ist verpflichtet, dies bis zum 30. Juni 2014 auch gesetzlich nachzuvollziehen. Dieser Koalitionsver trag ist ein bestürzend schwaches Dokument in einer Zeit, in der starke Signale notwendig wären. Denn weltweit arbeiten mächtige politische Kräfte an einem antidemokratischen Rollback gegen die Rechte von Lesben und Schwulen. Auch in westlichen Ländern preisen christliche Fundamentalisten und Hochkonservative Putin und seine homophobe Politik bereits als Vorbild an. Wie soll nun eine Kanzlerin glaubhaft gegen die Einschränkung der Menschenrechte in Russland auftreten, wenn sie im eigenen Land Lesben und Schwule weiterhin rechtlich als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse behandelt? Wenn ihr ein Putin kalt lächelnd entgegenhalten kann: Aber Ihr lasst die Perversen doch auch nicht heiraten. „100 Prozent Gleichstellung nur mit uns.“ Damit hatte die SPD im Wahlkampf geworben. Nun ist Gleichstellung um voraussichtlich weitere vier Jahre verschoben. Es sieht so aus, als würde es die Bundesrepublik nicht einmal schaffen, unter die ersten 20 Länder zu kommen, die die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare öffnen. Deutschland fällt international wieder zurück. Mit Diskriminierung ist einfach kein Staat zu machen. Der Grund für die Stagnation heißt CDU/ CSU. Das kennen wir. Alle einschlä- gigen freiheitlichen Reformen, von der Entkriminalisierung der Homosexualität über die Antidiskriminierungsgesetzgebung bis zum Lebenspartnerschaftsgesetz, mussten gegen jahr- zehntelangen hartnäckigen Widerstand von CDU/ CSU erkämpft werden. Andererseits gilt auch: Am Ende hat die Union mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit jeweils grummelnd ihren Frieden gemacht und nicht versucht, das Rad zurück- zudrehen. Deshalb: Nicht resignieren, sondern weiterkämpfen um jeden Fußbreit Geländegewinn. Auch unterhalb der gesetzlichen Ebene kön- nen die einzelnen Ministerien viele sinnvolle Maßnahmen vorantreiben: im Familienministerium mit einer Offensive zur vollen Integration gleich- geschlechtlicher Familien, im Justizministerium mit der Aufarbeitung der menschenrechtswid- rigen Strafverfolgung gegen Homosexuelle, im Wirtschafts- wie im Arbeitsministerium mit einer ernst gemeinten Diversity-Politik. Für diese Ar t Ressor tpolitik gibt es auch eine Grundlage im Koalitionsvertrag und das ist immerhin ein bedeutsamer Lichtblick: Der „Nationale Aktionsplan der Bundesrepublik Deutschland zur Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und darauf bezogener Intoleranz“ soll um das Thema Homo- und Transphobie erweitert werden. Endlich! Denn in der Tat gibt es bei der Bekämpfung von Homo- und Transphobie viel zu tun. Am besten, man fängt gleich innerhalb der Bundesregierung an. Günter Dworek Was bringt der Koalitionsver trag? Bestürzend schwaches Dokument Deutschlands Zukunft gestalten Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD 18. Legislaturperiode Gliederung 4 Selbstbestimmtes Älterwerden......................................................................104 Sexuelle Identität respektieren......................................................................105 Integration und Zuwanderung gestalten........................................................105 Menschen mit und ohne Behinderung ..........................................................110 Bürgerschaftliches Engagement und Freiwilligendienste ..............................111 Kirchen und Religionsgemeinschaften ..........................................................113 Aussiedler, Heimatvertriebene und nationale Minderheiten ..........................113 4.2. Lebensqualität in der Stadt und auf dem Land ........................................114 Gutes und bezahlbares Wohnen...................................................................114 Stadt- und Regionalentwicklung....................................................................117 Umwelt ..........................................................................................................118 Landwirtschaft und ländlicher Raum .............................................................121 Verbraucherschutz ........................................................................................124 4.3. Kultur, Medien und Sport ...........................................................................128 