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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Paragraph 175 StGB: Verbot von Homosexualität in Deutschland

Verfolgung von Homosexuellen in Deutschland - Geschichte eines Schandparagraphen

§ 175 kriminalisierte über 123 Jahre Homosexualität und legitimierte staatliche Verfolgung von schwulen und bisexuellen Männern. Seit dem 11. Juni 1994 gibt es in Deutschland keine strafrechtliche Sondervorschrift zur Homosexualität mehr.

Paragraph 175 Strafgesetzbuch (StGB) kriminalisierte über 123 Jahre Homosexualität und legitimierte staatliche Verfolgung von schwulen und bisexuellen Männern. Erst seit dem 11. Juni 1994 gibt es in Deutschland keine strafrechtliche Sondervorschrift zur Homosexualität mehr. § 175 StGB wurde endgültig abgeschafft. 45 Jahre hat die Bundesrepublik dafür gebraucht - alles andere als ein Ruhmesblatt.

Der letzte Anstoß dazu, dass der demokratische Rechtsstaat das diskriminierende Sonderstrafrecht gegen Homosexualität endlich beseitigte, kam paradoxerweise aus der DDR. In unserer heutigen Gesellschaft wirkt der Gedanke einer Strafvorschrift zur Homosexualität nur noch befremdlich. Junge Menschen können es kaum glauben, wenn man ihnen erzählt, dass unser Staat Menschen ins Gefängnis steckte, nur weil sie anders liebten als die Mehrheit.

Inhaltsverzeichnis

  1. § 175 StGB: Ein Relikt aus vordemokratischer Zeit
  2. Totale Kriminalisierung nach 1935
  3. Kontinuität der Verfolgung nach 1945
  4. Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht: § 175 StGB verstößt nicht gegen das Grundgesetz
  5. Schlüsseldokument: Entwurf eines Strafgesetzbuches (E 1962)
  6. 1969: Entkriminalisierung der „einfachen Homosexualität“
  7. Die Zeit von 1969 bis 1994: Gesonderte Jugendschutznorm zur Eindämmung von Homosexualität
  8. Verführungsthese und Unwerturteil
  9. Verfolgung im Namen des Jugendschutzes
  10. 1988: DDR schuf Sonderstrafrecht ab
  11. Einigungsvertrag (1990): § 175 und § 218 von der Übertragung ausgenommen
  12. Gespaltenes Recht bis 1994
  13. 10. März 1994: Bundestag beschließt die Streichung

1. § 175 StGB: Ein Relikt aus vordemokratischer Zeit

Ein wenig Vorgeschichte: Die Strafbarkeit von Homosexualität im Abendland stammt aus dem spätantiken bzw. frühmittelalterlichen Sündendenken. Die „Sünde von Sodom“ galt als Verbrechen gegen Gott. Man fürchtete, ein rächender Gott würde die Christenheit strafen, wenn sie solch „himmelschreiende“ Sünden zulasse. Den bei Sexualität „wider die Natur“ Ertappten drohte bis ins 18. Jahrhundert der Tod auf dem Scheiterhaufen.

Die Aufklärung brachte Milderung im Strafmaß, aber in den meisten deutschen Staaten keine Straffreiheit. Die große liberale Ausnahme war damals das Königreich Bayern, dessen am französischen Vorbild ausgerichtetes Strafrecht von 1813 auf Kriminalisierung verzichtete.

Im Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes von 1870, das 1871 zum Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) wurde, setzte sich aber die preußische Rechtstradition durch, „widernatürliche Unzucht“ zwischen Männern weiter mit Strafe zu bedrohen, nunmehr unter der „Hausnummer“ 175.

Der erste Vorkämpfer der Homosexuellen-Befreiung, Karl-Heinrich Ulrichs (1825–1895), und andere hatten sich mutig aber letztlich erfolglos in Wort und Schrift gegen die reichsweite Einführung des § 175 engagiert. Andere nahmen den Stab auf. Der Kampf gegen den § 175 im Kaiserreich und in der Weimarer Republik ist insbesondere mit dem Namen Magnus Hirschfeld (1868–1935) verknüpft. Der Sexualwissenschaftler und Menschenrechtskämpfer fand Unterstützung bei der politischen Linken und Teilen der Liberalen, der große Durchbruch blieb ihm aber versagt.

