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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

WIR FÜR ALLE: ERGEBNISSE UND BESCHLÜSSE DES 36. LSVD-VERBANDSTAGS

Unter dem Motto „Wir für Alle“ diskutierte der LSVD auf seinem 36. LSVD-Verbandstag Wünsche für die Zukunft unseres Verbands selbst und Forderungen an die Politik.

Erstmals seit 2019 konnte der LSVD wieder über 120 Mitglieder in Berlin vor Ort begrüßen. Schwerpunktthema war in diesem Jahr die anstehende Europawahl. Zudem wurde der Stand der Umsetzung des von der Bundesregierung versprochenen queerpolitischen Aufbruchs kritisch beleuchtet.

Die Veranstaltung begann nach der Eröffnung durch Alva Träbert vom Bundesvorstand sowie Mia Schumacher und Markus Löw vom Landesverband Berlin-Brandenburg mit mehreren verbandsexternen Grußworten. Zunächst begrüßte Francisco Quiroga, der Botschafter von Mexiko, die Mitgliederversammlung, die in diesem Jahr in der mexikanischen Botschaft stattfinden konnte. Er würdigte das Engagement des LSVD in der Equal Rights Coalition. Mexiko und Deutschland teilen sich den Vorsitz dieser Koalition von 43 Mitgliedstaaten, die sich für den Schutz der Rechte von LSBTIQ* Personen einsetzt, und zusammen mit Fundación Arcoíris und LSVD für eine gerechte und inklusive Gesellschaft arbeitet. Er zeichnete in seiner Rede den Weg nach, den Mexiko bis jetzt für die Gleichberechtigung von LSBTIQ* gegangen ist. Anschließend vertrat Alfonso Pantisano als Ansprechperson Queeres Berlin die Senatorin für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung Cansel Kiziltepe, die kurzfristig verhindert war. Er betonte unter anderem die Bedeutung, sich in Zeiten des gesellschaftlichen Backlashs als LSBTIQ*-Community mit allen Mitgliedern zu solidarisieren und sich nicht spalten zu lassen.

Die Staatsministerin im Auswärtigen Amt für Europa, Dr. Anna Lührmann, betonte in ihrer Rede die Bedeutung der Zivilgesellschaft für menschenrechtliche Entwicklungspolitik und stellte die gute Zusammenarbeit mit dem LSVD heraus. Anschließend stellte sie sich den Fragen des Publikums und der Tagungsleitung unter anderem zu der Einordnung von Ghana und Senegal als sichere Herkunftsstaaten, der Erweiterung der EU um Georgien und Moldau sowie dem Rechtsruck auch innerhalb demokratischer Parteien und der Ampelregierung.

Vielfalt in Namen, Satzung, Geschäfts- und Finanzordnung

Nachdem sich im letzten Jahr die Mitgliedsversammlung für eine stärkere Öffnung des Verbands ausgesprochen hatte, wurde ein Jahr lang in verschiedenen partizipativen Prozessen auf den verschiedenen Ebenen des Verbands, in Befragungen und mehreren Austausch-Meetings mit der Mitgliedschaft und im Bundländeraustausch ein gemeinsamer Vorschlag zur Namensanpassung erarbeitet.

Der Bundesvorstand schlug in seinem Antrag den neuen Namen „LSVD+ – Verband Queere Vielfalt“ vor, um das Kürzel anzupassen, jedoch den Markenkern und seinen Wiedererkennungswert nicht zu verändern. Der Landesverband Berlin-Brandenburg brachte einen Änderungsantrag dazu ein, der das Ziel der Anpassung begrüßte, das hochgestellte Plus im Kürzel aber ablehnte. In einer ausführlichen Debatte teilten mehrere Mitglieder diese Bedenken; andere bekräftigten den Wunsch, der Verband möge ein klares Zeichen für die Solidarität in der queeren Community auch sichtbar im Kürzel setzen.

Schlussendlich entschied die Mitgliederversammlung mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit, für die Anpassung „LSVD+ – Verband Queere Vielfalt“. Die notwendigen Schritte zur Umsetzung dieses Beschlusses werden auf Bundes- und Landesebene in den nächsten Wochen angegangen. Die entsprechenden Änderungen der Satzung sowie der Geschäfts- und Finanzordnung wurden am Sonntagvormittag unter dem  Tagesordnungspunkt „Weitere Anträge“ beschlossen.