Kultur.............................................................................................................128 Medien ..........................................................................................................134 Digitale Medien .............................................................................................136 Sport .............................................................................................................137 4.4. Digitale Agenda für Deutschland ...............................................................138 Digitales Wachstumsland Nr. 1 in Europa.....................................................139 Digitale Bildung und Forschung – gerecht und innovativ ..............................141 Digitales Leben und Arbeiten – Chancen und Rechte stärken......................141 5. Moderner Staat, innere Sicherheit und Bürgerrechte ..............................144 5.1. Freiheit und Sicherheit ...............................................................................144 Konsequenzen aus den Erkenntnissen des NSU- Untersuchungsausschusses .........................................................................144 Kriminalität und Terrorismus .........................................................................144 Digitale Sicherheit und Datenschutz .............................................................147 Konsequenzen aus der NSA-Affäre ..............................................................149 Zivilschutz und Schutz kritischer Infrastrukturen ...........................................149 Bundespolizei und Schutz unserer Grenzen .................................................150 Umgang mit SED-Unrecht.............................................................................150 Zusammenhalt der Gesellschaft 105 Sorge und Mitverantwortung in der Kommune Zum Thema "Sorge und Mitverantwortung in der Kommune – Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften" wird eine Kommission von Sachverständigen unter breiter Beteiligung der Verbände und der Öffentlichkeit bis zum Frühjahr 2015 den Siebten Altenbericht erarbeiten. Sexuelle Identität respektieren Lebenspartnerschaften, Regenbogenfamilien Wir wissen, dass in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften Werte gelebt werden, die grundlegend für unsere Gesellschaft sind. Wir werden darauf hinwirken, dass bestehende Diskriminierungen von gleichge- schlechtlichen Lebenspartnerschaften und von Menschen auf Grund ihrer sexuellen Identität in allen gesellschaftlichen Bereichen beendet werden. Rechtliche Regelun- gen, die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften schlechter stellen, werden wir beseitigen. Bei Adoptionen werden wir das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sukzessivadoption zügig umsetzen. Die Arbeit der „Bundesstiftung Magnus Hirschfeld“ werden wir weiter fördern. Wir verurteilen Homophobie und Transphobie und werden entschieden dagegen vor- gehen. Wir werden den „Nationalen Aktionsplan der Bundesrepublik Deutschland zur Be- kämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und darauf bezoge- ne Intoleranz“ um das Thema Homo- und Transphobie erweitern. Die durch die Änderung des Personenstandrechts für intersexuelle Menschen erziel- ten Verbesserungen werden wir evaluieren und gegebenenfalls ausbauen und die besondere Situation von trans- und intersexuellen Menschen in den Fokus nehmen Integration und Zuwanderung gestalten Deutschland ist ein weltoffenes Land. Wir begreifen Zuwanderung als Chance, ohne die damit verbundenen Herausforderungen zu übersehen. In den letzten Jahren haben wir bei der Teilhabe von Zuwanderern und dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft we- sentliche Fortschritte erzielt. Migranten leisten einen bedeutenden Beitrag zum Wohl- stand und zur kulturellen Vielfalt unseres Landes. Leitlinie der Integrationspolitik bleibt Fördern und Fordern. Wir erwarten, dass Angebote zur Integration angenommen wer- den. Jedoch ist Integration ein Prozess, der allen etwas abverlangt. Sie ist eine ge- samtgesellschaftliche Aufgabe. Für alle gilt selbstverständlich die Werteordnung des Grundgesetzes. Für in Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder ausländischer Eltern entfällt in Zukunft der Optionszwang und die Mehrstaatigkeit wird akzeptiert. Im übrigen bleibt es beim geltenden Staatsangehörigkeitsrecht.
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