2. Totale Kriminalisierung männlicher Homosexualität nach 1935

Der Machtantritt der Nationalsozialisten machte alle Liberalisierungsanstrengungen zunichte. Sie führten 1935 die totale Kriminalisierung männlicher Homosexualität ein. Dafür wurde der § 175 RStGB in der Tatbestandsfassung radikal entgrenzt und im Strafmaß massiv verschärft.

So entfiel die von der Rechtsprechung entwickelte Beschränkung der Strafbarkeit auf sogenannte „beischlafähnliche Handlungen“. Die Justiz stellte sich willig in den Dienst der Machthaber. Bald wurden selbst Zungenküsse bestraft, später reichte allein eine „wollüstige Absicht“ zum Schuldspruch.

Bis 1945 gab es ca. 50.000 Verurteilungen. Tausende schwuler Männer wurden in Konzentrationslager verschleppt. Nur eine Minderheit überlebte den Terror der Lager.1

3. Kontinuität der Verfolgung schwuler Männer nach 1945

Die Bundesrepublik knüpfte nach 1949 weder an die Reformdiskussion der Weimarer Republik noch an deren vergleichsweise zurückhaltende Polizeipraxis gegenüber Homosexuellen an. Die junge Bundesrepublik der Ära Adenauer suchte bewusst in christlicher Moral Heilung von den Schrecken des Nationalsozialismus.

Für die Homosexuellen bedeutete das nichts Gutes. Sie galten weiterhin als Gefahr für Familie, Gesellschaft und Staat. § 175 StGB blieb – anders als in der DDR – in der Bundesrepublik in der Nazi-Fassung bis 1969 unverändert in Kraft.2 Das Gesetz wurde auch gnadenlos angewandt.

Die bundesdeutsche Justiz verurteilte in diesem Zeitraum nochmals ca. 50.000 Männer wegen gleichgeschlechtlicher „Unzucht“. Noch mal so viele gerieten in staatliche Ermittlungsverfahren.

Es herrschte ein massiver Verfolgungsdruck: Razzien, Rosa Listen, Prozesswellen, totale gesellschaftliche Ächtung. Die Gesamtheit der Homosexuellen musste in der Angst vor Entdeckung leben, musste jederzeit mit Kriminalisierung und sozialer Ächtung rechnen. Der Religionsphilosoph und Historiker Hans-Joachim Schoeps hat 1963 das bittere Wort geprägt: „Für die Homosexuellen ist das Dritte Reich noch nicht zu Ende“.3

4. Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht: § 175 StGB verstößt nicht gegen das Grundgesetz

Außer Kritik stand der § 175 freilich nicht. 1951 hatte immerhin der Deutsche Juristentag mit knapper Mehrheit das Ende der Strafbarkeit von Homosexualität unter Erwachsenen befürwortet.4 Im gleichen Jahr befand aber der Bundesgerichtshof die NS-Fassung des § 175 für verfassungskonform und auch im demokratischen Staat für anwendbar.5

Diese Auffassung vertrat 1957 auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Es sah in der Bestrafung männlicher und der Straffreiheit weiblicher Homosexualität keinen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 2 und 3 GG), da der „biologische Geschlechtsunterschied“ hier für den Sachverhalt prägend sei. Nach ausführlicher Sachverständigenanhörung kam es zu der Erkenntnis, dass männliche Homosexualität viel gefährlicher sei: „Schon die körperliche Bildung der Geschlechtsorgane weist für den Mann auf eine mehr drängende und fordernde, für die Frau auf eine mehr hinnehmende und zur Hingabe bereite Funktion hin.“ Und weiter: „Anders als der Mann wird die Frau unwillkürlich schon durch ihren Körper daran erinnert, daß das Sexualleben mit Lasten verbunden ist. [...] So gelingt der lesbisch veranlagten Frau das Durchhalten sexueller Abstinenz leichter, während der homosexuelle Mann dazu neigt, einem hemmungslosen Sexualbedürfnis zu verfallen.“6