EU-Wahlaufruf und europapolitisches Panel

Patrick Dörr vom LSVD-Bundesvorstand moderierte am Samstagabend eine Diskussion zur anstehenden EU-Wahl mit Vertreter*innen der fünf größten demokratischen Parteien, die bereits auf Bundesebene und im EU-Parlament vertreten sind. Basierend auf den LSVD-Wahlprüfsteinen zur EU-Wahl wurden Martin Schirdewan (DIE LINKE), Terry Reintke (Bündnis 90/Die Grünen), Gaby Bischoff (SPD), Anastasia Vishnevskaya-Mann (FDP) und Dirk Braitschink (LSU) folgende Fragen gestellt: Unterschreiben Sie eine Selbstverpflichtung für die Rechte von LSBTIQ* bei Wahl ins EU-Parlament? Befürworten Sie eine erneute EU-Strategie für LSBTIQ*? Setzen Sie sich für die Verabschiedung der fünften Antidiskriminierungsrichtlinie ein? Welchen Umgang mit Mitgliedsstaaten, die sich nicht an die menschenrechtlichen Gebote halten, befürworten Sie, also z. B. Vertragsverletzungsverfahren? Wie stehen Sie zu den großen Bedenken der Zivilgesellschaft bezüglich der Wahrung des Individualrechts auf Asyl gegenüber im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem? Das Panel bot vielseitige Einblicke in die Bereitschaft der Kandidierenden, sich im Europäischen Parlament für queeres Leben zu engagieren.

Am Samstag wurde zudem positiv über den Antrag des Bundesvorstands „Coming-out für Europa – Wenn nicht jetzt, wann dann?“ abgestimmt. Angesichts der aktuellen politischen Infragestellung europäischer Grundwerte wie Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtstaatlichkeit als Grundprämisse politischen Handelns und der angestrebten Rückschritte der bereits erreichten Errungenschaften rief die Mitgliedsversammlung dazu auf, am 9. Juni 2024 vom Wahlrecht Gebrauch zu machen und nur die Parteien zu wählen, die sich wirklich glaubhaft und überzeugend für Gleichheit und Akzeptanz von LSBTIQ* in Europa und gegen Hass, Homo- und Bisexuellen- sowie Transfeindlichkeit einsetzen. „Wir für Alle“ muss in ganz Europa gelten!

Queerpolitischer Status quo, Themenschwerpunkte des LSVD-Bundesverbands und beschlossene Anträge

Ein weiterer Beschluss auf Antrag des Bundesvorstands wurde am Samstag verabschiedet. Er fordert die Bundesregierung dazu auf, die vielen bislang uneingelösten queerpolitischen Versprechen des Ampel-Koalitionsvertrags zeitnah umzusetzen:

„Die Akzeptanzwerte zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt sinken erstmals seit Jahrzehnten, "soziale" Medien werden gezielt als Resonanzräume für menschenverachtende Queerfeindlichkeit instrumentalisiert, die homo- und trans*feindliche Gewalt auf der Straße nimmt merklich und messbar zu. Hinzu kommen Wahlerfolge der queerfeindlichen in Teilen als gesichert rechtsextrem eingestuften AfD. Umso dringender ist für uns, dass Bundestag und Bundesrat endlich Artikel 3 des Grundgesetzes so ergänzen, dass unstreitig sichergestellt ist, dass sowohl die sexuelle Identität als auch die geschlechtliche Identität unter dem vollumfänglichen Schutz des Grundgesetzes stehen. Auch die Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) steht weiterhin aus.“

