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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Nach dem Arabischen Frühling: LGBT zwischen Aufbruch und Repression

Berichte und Interview mit Aktivist*innen aus Ägypten, Algerien, Libyen, Marokko, Oman und Tunesien

Welche Einstellungen zu LGBT gibt es in den arabischen Ländern? Wie ist die rechtliche Situation und welche gesetzlichen Verbote werden angewandt? Wie sieht Euer Aktivismus aus? Wie begegnet ihr Anschuldigungen, dass Homosexualität ein unislamisch und ein Import aus dem Westen sei?

Arabische Aktivist*innen der Besuchsreise vor dem Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen in Berlin

Nach dem Arabischen Frühling: Risiken und Chancen für LSBTI in Nordafrika und dem Nahen Osten – vor diesem Hintergrund luden die Hirschfeld-Eddy-Stiftung, das Auswärtige Amt und das Goethe-Institut 14 Menschenrechtsverteidiger_innen aus der MENA-Region nach Deutschland ein. Ziele der siebentägigen Besuchsreise im November 2015 waren der Erfahrungsaustausch untereinander und die Vernetzung mit hiesigen Institutionen und Akteur_innen zu ermöglichen. Wir sprachen mit Dalia Al Farghal (Ägypten), Smail Wahrani (Algerien), Amani Zreba (Libyen), Sahtrot (Marokko), B. (Oman) und Ali Bousselmi (Tunesien).

Wie habt ihr zum LGBTI-Aktivismus gefunden und was gibt euch den Mut und die Kraft dafür?

Smail: Ich war an einem LGBT-Diskussionsforum beteiligt und dort diskutierten wir über unsere Rechte. Irgendwann habe ich gefühlt, dass ich auch was dafür tun möchte und musste.

Dalia: Mein eigener, persönlicher Kampf, der Kampf anderer und die Aufstände in Ägypten 2011.

Amani: Ich bin Teil der LGBTI-Community und daher weiß ich, wie hart es in Libyen ist.

Sahtrot: Mein tiefer Glaube an die Barmherzigkeit Gottes und der Menschen und eine unbedingte Liebe zur LGBT-Community.

B.: Durch das Organisieren von Zusammentreffen und Partys. Ich weiß, dass es ein Kampf ist als LGBTI und ich wollte meine Erfahrungen und mein Wissen teilen.

Ali: Es gibt viel Ungerechtigkeit in dieser Welt und ich habe beschlossen, am Kampf teilzunehmen und zu einem Wandel beizutragen. Wenn der Wandel dann einsetzt, gibt dir das viel Mut, vor allem in Bezug auf alles, was mit der Familie zu tun hat.

Welche Unterstützung gibt es für LGBT in Eurem Land?

Sahtrot: In Marokko vor allem das Internet und einige Organisationen, etwa durch die UN oder einige lokale Nichtregierungsorganisationen.

Amani: Wir bekommen keine Unterstützung und unsere Organisation arbeitet in Libyen unabhängig.

Ali: Privat: Psychologische Unterstützung, juristische Hilfe und capacity building. Öffentliche Unterstützung gibt es keine.

Smail: Grundsätzlich keine. Homosexualität ist kriminalisiert und die Gesellschaft sehr homophob. Es gibt ein paar feministische Organisationen in Algerien, die bei Gewalt- und Missbrauchserfahrungen Beratung für lesbische Frauen anbieten.

B.: Es gibt keine Unterstützung.

Welche Einstellungen zu LGBT haben Gesellschaft und Politik?

Ali: In Tunesien werden wir durch eine homophobe Gesellschaft und eine Regierung diskriminiert, die Artikel 230 des Strafgesetzbuches anwendet. Dieser bestraft Homosexualität mit bis zu drei Jahren Gefängnis.

Dalia: Die Lage ist sehr instabil und bedrohlich. Menschen mit anderer geschlechtlicher oder sexueller Identität sind in Ägypten konstant Gewalt und Angriffen von Seiten der Gesellschaft und den Medien ausgesetzt, von den ägyptischen Behörden ganz zu schweigen.

Smail: Es gibt in Algerien zwei Artikel im Strafrecht, die explizit Gefängnis für Homosexualität vorsehen. Die Regierung greift uns nicht offen an, sie ignorieren uns eher.

B.: Sobald es öffentlich wird, reagieren Gesellschaft und Politik im Oman negativ.