Mit der harschen Aussage „Gleichgeschlechtliche Betätigung verstößt eindeutig gegen das Sittengesetz“, sprach Karlsruhe Homosexuellen das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) ab. Für die Auslegung des Sittengesetzes sei von Gewicht, „daß die öffentlichen Religionsgemeinschaften, insbesondere die beiden großen christlichen Konfessionen, aus deren Lehren große Teile des Volkes die Maßstäbe für ihr sittliches Verhalten entnehmen, die gleichgeschlechtliche Unzucht als unsittlich verurteilen.“7

Der langjährige Karlsruhe-Korrespondent des Spiegel, Rolf Lamprecht, sieht Indizien dafür, dass es im erkennenden Ersten Senat große Kontroversen über das Thema gab, sich aber am Ende eine Richtermehrheit mit vorgefasster Meinung durchsetzte: „Das Gericht urteilte vorurteilsbeladen wie der Stammtisch. Offenbar steuerte vor allem die Sexualmoral der katholischen Kirche den Gang der Beratung.“8

5. Schlüsseldokument: Entwurf eines Strafgesetzbuches (E 1962)

Ein weiteres Schlüsseldokument autoritären Denkens sowie von Grundrechtsignoranz in der frühen Bundesrepublik ist der von der Bundesregierung am 4. Oktober 1962 dem Bundestag vorgelegte Entwurf eines Strafgesetzbuches, abgekürzt E 1962.9 Bereits 1954 hatte die Regierung eine „Große Strafrechtskommission“ bestehend aus Professoren, Richtern und Bundestagsabgeordneten berufen, um in Anknüpfung an frühere Reformversuche ein neues Strafgesetzbuch auszuarbeiten.

Diese Kommission plädierte 1959 mehrheitlich dafür, die sogenannte „einfache Homosexualität“, also sexuelle Handlungen unter erwachsenen Männern, künftig straffrei zu lassen.10 Das Justizministerium, 1957 bis 1961 vom äußerst konservativen CSU-Politiker Fritz Schäffer geführt, verwarf diese Empfehlung. Dem entsprechend hielt der E 1962 an einem grundsätzlichen Verbot der „Unzucht zwischen Männern“ fest. Schäffers Nachfolger Wolfgang Stammberger (FDP), im Amt seit November 1961, konnte oder wollte daran anscheinend nicht rütteln.

In der amtlichen Begründung des E 1962 hieß es in verdächtig an die nationalsozialistische Ideologie erinnernden Ton: „Wo die gleichgeschlechtliche Unzucht um sich gegriffen und großen Umfang angenommen hat, war die Entartung des Volkes und der Verfall seiner sittlichen Kräfte die Folge.“ Eindringlich warnte die Bundesregierung vor angeblichen Gefahren einer Entkriminalisierung: „Die werbende Tätigkeit homosexueller Gruppen im öffentlichen Leben würde wesentlich erleichtert.“ Das würde „jüngere Menschen in den Bann dieser Bewegung ziehen“. Und am Schlimmsten: „Vor allem stände auch für die Homosexuellen nichts im Wege, ihre nähere Umgebung durch Zusammenleben in eheähnlichen Verhältnissen zu belästigen.“

Die Regierung kam zu dem Schluss: „Ausgeprägter als in anderen Bereichen hat die Rechtsordnung gegenüber der männlichen Homosexualität die Aufgabe, durch die sittenbildende Kraft des Strafgesetzes einen Damm gegen die Ausbreitung eines lasterhaften Treibens zu errichten, das, wenn es um sich griffe, eine schwere Gefahr für eine gesunde und natürliche Lebensordnung im Volke bedeuten würde.“11

Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hat Anfang 2012 eine wissenschaftliche Kommission zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des eigenen Hauses eingerichtet. Dabei sollte auch die Geschichte des § 175 umfassend aufgearbeitet werden: Wer war im Justizministerium für solche Entwürfe verantwortlich? Wer waren die Täter in Beamtenapparat und politischer Führung, die homosexuelle Menschen kriminalisiert, verächtlich gemacht und ihnen auch im demokratischen Staat Grundrechte verweigert haben?

