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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

„Vom nationalsozialistischen Ungeist geprägt und mit demselben Eifer praktiziert“

Öffentliche Anhörung zur Rehabilitierung und Entschädigung im Rechtsausschuss des Bundestags

Statement von Manfred Bruns, Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof a.D.

Sehr geehrter Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren Abgeordnete!

Meine heutige Stellung- nahme fällt mir schwer, weil ich an der Sache emotional beteiligt bin. Hier wird heute auch über meine Lebenssituation als homosexueller Bürger der Bundesrepublik verhandelt. Ich bin Jahrgang 1934. Schwule Jungen befanden sich in meiner Jugend in einer schwierigen bis ausweglosen Lage, weil die Bundesrepublik die Verfolgung der Homosexuellen bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein mit demselben Eifer fortgesetzt hat wie die Nationalsozialisten. Der einzige Unterschied zu den Nazis bestand darin, dass die homosexuellen Männer nach der Strafverbüßung nicht mehr in Konzentrationslager verschleppt und dort umgebracht wurden.

Wenn einige der Sachverständigen angesichts dieser menschenverachtenden Strafverfolgung daraufhin weisen, dass damals auch der Ehebruch strafbar gewesen sei, macht mich das fassungslos. Der Ehebruch war ein Antragsdelikt und ist nie systematisch verfolgt worden. Der Schwangerschaftsabbruch, auf den Professor Schwarz hingewiesen hat, ist noch immer strafbar und § 218 StGB nach wie vor gültig. Der Gesetzgeber hat lediglich für bestimmte Fallgruppen angeordnet, dass keine Strafverfolgung mehr erfolgen soll. Es gab auch keine systematische Strafverfolgung von Hoteliers, Vermietern oder Eltern wegen Kuppelei, weil sie geduldet haben, dass nichteheliche Paare unter ihrem Dach gemeinsam übernachtet haben. Das Phänomen der „Onkel-Ehen, also der nichtehelichen Verbindungen von Kriegerwitwen mit neuen Partnern, gab es schon ab den fünfziger Jahren. Sie wurden allgemein geduldet.

Genauso fassungslos macht mich in unserem Zusammenhang der Hinweis von Herrn Professor Schwarz, dass die katholische Kirche Homosexualität in ihrem Katechismus als „objektiv ungeordnet“ verurteilt. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zwar in seinem Urteil von 1957 auf die Lehren der beiden großen christlichen Konfessionen berufen. Das tut das Bundesverfassungsgericht aber heute Gott sei Dank nicht mehr. Meint Herr Professor Schwarz, dass der Bundestag das gleichwohl weiter tun sollte?

Mir erscheint auch der Hinweis deplatziert, dass die Staaten aus dem arabischen und afrikanischen Raum den Erklärungen der UNO von 2008 und 2011 gegen die Todesstrafe für Homosexuelle und gegen ihre Strafverfolgung widersprochen hätten. Das hat übrigens auch der Vatikan getan. Ich nehme an, dass alle Sachverständigen dagegen sind, dass Eltern islamischen Glaubens, die in Deutschland leben, ihre Töchter an der Klitoris beschneiden und die Schamlippen zunähen lassen und dass sie ihre Kinder zwangsverheiraten. Das begrüße ich. Aber ich kann nicht nachvollziehen, warum die Haltung des Islam zur Homosexualität bedenkenswert sein soll.

Von der Strafverfolgung der Homosexuellen bis in die sechziger Jahre hinein waren nicht nur die Männer betroffen, die verurteilt worden sind, sondern die ganze Generation von Schwulen und Lesben, der ich angehöre. Die Polizei nahm alle, die Kontakt zu einem Verdächtigen gehabt hatten, in sogenannte „Rosa Listen“ auf, und warnte Arbeitgeber und Behörden vor diesen Subjekten. Die Polizei hat die „Rosa Listen“ zum Teil bis in die achtziger Jahre des vergangen Jahrhunderts fortgeführt. Das Klima des Schreckens, das die Polizei auf diese Weise erzeugt hat, war so wirksam, dass es sehr viele Schwule und Lesben auch nach der Aufhebung der Strafbarkeit nicht fertig gebracht haben, sich als Schwule oder Lesben zu erkennen zu geben.