Amani: Gleichgeschlechtliche Beziehungen sind in Libyen illegal. LGBT werden tabuisiert und gelten als unmoralisch.

Wie sieht die rechtliche Situation für LGBT in Euren Ländern aus?

Dalia: Es gibt kein spezielles Gesetz, das gleichgeschlechtliche Sexualität oder bestimmte Geschlechtsidentitäten verbietet. Allerdings gibt es einige Artikel in der ägyptischen Verfassung, die gegen LSBT benutzt werden.

Smail: Die algerische Gesellschaft ist typisch arabisch-mediterran – sehr patriarchisch und heteronormativ. Das Thema ist sehr tabuisiert und bringt Schande über Familien.

Amani: Gleichgeschlechtliche Beziehungen sind illegal. Wir haben in Libyen ein Gesetz, das homosexuelle Beziehungen und Sexualität mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft (Penal Code 1953, Art. 407 / 408).

Ali: Homosexualität ist in Tunesien verboten. Das Gesetz verbietet vor allem den sexuellen Akt und es besteht die Möglichkeit, dass Artikel, die Prostitution betreffen, zur Anwendung kommen.

Sahtrot: Homosexuelle Beziehungen sind in Marroko verboten.

B.: Im Oman ist es illegal.

Wie werden die gesetzlichen Verbote angewandt? Stehen sie in erster Linie auf dem Papier oder ist Leben als LGBT praktisch unmöglich?

Smail: Es ist sehr kompliziert. Um internationalen Druck zu vermeiden, wird das Gesetz selbst in Algerien nie wirklich angewandt. Allerdings werden schwule Männer mit anderen Beschuldigungen verhaftet: Erregung öffentlichen Ärgernisses, Ehebruch, versuchte Anstiftung. Selbst bei einer Verhaftung wegen eines homosexuellen Aktes, würden Richter_innen das unter anderen Anschuldigungen verhandeln.

Dalia: Es ist nicht vorhersehbar und wird in Ägypten nach Lust und Laune angewandt.

Sahtrot: Offen homosexuell zu leben ist in Marokko praktisch unmöglich.

B.: In Oman wird es nicht durchgesetzt – ich habe mit meinem Ex-Freund fünf Jahre in einer Wohnung gewohnt.

Ali: Das ist nicht unmöglich. In Tunesien gibt es Schwule, die out sind und dazu stehen. Doch die Bedrohung bleibt durch die Existenz des Strafrechts und es gibt Verhaftungen vor allem seit der Revolution.

Anami: Libyen ist ein muslimisches Land. Das Gesetz ist nicht implementiert, sondern viele rechtliche Texte und Artikel basieren auf dem islamischen Recht. Homosexuell zu sein bedeutet in Libyen gegen das Gesetz Gottes zu sein. Besonders nach der Revolution 2011 sind LSBTI verstärkt zu einem Ziel von Gewalt geworden.

Wie sieht Eure alltägliche Arbeit aus? Was sind Eure konkreten Ziele?

B.: Ich verbreite Neuigkeiten zum Thema LSBT in meinem Netzwerk und mein Ziel ist es, eine Gesellschaft und Unterstützung aufzubauen.

Ali: Ich lebe in einer gay friendly Familie und habe Aktivismus-Erfahrung auf verschiedenen Gebieten wie dem Frauenrecht, Flüchtlingsrecht…). ich habe also eine gewisse Glaubwürdigkeit und mir gelingt es, in aller Ruhe zu arbeiten.

Dalia: Wir bieten rechtlichen Beistand.

Smail: Hauptsächlich versuchen wir durch soziale Medien eine Community aufzubauen: Bekanntmachen von Kampagnen, Diskussionen und unsere Positionen in die Mainstreammedien zu bringen.

Anami: Unser Ziel ist eine sichere Gruppe und eine Bewegung, die mit libyischen LGBTI arbeitet, und wir hoffen auf eine Zusammenarbeit mit Watch Human Rights. Wir berichten über Gewalt gegen LGBTI auf unserer facebook-Seite und Homepage.

Sahtrot: Unser Ziel ist die LSBT-Feindlichkeit in den Institutionen und der Gesellschaft zu verringern und eine Gesellschaft von Liebe und Respekt aufzubauen.

Gibt es eine Erfolgsgeschichte zu erzählen?

Dalia: Wir haben kleine Erfolge, aber keine vollständige Erfolgsgeschichte.

B: Zwei Männer aus dem Oman und Saudi-Arabien – ich bin eine Art Mentor und wir haben regelmäßig Diskussionen über Soziale Medien.