Der E 1962 wurde nie verabschiedet. Er sorgte durch seine insgesamt rückwärtsgewandte Ausrichtung für große Empörung in der öffentlichen Meinung, auch beim Thema Homosexualität. Die fachliche wie politische Diskussion entwickelte sich weg vom Sittenstrafrecht hin zu einem dem Rechtsgüterschutz verpflichteten Strafrecht. Auch die Kritik am § 175 wurde in den 1960er-Jahren immer lauter. Eine freiere Auffassung von Sexualität und das Streben nach Selbstverwirklichung prägten den Zeitgeist.

6. 1969: Entkriminalisierung der „einfachen Homosexualität“

In renommierten Verlagen erscheinen kritische Veröffentlichungen zum § 175: Sie hießen zum Beispiel "Plädoyer für die Abschaffung des § 175" bei Suhrkamp, "Homosexualität oder Politik mit dem § 175" bei Rowohlt, "Das große Tabu" bei Rütten & Loening, oder "Das Schicksal der Verfemten" im Katzmann Verlag.12

Teilweise wurden diese Publikationen durch homosexuelle Aktivisten angeregt und unterstützt. Denn bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren gab es aktive homosexuelle Bürgerrechtskämpfer, auch wenn diese aufgrund der Rechtslage meist nicht selbst offen auftreten konnten, sondern angesehene Juristen, Theologen, Journalisten oder Sozialwissenschaftler als „Anwälte“ suchen mussten.13

Als Reaktion auf den E 1962 veröffentlichen liberale Juraprofessoren einen „Alternativentwurf“14, der großen Einfluss auf die Strafrechtsreform haben sollte, die schließlich zwischen 1969 und 1974 in mehreren Teilschritten erfolgte. Das während der ersten Großen Koalition beschlossene 1. Strafrechtsänderungsgesetz brachte auch die Entkriminalisierung der „einfachen Homosexualität“. Es trat am 1. September 1969 in Kraft.15

Gewichtigen Anteil daran hatte Gustav Heinemann (SPD), der bis zu seiner Wahl zum Bundespräsidenten im März 1969 das Amt des Bundesjustizministers in der Großen Koalition ausgeübt hatte.

7. Die Zeit von 1969 bis 1994: Gesonderte Jugendschutznorm zur Eindämmung von Homosexualität

Gestrichen wurde § 175 aber nicht. Auch die moralische Verurteilung verschwand nicht. Zum einen blieb das Verbot der homosexuellen Prostitution unter Erwachsenen vorerst bestehen. Zum anderen galt bei homosexueller „Unzucht“ eine deutlich höhere Schutzaltersgrenze von 21 Jahren, während sie bei heterosexueller „Unzucht“ bei 14 Jahren lag, bzw. bei 16 Jahren im Fall der „Verführung zum Beischlaf“. Letzterer Tatbestand wurde aber nur auf Antrag verfolgt.

Mit Beschluss vom 2. Oktober 1973 erklärte das BVerfG das Fortbestehen einer Sondervorschrift gegen männliche Homosexualität erneut für verfassungskonform und verwies dabei erschreckenderweise immer noch auf die Gründe der Entscheidung von 1957.16 Mit dem 4. Strafrechtsänderungsgesetz vom 23. November 197317 wurde das Verbot homosexueller Prostitution abgeschafft. Gleichzeitig wurde das Schutzalter bei männlicher Homosexualität auf 18 Jahre festgesetzt.