Dazu hat auch beigetragen, dass die Sprecher aller im Bundestag vertretenen Parteien 1969 anlässlich der Liberalisierung des § 175 StGB im Bundestag erklärten, dass damit homosexuelles Verhalten nicht gebilligt werde, sondern dass es nach wie vor moralisch verwerflich sei.

Deshalb hatte das Bekanntwerden der homosexuellen Orientierung bis in die achtziger Jahre hinein regelmäßig den Verlust des Arbeitsplatzes oder doch zumindest schwere berufliche Nachteile zur Folge. Aus diesem Grund engagierten sich in den Schwulengruppen, die nach 1969 entstanden, bis Anfang der neunziger Jahre nur Studenten. Für Schwule, die schon im Erwerbsleben standen, war das viel zu riskant.

Als Mitte der achtziger Jahre die Zeitungen berichteten, dass ich meine homosexuelle Orientierung eingeräumt habe, hat der Bundesjustizminister prüfen lassen, ob gegen mich ein Disziplinarverfahren einzuleiten sei. Und der Personalsachbearbeiter der Bundesanwaltschaft hat mir erklärt, ich wäre mit Sicherheit niemals Bundesanwalt geworden, wenn man das vorher gewusst hätte.

Ich bekomme selbst heute noch immer wieder Anfragen von älteren Schwulen und Lesben, die sich verpartnert haben, um sich gegenseitig abzusichern. Sie haben Angst, ihre Verpartnerung ihrem Arbeitgeber oder Dienstherrn mitzuteilen und fragen, ob sie dazu verpflichtet sind.

Mein erster Partner, der 1992 verstorben ist, war, als ich ihn kennenlernte, 65 Jahre alt. Er hatte bis dahin nie eine Partnerschaft erlebt und hat aus Angst vor seiner Enttarnung praktisch asexuell gelebt. Der einzige Akt der Befreiung, den er fertig gebracht hat, war die Anordnung vor seinem Tod, dass seine Beerdigung ohne Priester stattfinden und dass auf seinem Grabstein kein Kreuz angebracht werden soll. Wenn ich an sein Grab gehe, bin ich jedes Mal traurig und wütend über das, was man ihm angetan hat.

Die Strafverfolgung der Homosexuellen in der Bundesrepublik unterschied sich von der Strafverfolgung wegen anderer Delikte dadurch, dass sie von dem nationalsozialistischen Ungeist geprägt war und mit demselben Eifer praktiziert wurde. Der Begriff „Menschenwürde“ wird heute fast inflationär gebraucht, aber hier passt er. Die Homosexuellen sind als menschenunwürdige Subjekte gebrandmarkt und aus der „Volksgemeinschaft“ ausgegrenzt worden. Ich denke, deshalb genügt es nicht, bloß zu sagen, sorry, das tut uns leid.

Von dieser unseligen Vergangenheit muss sich das deutsche Volk durch seine gewählten Repräsentanten distanzieren. Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts aus den Jahren 1957 und 1973 sind dafür kein Hinderungsgrund. An diesem Urteil hält das Bundesverfassungsgericht nicht mehr fest.

Einige Sachverständige meinen demgegenüber, die bundesdeutschen Gerichte hätten geltendes Recht angewandt. Deshalb könnten ihre Urteile nicht mit den Urteilen der NS-Gerichte verglichen werden. Aber die bundesdeutschen Gerichte haben dieselben Strafvorschriften angewandt wie die NS-Gerichte und das mit demselben Verfolgungseifer und in demselben Geist. Das allein zählt und nicht, ob die bundesdeutschen Gerichte anders als die Gerichte in der Nazizeit unabhängig und demokratisch legitimiert waren. Es ist sogar vorgekommen, dass schwule Männer in den fünfziger Jahren von denselben Richtern verurteilt worden sind, die sie schon während der Nazizeit abgeurteilt hatten. Dass selbst unser Bundesverfassungsgericht sich damals nicht von dem nationalsozialistischen Ungeist hat frei machen können, macht die Sache nur noch schlimmer und verwundert umso mehr, als dasselbe Gericht damals Urteile zur Presse- und zur Gewerbefreiheit gefällt hat, die für unser heutiges demokratisches Selbstverständnis grundlegend waren.