Ali: Wir haben 47 meist junge Leute nicht nur aus Tunis eingeladen, um mit Workshops die wirklichen Bedürfnisse der Community in Erfahrung zu bringen. Während des Weltsozialforums 2015 haben wir Demos organisiert

Smail: 2012 hatte unsere 10–10-Kampagne zum Nationalen LGBT-Tag so viel Erfolg, dass El Watan darüber berichtete. Das ist die am meisten gelesene Zeitung in Algerien. Eine Woche später gab es erneut einen Artikel über die Reaktionen von Leser_innen. Wir fanden es gut, dass neben den homophoben auch die unterstützenden Botschaften abgedruckt wurden. Die Tatsache, dass Millionen Leser_innen die unterschiedlichen Sichtweisen lesen konnten, brachte auch eine Debatte in unseren sozialen Medien.

Anami: Wir konnten homosexuelle Männer mit Kontakten unterstützen, so dass sie Asyl in Deutschland erhalten haben.

Was sind die größten Hindernisse für Eure Arbeit?

Sahtrot: Eine Gesellschaft, die manipuliert wurde, damit sie LGBT hassen.

Smail: Die Angst öffentlich geoutet zu werden und die harten Drohungen, die wir tagtäglich bekommen.

Ali: Wir haben keine Büroräume und es ist nicht leicht, einen sicheren Ort zu finden, der gay friendly ist und wo wir Veranstaltungen durchführen können.

B.: Sicherheit und die Angst geoutet zu werden.

Dalia: die instabile politische Situation in Ägypten, das schlechte Bildungssystem und der Westen, der unsere repressiven Regime unterstützt.

Was sind Eure Argumente und Strategien für mehr Akzeptanz?

Sahtrot: Der erste Schritt muss sein, eine Kommunikationsstrategie zu entwickeln, die die Gesellschaft überzeugt, dass Homosexualität keine Krankheit ist.

B.: Zusammentreffen organisieren, Informationen verbreiten und einen Vorbild zu sein,

Dalia: Mehr Menschen über sich selbst und andere zu bilden.

Smail: Wir versuchen Menschen zu überzeugen, dass wir keine Belästigung oder irgendeine Gefahr darstellen. Wenn jemand verstanden hat, dass wir niemanden „konvertieren“ wollen und auch keine Kriminellen sind, kann die Diskussion beginnen.

Ali: Wir stützen uns auf die Menschenrechte als Argument. Wir zeigen den anderen, dass wir da sind und existieren. Es ist kein Akt der Nächstenliebe, uns zu akzeptieren. Denn die Akzeptanz ist Pflicht und keine Wahl.

Wer unterstützt Euch?

Anami: Das Netzwerk Mantiqitna.

Smail: Hauptsächlich LGBTIs aus anderen Ländern, aber überraschenderweise auch viele algerische Heterosexuelle, vor allem Frauen.

Dalia: Gut ausgebildete Menschenrechtsverteidiger_innen aus der ganzen Welt, Opfer von LGBTI-feindlicher Gewalt, viele feministische Gruppen und andere Aktivist_innen, die zu den Rechten von LSBTI arbeiten.

Ali: LGBTI-Vereinigungen und feministische Vereine: u.a. Chouf, Damj, ADLI, ATFD/FRIDA, AFE, Mantiqitna, LGBTI Denmark…) und unsere Mitglieder.

Sahtrot: Menschenrechtsorganisationen aus Marokko und der ganzen Welt.

B: Einige Freunde.

Was erwidert Ihr auf die Anschuldigung „unislamisch” zu sein?

B.: Glücklicherweise ist es im Oman nicht akzeptiert, solche Fragen zu stellen.

Sahtrot: Es ist schwierig, sicher zu sein. Wir können nicht wissen, was islamisch und was unislamisch ist.

Smail: Wir machen geltend, dass wir muslimische Mitglieder haben. Sie sind lesbisch oder schwul aber immer noch muslimisch. Wir bitten sie oft, sich einzusetzen und zu zeigen, dass man beides sein kann.

Dalia: Ich bevorzuge die Bezeichnung „säkular”.

Wie begegnet ihr der Behauptung, dass Homosexualität ein Lebensstil und Import aus dem Westen ist?

Dalia: Homosexualität als ein Verhalten ist nicht westlich. Aber ich denke, Homonationalismus ist westlich und seine Auswirkungen auf unsere Gesellschaften. Das macht die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt sehr ungewohnt für uns.