Zu einer Streichung des § 175 konnte sich aber auch die sozial-liberale Koalition nicht durchringen. Im Zuge des Abschieds vom Sittenstrafrecht sprach das Gesetz nun nicht mehr von „Unzucht“, sondern von „sexuellen Handlungen“. Als Schutzgut wurde die ungestörte sexuelle Entwicklung des (männlichen) Jugendlichen definiert. Man witterte die Gefahr der Verführung und der „Umpolung“ zur Homosexualität. Helmut Kohls Bundeskanzleramt rechtfertigte 1987 das Fortbestehen des § 175 mit der „Möglichkeit einer dauerhaften Umprägung Jugendlicher in ihrem Sexualverhalten“.18

8. Verführungsthese und Unwerturteil

Abgesehen davon, dass die Verführungstheorie wissenschaftlich längst widerlegt war, kommt darin ein klares Unwerturteil zum Ausdruck. Homosexualität wird als unerwünscht, geradezu als Schaden angesehen, der eingedämmt werden müsse. Die Selbstbestimmung und freie Entfaltung des homosexuellen Jugendlichen interessierte nicht.

§ 175 diente damit auch weiterhin als Rechtfertigung für Überwachung und Polizeirazzien an Schwulentreffpunkten, ebenso für das Führen von Rosa Listen. Schon 1969 hatte der Mannheimer Staatsanwalt Wolf Wimmer die Parole ausgegeben, „es geht nichts über ein mit griffelspitzerischer Sorgfalt geführtes Homosexuellen-Register“.19

§ 175 strahlte negativ weit über das Strafrecht hinaus auf die rechtliche und gesellschaftliche Stellung von Homosexuellen. Bis in die 1980er-Jahre gab es immer wieder Fälle, in denen Jugendeinrichtungen mit Verweis auf § 175 untersagt wurde, homosexuelle Emanzipationsgruppen zu Diskussionen einzuladen. Im schwäbischen Aalen wurde beispielsweise 1982 der Stadtjugendpfleger entlassen, weil er dem örtlichen Schwulen-Verein im Jugendzentrum einen Tagungsraum zur Verfügung gestellt hatte.20

9. Verfolgung im Namen des Jugendschutzes

Ebenfalls bis in die 1980er-Jahre hinein haben Ordnungsbehörden homosexuellen Emanzipationsgruppen gelegentlich die Durchführung von Informationsständen in der Innenstadt untersagt. Sie konnten sich dabei auf eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster von 1976 stützen, das ein von der Stadt Aachen ausgesprochenen Verbot eines Infostandes bestätigt hatte: Aufgrund vom § 175 seien „Jugendliche vor einer Kontaktaufnahme mit Homosexuellen, jedenfalls auf öffentlicher Straße, und dadurch möglicher [...] Verführung (zu) schützen“.21 In frappierend ähnlicher Weise argumentieren heute autoritäre Politiker zum Beispiel in Russland, wenn sie angeblich zum Schutz der Jugend für Zensurgesetze gegen so genannte „homosexuelle Propaganda“ erlassen.

Seit den 1970er-Jahren rannte die neue deutsche Schwulenbewegung gegen § 175 an, unterstützt von der Sexualwissenschaft, von Feministinnen und vielen Intellektuellen. Als erste Bundestagspartei forderte die FDP in ihrem Wahlprogramm 1980 die Streichung des § 175 StGB. Bei den anschließenden Koalitionsverhandlungen mit der SPD blieb diese Forderung auf der Strecke. Nach dem Koalitionswechsel zur CDU/CSU machte die FDP 1982 Hans A. Engelhardt zum Justizminister. Er gehörte zu einer kleinen Minderheit in der FDP, die beim Wahlprogramm gegen die Streichung des § 175 gestimmt hatte. Fortan diffamierte Justizminister Engelhardt alle Forderungen nach Aufhebung des § 175 „als nicht hinnehmbare Demontage des Jugendschutzes“.22