Die Rechtssicherheit wird durch die Aufhebung der Verurteilungen nicht berührt. Der Grundsatz der Rechtssicherheit schützt das Vertrauen in den Bestand abschließender Entscheidungen. Es gibt niemand, der auf den Fortbestand der Verurteilungen der homosexuellen Männer durch die bundesdeutschen Gerichte vertraut  und dessen Vertrauen schützenswert wäre.

Davon abgesehen geht es nicht um die Aufhebung von Urteilen wegen falscher Rechtsanwendung, sondern um die Korrektur eines kollektiven Versagens der bundesdeutschen Justiz. Diese hat auch bei der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen versagt. Darüber besteht heute Einigkeit und das versucht heute niemand mehr zu beschönigen.

Wenn Autoritäten in der Lage sind, Fehler einzuräumen, ist das ein Zeichen für ein starkes Selbstbewusstsein. Ich denke, unsere Demokratie ist so gefestigt, dass sie das Eingeständnis schwerwiegender Fehlentwicklungen in den ersten Jahren der Bundesrepublik gut verkraften kann. Das Eingeständnis ist nicht nur ein Akt der Wiedergutmachung, sondern gleichzeitig ein Bekenntnis dazu, dass diese Strafverfolgung mit unserem demokratischen Selbstverständnis schlechthin unvereinbar ist.

Bleibt noch die Frage der Gewaltenteilung. Das ist eine Scheindebatte. Denn es geht nicht um einen korrigierenden Eingriff in die Rechtsprechung, sondern um die Korrektur von Verurteilungen im Wege der Wiederaufnahme. Insoweit ist längst geklärt, dass über die Aufhebung rechtskräftiger Verurteilungen grundsätzlich die Gerichte zu entscheiden haben. Es verstößt aber nicht gegen das Gewaltenteilungsprinzip und das Rechtsstaatsgebot, wenn der Gesetzgeber richterliche Urteile als nichtig aufhebt, die auf Bestimmungen beruhen, die gravierendes Unrecht verkörpern und daher offenbares Unrecht darstellen. Das hat das Bundesverfassungsgericht so in seiner Entscheidung vom 08.03.2006 zum NS-Aufhebungsgesetz formuliert (2 BvR 486/05 juris).

Die Aufhebung braucht deshalb nicht durch Einführung eines neuen Wideraufnahmegrundes in die Strafprozessordnung zu erfolgen, sondern kann zur Vermeidung unnötigen bürokratischen Aufwands durch einen Akt des Gesetzgebers geschehen, weil die Verletzung der Menschwürde der Betroffenen evident und vom Bundestag 2000 in seiner Entschuldigung bereits anerkannt worden ist.

Ich meine deshalb, wenn Sie die Appelle der Grünen, der Linken und des Bundesrats ablehnen, dass die Bundesregierung einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen soll, dann sollten Sie sich nicht hinter dem Scheinargument der Gewaltenteilung und des Rechtsstaatsprinzip verstecken, sondern klar sagen, dass Sie diese Appelle aus politischen Erwägungen ablehnen, weil Sie etwa meinen, dass man dieser „schrillen Minderheit“ schon bisher viel zu weit entgegengekommen ist.

Mit der Frage, wie ein Aufhebungsgesetz formuliert werden soll, brauchen wir uns heute wohl nicht zu befassen. Das ist Sache der Bundesregierung. Heute geht es ja nur um den Appell an die Bundesregierung, dass sie einen solchen Gesetzentwurf vorlegen soll. Das NS-Aufhebungsgesetz ist dafür eine gute Vorlage. Dort gibt es in § 3 auch eine praktikable Lösung für die Fälle, in denen die Verurteilung zusätzlich wegen anderer Vorschriften erfolgt ist.

Es gilt das gesprochene Wort

Rechtsausschuss — Mittwoch, 15. Mai 2013, 14.00 Uhr — Rehabilitierung und Entschädigung