B.: Homosexualität gab es im Oman schon immer und wir waren dafür im G.C.C. (Kooperationsrat der arabischen Staaten des Golfes bzw. Golf-Kooperationsrat bestehend aus Kuwait, Bahrain, Saudi-Arabien, Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten und dem Oman)

Ali: Homosexualität gab es immer in allen Gesellschaften, und sie ist keine Lebensart, die man importiert.

Smail: Die Tatsache, dass wir unser algerisches Erbe und unsere algerische Identität laut und deutlich machen ist ein guter Anfang. Wir bestehen immer darauf, dass wir eine spontan entstandene algerische Bewegung sind.

Anami: Es stimmt nicht. Homosexualität ist seit Jahrhunderten in unserer Geschichte und Kultur.

Sahtrot: Wir bringen die wissenschaftliche Perspektive vor.

Zum Abschluss: Wie können deutsche Politik und Organisationen und Euch und Eure Arbeit unterstützen, vor allem ohne eine rassistische Hierarchien zu reproduzieren?

Sahtrot: Arbeitet nicht auf eigene Faust, sondern mit uns zusammen. Es muss aus dem Inneren und nicht von außen kommen.

Smail: Stellt uns Wissen, das auf Euren Erfahrungen basiert, zur Verfügung: Trainings, Austauschtreffen. Unterstützt uns beim Zugang zu Geldern für unsere geplanten Projekte: Wir bevorzugen eher eine kleine Förderung für passende Aktivitäten als große Briefumschläge geknüpft an die Kongruenz mit Förderrichtlinien der Geber. Coacht uns auch in Tipps für ein sicheres Arbeiten als Aktivist_in. Ich möchte die Gelegenheit auch nutzen, ein zunehmendes Phänomenen anzusprechen: Aktivist_innen aus der MENA-Region fliehen nach Europa und beantragen dort Asyl. Manchmal nutzen sie auch Veranstaltungen wie diese Besuchsreise, um aus ihrem Land zu fliehen. Aber wenn alle nach Europa gehen, wer führt dann den Kampf in den Heimatländern weiter? Klar, sie helfen auch aus dem Ausland, aber die Arbeit vor Ort ist das Wichtigste. Deswegen denke ich es ist besser die Sicherheit von Aktivist_innen zu erhöhen als ihnen mehr Gelegenheit zu geben, sich zu exponieren. Das eigene Land zu verlassen sollte eine Wahl und kein Verhängnis sein.

Dalia: Die deutsche Regierung sollte als ersten Schritt aufhören, dass gegenwärtige Regime zu unterstützen. Ich empfehle auch mehr Geld in die Integration und Unterstützung von LSBTI-Flüchtlingen zu investieren und sichere Unterkünfte, Bildung und Jobs, mehr Erleichterungen (Das sollte für alle Flüchtlinge gelten). Den Austausch von Expertise und die Förderung von Wissen und Know-how (capacity building). Zudem könnte sie Praktika und Stipendien für Menschenrechtsverteidiger_innen aus unseren Ländern anbieten.

B.: Vernetzung mit der deutschen Botschaft im Oman.

Ali: Durch Visavergabe an Menschen, die in Not sind. Weniger Treffen, bei denen auf höchster Ebene viel geredet, aber wenig getan wird. Lösungen erarbeiten anstatt auf der Problemebene zu verharren, politischer Druck und capacity building für Aktivist_innen.

Anami: Erleichtert das Ausstellen von Visa für Aktivist_innen und gefährdete LGBTI, bietet Kooperationen und Ausstauschprogramme für mehre Freiheit und die Entkriminalisierung an. Ihr könntet Veranstaltungen und Aktivitäten der LGBTI-Community unter dem Schutz der Deutschen Botschaften abhalten.

Interview: Guido Schäfer und Markus Ulrich

„Ich habe erreicht was ich wollte und nicht was sie von mir wollten.“ Berichte aus Tunesien, Ägypten und Libanon auf der Konferenz “Nach dem Arabischen Frühling: Risiken und Chancen für LSBTI in Nordafrika” (2015)

Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht.“ – das unterstrich der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung Christoph Strässer in seinen Eröffnungsworten und begrüßte insbesondere die 14 Aktivist_innen aus den sieben Ländern der MENA-Region.