1985 hatte die neue Partei der Grünen als erste Bundestagsfraktion einen Antrag auf ersatzlose Streichung des § 175 in das Parlament eingebracht und trieb so die Diskussion weiter voran.23 Während die SPD sich immer für die Straffreiheit der „einfachen Homosexualität“ eingesetzt hatte, tat sie sich in den 1980er-Jahren schwer, eine klare Haltung zum Rest-Paragraphen 175 zu entwickeln. Ein Vorstoß der „Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen“ zur Streichung der Vorschrift wurde 1986 vom damaligen Kanzlerkandidaten Johannes Rau öffentlich schroff als „abwegige Diskussion“ zurückgewiesen.24

Die CDU/CSU verteidigte den § 175 lange hartnäckig. Ein wichtiger Etappenerfolg war daher, dass sich die AIDS-Enquete-Kommission des Bundestages parteiübergreifend sowohl in ihrem Zwischenbericht 1988 als auch im Endbericht vom 26. Mai 1990 dafür aussprach, § 175 StGB aus dem Strafgesetzbuch zu streichen und durch eine einheitliche Schutzvorschrift zu ersetzen.25 Manfred Bruns war als Sachverständiger in die Kommission berufen worden und konnte gewichtigen Einfluss auf deren Empfehlungen nehmen.

10. 1988: DDR schuf Sonderstrafrecht ab

Den Ausschlag zur Streichung gab aber letztlich die friedliche Revolution in der DDR. In der DDR war Homosexualität stark tabuisiert gewesen. Jede homosexuelle Selbstorganisation wurde vom Staat misstrauisch bespitzelt, ein öffentlicher Diskurs fand kaum statt.

Beim Homosexuellen-Strafrecht hatte die DDR gegenüber der Bundesrepublik aber immer die Nase vorn. Die Strafbarkeit homosexueller Handlungen unter Erwachsenen war 1968 beseitigt worden. Es blieb aber eine höhere Schutzaltersgrenze bestehen.

20 Jahre später, am 18. Dezember 1988 fasste die Volkskammer der DDR den Beschluss, dieses Sonderstrafrecht gegen Homosexuelle zugunsten einer einheitlichen Jugendschutzvorschrift (§ 149 des Strafgesetzbuches der DDR) aufzuheben. Am 30. Juni 1989 trat die Aufhebung in Kraft.

Vorausgegangen war 1987 ein bemerkenswerter Grundsatzbeschluss des Obersten Gerichts der DDR, wonach kein Strafbedürfnis vorliege, da die bislang kriminalisierten Handlungen „keine wesentlichen anderen Folgen bewirken [...] als heterosexuelle Beziehungen zwischen einem Erwachsenen und einem Jugendlichen“.26

11. Einigungsvertrag (1990): § 175 und § 218 von der Übertragung ausgenommen

Im Zuge der Wiedervereinigung drohte nun eine Wiedereinführung des § 175 auf dem Gebiet der DDR. Der im Februar 1990 in Leipzig gegründete „Schwulenverband in der DDR (SVD)“ – heute Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) – beschwor die erste frei gewählte Volkskammer, das nicht zuzulassen. Der SVD und der mittlerweile aufgelöste westdeutsche „Bundesverband Homosexualität“ sammelten gemeinsam Unterschriften für die Forderung an die Regierungen in Bonn und Berlin, „sich bei der Rechtsangleichung zwischen DDR und BRD für die ersatzlose Streichung des § 175 StGB oder die Übernahme der DDR-Regelungen in gesamtdeutsches Recht einzusetzen.“

Im Einigungsvertrag wurde § 175 StGB – ähnlich wie § 218 StGB – von der Übertragung des bundesdeutschen Strafrechts auf die „neuen Länder“ ausgenommen.27 Ab dem 3. Oktober 1990 herrschte in Deutschland gespaltenes Recht. Das war der Anfang vom Ende des Homosexuellen-Paragraphen.

