Menu
Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Alle Frauen sind weiß, alle Schwarzen sind Männer, einige von uns aber sind mutig

Dokumentation des Kongresses „Respekt statt Ressentiment. Strategien gegen Homo- und Transphobie“, Berlin 2015

Was ist Intersektionalität und Mehrfachdiskriminierung?

z__lfukar-cetin.jpg"Die Antidiskriminierungsarbeit in Deutschland ist heute immer noch eindimensional nach dem Entweder-Oder-Prinzip konzipiert, und so wird sie auch praktiziert. In ihrer Eindimensionalität werden sexuelle Orientierung und migrationsbezogene Merkmale als zwei Kategorien betrachtet, die sich entweder gegenseitig ausschließen oder als Gegensätze betrachtet werden." (Zülfukar Çetin)

Kimberle Crenshaw, US-amerikanische Schwarz-feministische Juristin und Theoretikerin, nimmt den Satz „Alle Frauen sind weiß, alle Schwarzen sind Männer, einige von uns aber sind mutig“ zum Ausgangspunkt, um einen Schwarzen Feminismus [weiter] zu entwickeln und die Eindimensionalität von Antidiskriminierungsrecht und -Politik in den USA zu kritisieren. Ein Hauptargument ihrer Kritik ist, dass ‚Geschlecht‘ und ‚Race/Ethnizität‘ in den antidiskriminierungspolitischen Bereichen als zwei unterschiedliche Kategorien betrachtet werden, die sich gegenseitig ausschließen. Um ihre Kritik zu veranschaulichen, analysiert Crenshaw einerseits die feministische Theorie, während sie andererseits die antirassistischen Theorien betrachtet. Dabei stellt sie fest, dass in jedem der beiden Bereiche jeweils bestimmte Subjekte entweder vergessen oder ausgeblendet werden.

Zum Beispiel werden in der feministischen Theorie oft die Diskriminierungserfahrungen von Frauen besprochen, die nicht Schwarz sind. In der antirassistischen Theorie hingegen handelt es sich in erster Linie um die Rassismus-Erfahrungen der Männer, die Schwarz sind. Beide Bereiche fokussieren sich also auf Subjekte, die in ihrer Gesellschaftlichkeit Privilegien besitzen: weiße Frauen aufgrund ihres Weißseins, Schwarze Männer aufgrund ihres Geschlechts als Mann. Ausgeblendet werden dabei Schwarze Frauen, die weder in der feministischen noch in der antirassistischen Arbeit berücksichtigt wurden – so die Ergebnisse von Crenshaws juristischer Analyse.

In einem Gerichtsfall, in dem fünf Schwarze Frauen aufgrund „betriebsbedingter Entlassungen“ gegen General Motors klagten, wurden ihnen weder rassistische noch sexistische Diskriminierungen zuerkannt. Das Gericht wies die Klage der Schwarzen Arbeiterinnen wegen Sexismus mit dem Argument zurück, dass in der Firma kein Sexismus nachgewiesen werden kann, weil dort weiterhin [weiße] Frauen beschäftigt werden, die nicht von Kündigungen betroffen sind. Das Gericht lehnte aber auch die Klage wegen rassistischer Diskriminierung ab, weil General Motors nachweisen konnte, dass sie im Betrieb auch Schwarze Männer beschäftigten, die nicht von Kündigungen betroffen waren.

Dieser Gerichtsfall zeigt auf, dass Schwarze Frauen mindestens auf zwei Ebenen diskriminiert werden: Auf der einen Ebene werden sie nicht als Repräsentant_innen eines Geschlechts – also als Frau – betrachtet. Auf der zweiten Ebene wird ihnen der Repräsentationsanspruch als Schwarze abgesprochen. Die Entscheidungen des Gerichts in diesem Fall basieren auf dem Civil Rights Act von 1964, dem damaligen Bürgerrechtsgesetz, das die rassistische Diskriminierung im öffentlichen Raum bekämpfen sollte, dennoch aber keinen Schutz vor kombinierten, mehrdimensionalen Diskriminierungen bot.

Solchen Diskriminierungsfällen begegnet man heute auch in Deutschland. Am Beispiel von LSBTI mit Rassismus-Erfahrungen, die in der Mehrheitsgesellschaft kaum repräsentiert sind, lässt sich das Phänomen der mehrdimensionalen Diskriminierung erklären:

In der deutschen Anti-Homophobie-Politik handelt es sich vor allem um die Diskriminierungserfahrungen und die Rechte weiß-deutscher Schwuler, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung im Fokus stehen. In der Antidiskriminierungsarbeit gegen Rassismus stehen dagegen in der Regel Menschen im Mittelpunkt, deren sexuelle Orientierung nicht immer eine Rolle bei der Beratungsarbeit spielt. Die Gleichzeitigkeit bei der Betrachtung, LSBTI- und Person of Color zu sein, ist darüber hinaus bisher noch keine Selbstverständlichkeit. Dies lässt sich leicht erklären mit der zivilgesellschaftlichen und staatlichen Antidiskriminierungspolitik, die immer noch keinen mehrdimensionalen Antidiskriminierungsansatz etabliert hat. Denn die Antidiskriminierungsarbeit in Deutschland ist heute immer noch eindimensional nach dem Entweder-Oder-Prinzip konzipiert, und so wird sie auch praktiziert. In ihrer Eindimensionalität werden sexuelle Orientierung und migrationsbezogene Merkmale als zwei Kategorien betrachtet, die sich entweder gegenseitig ausschließen oder als Gegensätze betrachtet werden. Nicht nur die Gesetzgebung verfolgt einen solchen eindimensionalen Ansatz, sondern auch die Zivilgesellschaft und die Wissenschaft. Beispielsweise werden in einer in den vergangenen Jahren bundesweit durchgeführten Online-Studie zum Thema „Diskriminierungserfahrungen von Lesben und Schwulen mit Migrationsgeschichte“ die Befragten als Opfer ihrer „migrantischen“ Familien dargestellt. Darüber hinaus werden sie ermutigt, mehr über ihre Homophobie-Erfahrungen zu sprechen, anstatt die rassistischen Diskriminierungen zu thematisieren. Neben den möglichen Migrationszusammenhängen vieler LSBTI-Personen wird im Mainstream auch deren Religionszugehörigkeit oft als Widerspruch zu ihrer sexuellen Orientierung gesehen. Dass es Muslim_innen gibt, die gleichzeitig LSBTI sind, oder dass es LSBTI gibt, die überzeugte Muslim_innen sind, ist oft kein Thema. Auch in diesem Fall stoßen wir auf die Probleme der eindimensionalen Perspektive. Bei den muslimischen LSBTI geht es nicht nur um sexuelle Orientierung und Ethnizität, sondern auch um die Zugehörigkeit zu einer Religion, deren Angehörige in Deutschland zum Feindbild des „Abendlandes“ gemacht werden.

Was ist Intersektionalität und Mehrfachdiskriminierung?

Crenshaw und viele andere Schwarz-feministische Theoretiker_innen und Forscher_innen of Color betonen in ihren praxisbezogenen Forschungen, dass Menschen nicht einfach als Repräsentant_innen einer spezifischen Gruppe betrachtet werden können. Ihnen zufolge besitzt jeder Mensch

  • ein [soziales] Geschlecht,
  • eine sexuelle Orientierung [auch die Heterosexualität muss als solche betrachtet werden],
  • einen sozialen Hintergrund oder Status,
  • einen Körper, der in den Mehrheitsgesellschaften als konform oder non-konform eingestuft wird,
  • eine körperliche oder psychische Verfassung, die wiederum als nützlich [gesund] oder als nicht nützlich [nicht-gesund] usw. gewertet wird,
  • ein Alter, das für den Zugang zu Bildung, zum Gesundheitswesen, zur Arbeit usw. entscheidend sein soll.

Zudem gibt es Menschen, die aufgrund ihrer [zugeschriebenen] Religionszugehörigkeit, der [nicht-privilegierten] Staatsangehörigkeit, des [unsicheren] Aufenthaltsstatus, der Obdachlosigkeit usw. von mehrdimensionalen Diskriminierungen betroffen sind. Wie das Beispiel von Schwarzen Frauen gegen General Motors zeigt, begegnen wir auch in unserer Gesellschaft Situationen wie den LSBTI of Color, die nicht nur wegen ihrer sexuellen Orientierung Ausschluss erfahren, sondern auch aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Namens, ihrer [zugeschriebenen] Religionszugehörigkeit, ihres sozialen und aufenthaltsrechtlichen Status, ihrer Staatsbürgerschaft usw. Die jeweiligen Diskriminierungsformen, -Gründe und -Orte sind so ineinander verwoben, dass man zwangsläufig von unterschiedlichen Diskriminierungs-Dimensionen im gesellschaftlichen System sprechen muss.

Das folgende, von Crenshaw entwickelte Modell einer ‚Kreuzung‘ als Metapher für intersektionale Diskriminierung versinnbildlicht Lebensrealität en von Menschen, die dieser mehrdimensionalen/intersektionalen Diskriminierung ausgesetzt sind. Demnach kann von Diskriminierung – metaphorisch dargestellt als Unfall auf einer Kreuzung von vier Straßen – jede/r aus jeder Richtung betroffen sein:

  • eine Straße symbolisiert die Homophobie,
  • eine andere Straße den Rassismus,
  • eine weitere Straße den sozialen Status und
  • die letzte Straße den Sexismus.

Wichtig ist in solchen Fällen, dass die diskriminierenden Personen oder Stellen sich zunächst darüber bewusst sind [oder dass es ihnen bewusst gemacht wird], dass sie für die Diskriminierung verantwortlich sind und sich zu ihren Diskriminierungshandlungen bekennen, was oft aber nicht leicht fällt.

An diesem Punkt, so Crenshaw und viele andere Schwarz-feministische Theoretiker_innen und Forscher_innen of Color, mobilisieren die mehrdimensional Diskriminierten ihre Kräfte, aktivistisch, wissenschaftlich, juristisch, um die Diskriminierungen sichtbar zu machen und andere zu ermutigen, sich gegen Diskriminierung zu wehren, so wie es der zweite Teil meines einleitenden Satzes: „... aber einige von uns sind mutig“ zum Ausdruck bringt.

Dr. Zülfukar Çetin
Stiftung Wissenschaft und Politik, Mercator-IPC Fellow an der Stiftung Wissenschaft und Politik. Çetin lehrt an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin im Bereich Soziale Arbeit. Seine Doktorarbeit zu Homophobie und Islamophobie wurde 2014 im Rahmen des Deutsch-Türkischen Wissenschaftsjahrs mit dem Wissenschaftspreis ausgezeichnet. Seit Oktober 2014 arbeitet er an seinem Post-Doc-Projekt "LSBTI-Politik und -Bewegung in der Türkei" als Mercator-IPC-Fellow bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Er ist Vorstandsmitglied des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg. Seine letzte Publikation "Gespräche über Rassismus. Perspektiven und Widerstände" ist im März 2015 im Verlag Yılmaz-Günay erschienen.

Weiterlesen