Erfahrungen mit deutscher Außen- und Menschenrechtspolitik

Denn die Entwicklung in vielen Ländern des Arabischen Frühlings zeigt, dass sich viele Erwartungen und Hoffnungen nicht erfüllt haben. Demokratische Grundrechte wie das Recht auf Meinungsfreiheit, auf Schutz der Privatsphäre oder soziale und gesundheitliche Rechte werden vielerorts weiterhin gewaltsam verwehrt, nicht nur aber auch insbesondere für Lesben, Schwulen, Bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LSBTI).

Doch es gibt Menschen, die unermüdlich streiten, enorme Risiken eingehen und auf der Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte beharren, um die Situation für LSBTI zu verbessern. „Das“, so Axel Hochrein, Vorstand der Hirschfeld-Eddy-Stiftung, „sind die Expert_innen, denen wir hier in Deutschland genau zuhören müssen, wenn wir die Akzeptanz von Minderheiten unterstützen und fördern wollen.“

Und so gaben Dayana KostantinBabr Baabou und Dalia Al Farghai in dem von Klaus Jetz (Hirschfeld-Eddy-Stiftung) moderierten Panel Einblicke in den Alltag, dem Aktivismus in ihren Ländern und den Erfahrungen mit deutscher Außen- und Menschenrechtspolitik. 

Tunesien: Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher Sexualität und fehlender staatlicher Schutz

Von allen Ländern gilt Tunesien als das Land, in dem die Hoffnungen auf einen demokratischen Wandel noch ungebrochen sind. So berichtete Badr Baabou über die bereits 2002 gegründete tunesische Organisation „Damj“. Auslöser war eine Reihe willkürlicher Festnahme von LSBT aufgrund der bestehenden Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher Sexualität durch Artikel 230 des Penal Codes und fehlenden staatlichen Schutz. Seit dem arbeitet Damj für die Akzeptanz von LSBTI, für die sie die Bezeichnungen „Minderheiten“ bzw. „marginalisierten Gruppen“ benutzt.

Im Zuge des Arabischen Frühlings konnte sich Damj offiziell als Nichtregierungsorganisation registrieren. 2014 gab sich Tunesien eine neue Verfassung, die festschrieb, dass der Staat die persönliche Freiheiten und die Privatsphäre seiner Bevölkerung zu schützen hat. Bislang ist die Realität jedoch weiterhin eine Diktatur des Staates. Die zugesicherte Meinungsfreiheit würde jetzt auch genutzt werden, um gegen LSBTI zu hetzen. Die Demokratie müsse nun auch aufgebaut und gelebt werden. Auch das Verfassungsgericht müsse erst noch einen Präsidenten für den Hohen Rat des Gerichts benennen, bevor es seine Arbeit aufnehmen könne.

Vor dem Hintergrund dieser Verfassung gibt es mit dem Fall „Marwan“ gegenwärtig eine öffentliche Diskussion um die Abschaffung der Kriminalisierung und der Beweisaufnahme durch medizinische Tests. Marwan, ein 22jähriger Student, wurde festgenommen und inhaftiert, nachdem man seine Telefonnummer im Handy eines ermordeten Mannes gefunden hatte. Ohne Zusammenhang mit dem Mord wurde Marwin dann wegen Homosexualität angeklagt, die mit einem vorgenommenen Analtest „bewiesen“ wurde. Schließlich wurde er zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Neu ist, dass erstmals öffentlich über die Legitimität der Kriminalisierung gesprochen wird. Dabei stehen sich die neue Verfassung und ein Beharren auf traditionelle Werte der Gesellschaft gegenüber. So gilt Homosexualität in der tunesischen Gesellschaft weiterhin als Krankheit, die behandelt werden muss. Zudem gibt es andere Menschenrechtsgruppen, die aus strategischen Erwägungen argumentieren, dass die Rechte von LSBTI zugunsten „wichtigerer Rechte“ zurückgestellt werden müssten, um die Gesellschaft nicht zu überfordern.

Kaum Engagement der Deutschen Botschaft in Tunis

Auch von der Deutschen Botschaft vor Ort erwarte man mehr Unterstützung. Dort sei man auf Vermittlung der Heinrich Böll Stiftung zwar inzwischen in Kontakt, als jedoch vor zwei Jahren eine Todesfatwa gegen zwei Mitglieder von Damj ausgesprochen wurde, reagierte die Deutsche Botschaft kaum. Humanitäre Visa gab es keine. Dabei hätte Deutschland laut Baabou einen guten Ruf und würde als neutral eingeschätzt – das wäre eine gute Ausgangslage, um auch Missstände anzusprechen.

