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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

5. EU-Gleichbehandlungsrichtlinie: Deutschland blockiert und keiner weiß warum

Deutschland verhindert auf EU-weiten Diskriminierungsschutz

Ein lesbisches Paar küsst sich in einem Wiener Kaffeehaus und wird unsanft hinausgeworfen. Ein schwules Paar bekommt in Brüssel die Wohnung nicht, weil der Eigentümer lieber an ein „klassisches“ Paar vermieten will. Dass es in diesen Fällen keine rechtliche Handhabe gibt, liegt überraschenderweise auch an Deutschland.

Mehrere Europafahnen als Symbolbild für Deutschlands Blockade der 5. EU-Gleichbehandlungs-Richtlinie und eines EU-weiten Schutz vor Diskriminierung

Ein lesbisches Paar küsst sich in einem Wiener Kaffeehaus und wird unsanft hinausgeworfen, ein schwules Paar bekommt in Brüssel die Wohnung nicht, weil der Eigentümer lieber an ein „klassisches“ Paar vermieten will. Dass es in diesen Fällen keine rechtliche Handhabe gibt, liegt überraschenderweise auch an Deutschland. Denn während hierzulande seit 2006 das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz gilt, verhindert Deutschland etwas Vergleichbares auf EU-Ebene und blockiert seit Jahren die EU-Gleichbehandlungs-Richtlinie.

Im Dezember 2018 fragte die Bundestagsabgeordnete Corinna Rüffer (Bündnis 90/ Die Grünen) nach dem aktuellen Verhandlungsstand bei dem seit 2008 vorliegenden „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung“. Die Antwort macht wenig Hoffnung auf eine Verabschiedung.

"Substantielle Fortschritte und eine Einigung über grundsätzliche Fragen des Anwendungsbereichs sowie die Reichweite der Richtlinie konnten auch unter der österreichischen Präsidentschaft nicht erzielt werden. (...) Auch an den grundsätzlichen Haltungen der Mitgliedstaaten gegenüber dem Richtlinienentwurf haben sich keine wesentlichen Änderungen ergeben. Nach wie vor haben alle Delegationen allgemeine Prüfvorbehalte zu dem Vorschlag eingelegt. Drei Mitgliedstaaten (Tschechien, Dänemark und Großbritannien) erhalten darüber hinaus Parlamentsvorbehalte aufrecht; Malta hat seinen Parlamentsvorbehalt aufgehoben. Daneben besteht ein allgemeiner Vorbehalt eines weiteren Mitgliedstaates (Polen). Bei den Beratungen zur Antidiskriminierungsrichtlinie hat Deutschland sich weiterhin enthalten und damit den bekannten allgemeinen Vorbehalt aufrechterhalten.

Wegen des Einstimmigkeitserfordernisses ist derzeit – unabhängig von einer Positionierung Deutschlands – ein erfolgreicher Abschluss der Verhandlungen zum Vorschlag für eine Fünfte Antidiskriminierungsrichtlinie nicht absehbar." (Quelle: bundestag.de, S. 94)

Nur zehn der 28 EU-Staaten mit umfassendem Diskriminierungsschutz

Zwar fordert die EU-Grundrechtecharta explizit den Schutz vor Diskriminierung nicht nur aufgrund der sexuellen Identität, sondern auch aufgrund des Geschlechts, der ethnischen Herkunft, der Religion und Weltanschauung, einer Behinderung und des Alters und der sexuellen Identität und verpflichtet damit alle Mitgliedstaaten zu entsprechenden Maßnahmen.

Allerdings haben nur zehn der 28 Staaten einen umfassenden Diskriminierungs-Schutz verankert, darunter auch Deutschland durch die Einführung des Allgemeinen Gleichbehandlungs-Gesetzes (AGG) 2008. Das liegt daran, dass die bisherigen Gleichbehandlungs-Richtlinien das Zivilrecht teilweise ausklammern.

Deshalb wird auf EU-Ebene seit Jahren über eine „5. EU-Gleichbehandlungs-Richtlinie“ diskutiert, die die „horizontal non-discrimination directive“ umsetzen soll. Aber: Eine Einführung scheitert in erster Linie an Deutschland. Denn hierzulande hat man an der „5. EU-Gleichbehandlungs-Richtlinie“ kein Interesse oder noch nie von ihr gehört.

Parlamentarisches Frühstück des LSVD und amnesty international zur 5. EU-Gleichbehandlungs-Richtlinie

Vor diesem Hintergrund luden amnesty international und der LSVD im Oktober 2015 Bundestagsabgeordnete zu einem Parlamentarischen Frühstück, um zu informieren und nachzufragen.

Begrüßt wurden die knapp 20 Anwesenden, darunter Abgeordnete aus den Bundestagsfraktionen von SPD, Bündnis 90 / Die Grünen und Die LINKE, von Sönke Rix, dem familienpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Er bestätigte in seinen einführenden Worten, dass dieses Thema hierzulande im parlamentarischen Raum kaum besprochen wird. So komme folglich auch niemand in die Verlegenheit, das deutsche „Nein“ zu begründen. Er verwies auch darauf, dass viele nur wenig über den Inhalt der Richtlinie wüssten. Allerdings: Die deutsche Ablehnung käme anderen Mitgliedsstaaten auch ganz gelegen.

