Respekt Heft 26

4 respekt | bundesverband! D ie Verfassung ist „ein hochaktueller Leitfaden und von großer Bedeutung im täglichen Leben“, erklärte die Vor­ sitzende des Deutschen Philologenverbandes anlässlich 70 Jahre Grundgesetz. So sei Artikel 3 des Grundgesetzes, wonach niemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft oder seines Glaubens benachteiligt oder bevorzugt werden darf, im schu- lischen Alltag eine ganz konkrete Anforderung. „Denn es bedeutet: Man schlägt niemanden, man beleidigt niemanden, und man wertet niemanden ab.“ Da hat sie vollkommen Recht. Noch viel besser wäre es freilich, wenn im Grundgesetz endlich auch zum Ausdruck käme: Es darf auch niemand wegen der sexuellen Identität geschlagen, belei- digt oder abgewertet werden. Schließlich ist „schwul“ weiterhin ein Top-Schimpfwort auf deutschen Schulhöfen. Erhebungen zufolge haben lesbische und schwule Jugendliche ein deutlich höheres Suizidrisiko als ihre heterosexuellen Altersgenossen. Das zeigt, welchem Druck sich ein Teil der lesbischen und schwu- len Jugendlichen immer noch ausgesetzt sieht – von Seiten der Familie, in Schule oder dem sozialen Umfeld. Laut einer Befragung von LSBTI-Jugendlichen aus dem Jahr 2015 haben 82 % aller Teilnehmenden und sogar 96 % der Trans-Befragten Diskriminierung wegen ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität erlebt. Der LSVD hat nun einen erneuten Anlauf gestartet, damit endlich auch im Grundgesetz sichtbar wird: Niemand darf wegen der sexuellen Identität benachteiligt werden. Zahlreiche zivilgesell- schaftliche Kräfte – Frauenorganisationen, Bürgerrechtsgruppen, Gewerkschaften – unterstützen das Anliegen. Im Bundesrat liegt bereits ein entsprechender Gesetzentwurf des Landes Berlin, und im Mai 2019 haben die Fraktionen FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke eine gemeinsame Initiative auf Ergänzung des Grundgesetzes in den Bundestag eingebracht. In den letzten Jahren hat das Bundesverfassungsgericht das verfassungsrechtliche Verständnis von Geschlecht um die Geschlechtsidentität erweiter t und damit trans- und interge­ schlechtliche Menschen in den Diskriminierungsschutz einbezo­ gen. In seiner Rechtsprechung zur Eingetragenen Lebenspartner­ schaft hat es zudem die sexuelle Identität im Wesentlichen den Persönlichkeitsmerkmalen gleichstellt, die in Art. 3. Abs. 3 GG ausdrücklich genannt sind. Das sind große Fortschritte. Dass Karlsruhe immer wieder korrigierend gegenüber diskriminierendem staatlichem Handeln eingreifen muss, zeigt aber: Es wirkt sich bis heute negativ auf unsere Lebenssituation aus, dass sexuelle Identität im Verfassungstext nicht erwähnt ist. Wer dort nicht ausdrücklich genannt wird, läuft Gefahr, in der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit ignoriert zu werden. Der Gleichbehandlungskatalog in Art. 3 Abs. 3 GG war 1949 die demokratische Antwort auf die nationalsozialistische Selektions- und Verfolgungspolitik. Homosexuelle waren von dieser Antwort damals noch ausgeschlossen. Das Grundgesetz hat sie lange Zeit nicht einmal vor schweren Menschenrechtsverletzungen wie der Strafverfolgung nach § 175 StGB geschützt. Es ist überhaupt nicht begründungsbedürftig, warum die sexuelle Identität in den spezi- ellen Diskriminierungsschutz des Art. 3 Abs.3 ausdrücklich hinein gehört. Es ist begründungsbedürftig, dass sie da immer noch nicht drin ist. Die Nichtberücksichtigung schreibt eine zentrale Methode von Homophobie fort: Das Totschweigen von Lesben, Schwulen und Bisexuellen, ihr Marginalisieren und das Bagatellisieren von Diskriminierungen. Nach 70 Jahren Grundgesetz muss das ein Ende haben. Fundamentale Normen des Zusammenlebens wie das Diskriminierungsverbot wegen der sexuellen Identität müssen in der Verfassung für alle Menschen in unserem Land transparent und nachlesbar sein. Günter Dworek LSVD-Bundesvorstand Ar tikel 3 um „sexuelle Identität” ergänzen Diskriminierungsverbot ins Grundgesetz Foto: LSVD Doris Achelwilm (Die Linke), Jens Brandenburg (FDP), Ulle Schauws (Bündnis 90/Die Grünen) und Henny Engels (LSVD-Bundesvorstand) bei der Vorstellung des gemeinsamen Antrags

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