Der zweite Tag begann mit der Diskussion und Beschlussfassung über den vorgelegten Antrag „Queere Gedenkkultur in Deutschland“ des LSVD-Landesverbands Berlin-Brandenburg. Die Resolution bezeichnet das Gedenken an die Opfer des NS-Unrechtsregimes als einen Beitrag zu einer vielfältigen und demokratischen Gesellschaft. Aufgrund der Tatsache, dass Zeitzeug*innen weitgehend nicht mehr zur Verfügung stehen, müssen neue Formen des Erinnerns und Gedenkens gefunden werden. Der Bundesvorstand wird im Beschluss aufgefordert, zusammen mit der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und dem Landesverband Berlin-Brandenburg vor diesem Hintergrund Gespräche über eine Verstetigung der Zusammenarbeit beim Gedenken an die Opfer des Todes- und Zwangsarbeiterlagers Klinkerwerk Oranienburg zu führen. Dabei soll die Realisierung des 1996 konzipierten Gedenkparks „Klinkerwerk“ – als wesentlicher Teil einer deutschland- und europaweit relevanten queeren Gedenklandschaft in der Hauptstadtregion – einen Fokuspunkt bilden.

Anschließend stellte Bundesvorstand Philipp Braun im Rahmen des Tätigkeits- und Finanzberichts die queerpolitischen Highlights und die Aktivitäten des Bundesvorstands im letzten Jahr vor: Die politische Arbeit rund um das Selbstbestimmungsgesetz, die Reform des Familien- und Abstammungsrechts sowie der Beitrag des LSVD zur Evakuierung von LSBTIQ* aus dem Verfolgungsstaat Afghanistan hob er dabei besonders hervor. Zudem dankte der ganze Verbandstag den Mitarbeitenden des Verbands für ihren Beitrag. Zudem wurden die beiden langjährigen Mitarbeitenden Dr. Sarah Ponti im Grundsatzreferat und René Mertens in der Projektarbeit und Bund-Länder-Koordination mit viel Applaus verabschiedet. Beide Stellen werden zeitnah neubesetzt.

Gemeinsam gegen rechts

Um das Thema „Hand in Hand gegen Rechtsextremismus: Für Demokratie und Menschenrechte“ fand am Samstagnachmittag ein bereichernder Dialog mit den anwesenden Mitgliedern statt. Dort tauschten sich die Anwesenden im World-Café-Format an drei Tischen zu den Schwerpunkten aus:

  • Welche Strategien nutzen Rechtsextreme und wie kann eine Strategie dagegen aussehen?
  • Wie erreichen wir Personen in der Mitte der Gesellschaft?
  • Wie gehen wir mit recht(s-extrem)en Queers um?

Die Gruppen wurden von den Mitarbeitenden Jürgen Rausch, Leonie Achterhold und Clara Clasen moderiert. Die Erkenntnisse und Handlungswünsche für den Bundesverband und die Möglichkeiten des Einsatzes der Einzelmitglieder zum Thema wurden fotodokumentiert und werden in die weitere Bundesverbandsarbeit einfließen.

Wahlen zum Bundesvorstand und Verabschiedung von Christian Rudolph

Als neue Vorstandsmitglieder wurden Erik Jödicke, Julia Monro, Tim Stefaniak und Alexander Vogt für eine Amtszeit von zwei Jahren gewählt. Die Vorstandsmitglieder Patrick Dörr, Henny Engels, Andre Lehmann und Alva Träbert, die erneut für zwei Jahre kandidierten, wurden bestätigt. Weiterhin gehören dem nunmehr zwölfköpfigen ehrenamtlichen Gremium die bereits im letzten Jahr gewählten Philipp Braun, Mara Geri, Jörg Hutter und Mikhail Tumasov an.

Christian Rudolph trat nach sechs Jahren im Bundesvorstand nicht erneut an. Wir danken ihm für seinen Einsatz, im Besonderen für seine großen Verdienste im Bereich Sport, unter anderem bei der Herausforderung der Männerfußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar und beim Spielrecht für trans* und intergeschlechtliche Personen im Amateurbereich. Wie er in seiner Abschiedsrede erwähnte, bewegte unser Verband mit ihm gemeinsam den Sport, doch wir „haben noch lange nicht fertig“. Dabei dürfen wir unseren politischen Druck im Bereich Sport nicht schmälern, sondern müssen weiter das große Potenzial des gesellschaftlichen Bereichs mit insgesamt über 27 Millionen organisierten Mitgliedern für die Akzeptanz von LSBTIQ* nutzen.

Kerstin Thost
LSVD-Pressesprecher*in