Doch die Deutlichkeit und Tragweite der deutschen Blockade sind zum einen einzigartig, zum anderen schlicht nicht nachzuvollziehen. Darauf verwiesen anschließend Selmin Çalışkan, Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland, Christine Lüders, Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und Katrin Hugendubel von ILGA Europe.

Generalsekretärin Çalışkan: Rechtlosigkeit legitimiert gesellschaftliche Ausgrenzung

Selmin Çalışkan betonte die Reichweite eines rechtlich verankerten Diskriminierungs-Schutzes. Neben dem konkreten Schutz für die Betroffenen durch die Möglichkeit, sich gegen Diskriminierung zur Wehr zu setzen, legitimiere und verstärke eine Rechtlosigkeit immer auch gesellschaftliche Vorbehalte und Ausgrenzungen.

Da die EU-Gleichbehandlungs-Richtlinie sechs Diskriminierungs-Merkmale abdecken soll, gibt es aufgrund der fehlenden Verabschiedung keinen europaweit einheitlichen Rechtsschutz und gravierende Schutzlücken. Millionen Betroffene warten auf Deutschland, darunter auch deutsche Bürger*innen, die in ein anderes EU-Land reisen oder dort wohnen würden.

Deutsche Blockade der 5. EU-Gleichbehandlungs-Richtlinie unverständlich und absurd

Vor allem ist die deutsche Blockade vollkommen unverständlich bis absurd. So wies Christine Lüders darauf hin, dass sich in Deutschland kaum etwas ändern würde. Denn hier garantiere das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) den EU-weit geplanten Rechtsschutz bereits. Zudem hat sich die jetzige Regierung in ihrem Koalitionsvertrag explizit zum AGG bekannt. Man sei also von der Richtigkeit des AGG überzeugt. Warum will man es dann nicht auf EU-Ebene?

Auch vor dem Hintergrund der regelmäßigen Bekenntnisse zu den ethischen Verpflichtungen wie zuletzt beim Grundrechtekolloquium in Brüssel zur Bekämpfung von Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit, sei es nicht nachzuvollziehen, dass Deutschland am „EU-weiten Flickenteppich im Grundrechteschutz“ weiterhin festhält. Ein wirklicher und umfassender Diskriminierungs-Schutz ist für den Zusammenhalt einer Gesellschaft vielmehr unabdingbar.

Während die EU-Gleichbehandlungs-Richtlinie die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und die Regierungen der europäischen Partnerländer stark beschäftigt, vermisse sie das öffentliche und vor allem politische Interesse in Deutschland. „Die Bundesregierung nimmt es hin, dass Menschen mit Behinderungen in vielen Ländern Europas der Zugang zu Geschäftsräumen verwehrt werden kann — oder Hoteliers Schwulen oder Lesben Zimmer verweigern dürfen.”, so Lüders. Sie appellierte daher an die anwesenden Abgeordneten, das Thema in das Parlament zu bringen.

Seit Jahren wird über die 5. EU-Gleichbehandlungsrichtlinie verhandelt

Denn das deutsche Grundrechte-Paradox versteht in Brüssel einfach niemand mehr. Dort sei man zunehmend frustriert bis ratlos. So berichtete Karin Hugendubel von ILGA Europe über den Stand der Verhandlungen. Selbst die 18 Staaten, für die die Einführung der Richtlinie tatsächlich Auswirkungen hätte, zeigen sich offen bis diskussionsbereit.

So würde seit acht Jahren über den Text verhandelt, würden Formulierungen präzisiert, Geltungsbereiche definiert und Kompromisse ausgehandelt. Nur Deutschland verweigert jegliche Diskussion und lässt nachfragende Initiativen etwa durch damalige die lettische Ratspräsidentin schlicht ins Leere laufen.

Die Frustration über die erklärungslose Blockade Deutschlands ginge sogar so weit, dass es Überlegungen gab, auf welch andere Rechtsgrundlage man die Gleichbehandlungs-Richtlinie stellen könnte, um diese notfalls auch ohne Deutschland verabschieden zu können. Denn bislang fordert Art. 19 die Zustimmung aller Mitglieder.

Frustration in Brüssel angesichts des deutschen Nein

Die Deutlichkeit, Bedeutung und Einzigartigkeit des deutschen Neins überraschte die anwesenden Abgeordneten dann doch. Ihnen wurde vorgeschlagen, dass sie etwa über eine Anfrage an die Bundesregierung, das Thema auf die politische Agenda setzen könnten.

Zudem gibt es einen gemeinsamen Appell an die Bundesregierung, dem sich neben dem LSVD, amnesty international und der Antidiskriminierungsstelle des Bundes bereits über 70 deutsche und europäische Organisationen angeschlossen haben. Die 2016 anstehende niederländische Ratspräsidentschaft wird dieses Thema ebenfalls verstärkt vorantreiben.

Deutschland sollte sich nicht nur endlich gesprächsbereit zeigen, sondern als größtes Mitgliedsland auch klar und deutlich machen: Niemand darf diskriminiert werden! Europaweit!

Markus Ulrich
LSVD-Pressesprecher

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