respekt_heft_02_07_2005

3 02/05 editorial ! Sein oder Bewusstsein? Alexander Zinn Pressesprecher des LSVD D as „Sein bestimmt das Bewusstsein“ hat der olle Marx mal gesagt. Dass das auch für die lesbisch- schwule Community gilt, kann man bei den großen CSD-Demos Jahr für Jahr studieren. Was heißt hier überhaupt Demo? Es sind Paraden der Superlative geworden: Noch größere Trucks mit noch lauteren Anlagen und noch knackigeren Jungs und Mädels. Die Community hat sich korrumpieren lassen von Sponsoren, die Duschgel, Burger und Kleinwagen unters Homo-Volk bringen wollen. Über Jahre hinweg hat man sich immer schickere und teurere CSD-Gefährte bezahlen lassen, die immer öfter kommerzielle Produkte und immer seltener politische Anliegen transportier- ten. Geld stinkt nicht, war die Devise. Und was wäre auch die Alternative gewesen? Wer nicht mitspielte, wurde vom Fernsehen mit öffentlichem Liebesentzug gestraft. Nun aber, da die Werbeetats zusammenschnurren, ist der Katzenjammer groß. Ohne Moos nix los, gilt das jetzt auch für den Christopher Street Day? Hängen wir inzwischen an der Nadel? Können wir nicht mehr anders, als auf Party-Trucks über den Kudamm schweben? Ich wette wir können! Denn es gibt noch ein paar Ideen hinter der Party. Die sind vielleicht etwas in Vergessenheit geraten, doch versuchen wir uns mal zu erinnern. Hatte der CSD nicht irgendetwas damit zu tun, Verfolgung und Diskriminierung zu beenden? Ging es uns nicht um Toleranz, Respekt, Anerkennung, ja um die Gleichberechtigung von Lesben, Schwulen und Transgendern? Klar, vieles haben wir erreicht: Eine bescheidene Lebenspartnerschaft für Deutschland und – Viva España – die Öffnung der Ehe in Spanien. Antidiskriminierungsrichtlinien sogar für ganz Europa. Doch wie sieht unser Alltag aus? Leben wir wirklich schon "Somewhere over the Rainbow"? Lassen wir einige Ereignisse der letzten Monate Revue passieren: Mit Joseph Ratzinger wird ein katholi- scher Fundamentalist zum Papst gewählt, der seit Jahren gegen die Gleichstellung von Lesben und Schwulen hetzt. Kaum im Amt, poltert er schon lautstark los gegen gleichgeschlechtliche "Pseudo-Ehen". In München kündigt der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber an, gegen die seit 1. Januar mögliche Stiefkindadoption durch schwule und lesbische Lebenspartner vor dem Bundesverfassungsgericht zu klagen. In Warschau verbietet der dortige Bürgermeister den Christopher Street Day mit den Worten: „Ich bin Befürworter der Toleranz, aber Gegner der Unterstützung schwulorientierten Verhaltens.“ Mitten in Berlin wird Miss Styque vom „Orden der perpetuellen Indulgenz“ zusammengeschlagen, weil sie sich mit Fummel und Schminke auf die Straße traut. Man muss nicht Kassandra spielen, um zu erkennen, dass es nicht so weit her ist mit der Gleichberechtigung, die wir uns auf unseren CSD-Paraden erträumen. So wenig wir uns unsere Träume neh- men lassen dürfen, so wenig sollten wir die Augen vor unangenehmen Realitäten verschließen. Vielleicht gelingt es dann, die Marx‘sche Formel mal andersrum anzuwenden und aus dem Bewusstsein ein neues Sein erwachsen zu lassen: Politik und Party zugleich – ein Christopher Street Day, der sich gewaschen hat! RE_02_05+ 14.06.2005 12:29 Uhr Seite 3

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