Ägypten: Lage für LSBTI unter Militärherrschaft schlimmer als unter der Muslimbruderschaft

Dalia Al Farghai, lebt in Schweden und arbeitet für Solidarity for Egypt LGBT, einer nicht-registrierten ägyptischen NGO. Sie bezeichnet sich eher als Menschenrechtsaktivistin und weniger als LSBTI-Aktivistin, denn es sei schließlich ein Menschenrecht zu wählen, wie man leben möchte. Sie betonte, dass sich die Lage unter dem Militärregime mit Präsident Sisi sehr verschlechtert habe. Unter dem früheren Präsidenten Mursi von der Muslimbruderschaft seien die Menschenrechtsverletzungen von LSBTI vor allem nicht so systematisch gewesen. Nunmehr inszeniere sich das Militär als Beschützer von Tradition und Werten, verhafte in koordinierten Aktionen mit Medien wahllos LSBTI. Selbst in den eigenen Wohnungen seien LSBTI nicht mehr sicher. Die Justiz arbeitet in diesen Fällen extrem schnell.

Instrumentalisierung religiöser Gefühle, um andere gesellschaftliche Missstände zu verdecken

Allerdings sei Religion nicht das Fundament für eine Kriminalisierung, die Verfolgung habe andere Ursachen. Das Militär missbrauche und instrumentalisiere die religiösen Gefühle der Menschen gegen LGBTI, um die Aufmerksamkeit von anderen Missständen abzulenken. So würden die Zivilgesellschaft generell unterdrückt und beispielsweise unüberwindbare und komplizierte Hürden zur Registrierung aufgebaut. Funding würde ebenfalls sehr schwierig sein, da eine ausländische Finanzierung unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung Verdächtigungen nach sich ziehen würden.

Al Farghai kritsierte sehr deutlich, dass viele europäische Staaten inzwischen ihre Beziehungen zu totalitären Regimen wie das ägyptische normalisiert haben. Das stehe im deutlichen Widerspruch zu dem Bestreben einer menschenrechtsorientierten Außenpolitik. Man könne zudem nicht einerseits zu Demokratiebestrebungen in der Zivilgesellschaft ermuntern und gleichzeitig es ablehnen, Aktivist_innen, die den Staat verlassen müssen, mit humanitären Visa zu unterstützen. Sie sehe kaum Hoffnung für eine schnelle Verbesserung der Menschenrechtslage in Ägypten.

Libanon: Juristische Grauzone und staatliche Verfolgung von trans* Frauen

Aus dem Libanon berichte Dayana Kostantin von AFE — Arab Foundation for Freedom and Equality. Dort gäbe es keinen Paragraphen, der Homosexualität explizit kriminalisiert, allerdings einen Artikel, der „unnatürliches Sexualverhalten“ mit Haft belegt. Diese juristische Grauzone präge dennoch das Leben von LSBTI vor Ort.

Es gebe zwar keine Verfolgung von Transfrauen allein weil sie trans* leben. Auf der Straße blieben sie von Polizei so lange unbehelligt bis sich herausstellt, dass sie als Sexarbeiter_innen arbeiten. Prostitution ist im Libanon nämlich verboten. Gleichzeitig gebe es aber für Transfrauen selbst mit akademischer Ausbildung so gut wie keine Chance auf eine andere Arbeit als Sexarbeit. Daher würden Transfrauen sehr oft verhaftet und kämen in Einzelhaft in ein Männergefängnis. Auch von Lesben und Schwulen würden Trans* keinen Rückhalt bekommen, sondern weiterhin stigmatisiert.

Angesichts des alltäglichen Kampfes um das bloße Überleben gäbe es nur wenig Kraft, Zeit und Energie für Aktivismus. Sie selbst sei daher eine Ausnahme, sowohl mit ihrer Arbeit in einer NGO als auch mit ihrem Engagement. Beeindruckend auch ihre persönliche Geschichte. Seit ihrem Coming-out telefoniert sie nur noch mit ihrer engen Familie, gesehen haben sie sich seit drei Jahren nicht. Vor allem der Bruder ihrer Mutter droht ihr mit dem Tod. „Doch ich habe nicht aufgegeben, ich habe erreicht, was ich wollte und nicht was sie von mir wollten.“

Markus Ulrich
LSVD-Pressesprecher

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