Unter dem Motto „§ 175 – Hau weg den Scheiß“ demonstrierten am 27. Oktober 1990 in Berlin 6.000 Menschen. Nach der Bundestagswahl 1990 vereinbarten CDU/CSU und FDP: „Die §§ 175, 182 StGB sollen durch eine einheitliche Schutzvorschrift für männliche und weibliche Jugendliche unter 16 Jahre ersetzt werden (innerdeutsche Rechtsangleichung)“.28

12. Gespaltenes Recht bis 1994

Bis zur Aufhebung des § 175 gingen aber noch fast vier Jahre voller quälender Diskussionen ins Land, insbesondere über die Ausgestaltung der neuen einheitlichen Jugendschutznorm im § 182 StGB. Diese rechtspolitische Diskussion im Einzelnen nachzuzeichnen, fehlt hier der Raum.29

Nicht unerwähnt bleiben soll aber, dass der § 175 selbst damals noch engagierte Anhänger hatte: So forderte das Kommissariat der katholischen Bischöfe Deutschlands von der Bundesregierung „mit Nachdruck“, § 175 StGB beizubehalten wegen der Gefahr der „Verführung zur Homosexualität“.30

Am 4. März 1992 fand im Ausschuss für Frauen und Jugend des Bundesrats eine Anhörung zu einer Bundesratsinitiative aus Hamburg auf Streichung des § 175 statt. Der Sachverständige Herbert Tröndle, Herausgeber eines einflussreichen Strafrechtskommentars, ereiferte sich dabei, man wolle hier die „männliche Jugend den Aktivitäten homosexueller Erwachsener preisgeben“.31

Die Mehrheit der geladenen Sachverständigen, darunter auch Manfred Bruns, sprach sich freilich für die Streichung aus. Auch der Rechtsausschuss des Bundestages führte am 20. Oktober 1993 eine Sachverständigenanhörung durch. Manfred Bruns war wieder mit von der Partie und diesmal auch Volker Beck als offizieller Vertreter des Schwulenverbandes in Deutschland (SVD).

Diese Anhörungen markieren einen Paradigmenwechsel. Zuvor waren bei den unzähligen Sachverständigenbefragungen in der Geschichte des § 175 Juristen, Mediziner, Theologen oder Polizeipraktiker geladen worden, aber nie eine Vertretung der Homosexuellen. Nun wurde mit dem SVD erstmals eine Schwulenorganisation zum Homosexuellen-Strafrecht im Bundestag offiziell angehört. Die Schwulen waren jetzt nicht mehr allein Objekt staatlichen Handelns, sondern selbst handelndes Subjekt im politischen Prozess, nicht mehr hinter die Kulissen verbannt, sondern auf offener Bühne mit eigener Stimme sprechend.

13. 10. März 1994: Bundestag beschließt die Streichung

Am 10. März 1994 beschloss der Deutsche Bundestag schließlich die Streichung des § 175 und die Einführung einer einheitlichen Jugendschutznorm in § 182 StGB.32 Am 11. Juni 1994 trat die Reform in Kraft.33 An der Stelle im Strafgesetzbuch, die 123 Jahre lang die Kriminalisierung und gesellschaftliche Ächtung Homosexueller markierte, steht heute lapidar: „§ 175 (weggefallen)“.

Weit über ein Jahrhundert lang war § 175 Gegenstand erbitterter politischer und rechtlicher Debatten gewesen. Von seinem Ende nahm die Öffentlichkeit kaum noch Notiz – ein deutliches Zeichen, wie viel weiter die Gesellschaft gegenüber dem Gesetzgeber war.

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Fußnoten

1 Zu den einzelnen Epochen der Verfolgungs- wie Emanzipationsgeschichte vgl. z.B.: Ausstellungskatalog Die Geschichte des § 175. Strafrecht gegen Homosexuelle. Hrsg. von Freunde eines schwulen Museums (Berlin) und Emanzipation  e.V., Frankfurt am Main. Berlin 1990.

2 Zum  Fortbestehen des § 175 nach 1945 vgl.: Schäfer, Christian: „Widernatürliche Unzucht“(§§ 175, 175a, 175b, 182 a.F. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1945. Berlin 2006 S. 49ff. Schäfers Dissertation liefert eine umfassende Darstellung der rechtspolitische Diskussion bis 1994 und ist grundlegend für die Beschäftigung mit § 175.

3 Schoeps, Hans-Joachim: „Überlegungen zum Problem der Homosexualität“. In: Der homosexuelle Nächste. Ein Symposion. Hamburg 1963. S.74-114, S. 86.

4 Schäfer, Anm. 2, S. 85f.

5 Ebenda S. 93.

6 BVerfGE 6, 389, S. 425f.

7 Ebenda S. 434f.

8  Lamprecht, Rolf: Ich gehe bis nach Karlsruhe. Eine Geschichte des Bundesverfassungsgerichts. München 2011. S. 57.

9 BT-Drucksache IV/650.

10 Schäfer, Anm. 2, S. 152.

11 BT-Drucksache IV/650, S. 377.

12 Brocher, Tobias u. a. (Hrsg.): Plädoyer für die Abschaffung des § 175. Frankfurt am Main 1966; Giese, Hans (Hrsg.): Homosexualität oder Politik mit dem § 175. Reinbek 1967; Schlegel, Willhart S.: Das große Tabu. Zeugnisse und Dokumente zum Problem der Homosexualität. München 1967; Wilde, Harry: Das Schicksal der Verfemten. Die Verfolgung der Homosexuellen im „Dritten Reich“ und ihre Stellung in der heutigen Gesellschaft. Tübingen 1969.

13 Vgl. z.B. Steinle, Karl-Heinz: Die Geschichte der „Kameradschaft die runde“ 1950 bis 1969. Reihe: Hefte des Schwulen Museums, Heft 1. Berlin 1998.

14 Baumann, Jürgen u.a.: Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches. Besonderer Teil. Sexualdelikte. Tübingen 1968.

15 BGBl I S. 645.

16 BVerfGE 34, 41.

17 BGBl I S. 1725.

18 Zit. nach: Dworek, Günter: Selbstbestimmt Schwul. § 175 ersatzlos streichen. Argumentationshilfe und Materialien zur ersatzlosen Streichung des § 175 StGB. Hrsg. von DIE GRÜNEN im Bundestag. Bonn 1989. S. 21.

19 Zit. nach: Der Spiegel, 19/1979. S. 52.

20 Stuttgarter Zeitung vom 13.04.1982.

21 Entscheidung des OVG Münster vom 15.03.1976 (Az IX A 1375/75), zit. nach: Lautmann, Rüdiger: „Wie man Außenseiter draußen hält. Zur Kriminal- und Ordnungspolitik gegenüber homosexuellen Männern und Frauen“. In: Kritische Justiz 1/1979. S. 2, 16.

22 Pressemitteilung 18/86 des Bundesjustizministeriums vom 26.02.1986.

23 BT-Drucksache 10/2832.

24 SPD-Pressemitteilung 89/1986 vom 26.02.1986.

25 BT-Drucksache 11/2495, S. 93. BT-Drucksache 11/7200, S. 78.

26 zit. nach: Thinius, Bert: „Verwandlung und Fall des Paragraphen 175 in der Deutschen Demokratischen Republik“. In: Die Geschichte des § 175, Strafrecht gegen Homosexuelle. Berlin 1990. S. 145–162, S. 159.

27 Art. 9 Abs. 2 des Einigungsvertrages vom 31.08.1990, Anlage II, Kapitel III, Sachgebiet C, Abschnitt I, Nr. 1; und Anlage I, Kapitel III, Sachgebiet C, Abschnitt III, Nr. 1 – BGBl. II 1990, S. 889, 892, 957, 1168.

28 CDU-Dokumentation 2/1991: „Koalitionsvereinbarung für die 12. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages“, S. 33; Abrufbar unter: http://www.kas.de/wf/doc/kas_27202-544-1-30.pdf?110902101003.

29 Vgl. dazu Schäfer, Anm. 2, S. 255ff.

30 Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt vom 06.03.1992.

31 Niederschrift über die 9. Sitzung des Ausschusses für Frauen und Jugend am 4. März 1992 (FJ 1100-0 – Nr. 10/92), S. 254.