Stellungnahme der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) zum Referent*innenentwurf des Bundesministeriums des Innern und für Heimat zur Reform des Europäischen Asylsystems
Der LSVD⁺ hat keine eigene Stellungnahme zur GEAS-Reform verfasst, sondern den Gesetzesentwurf durch eine Pressemitteilung kommentiert. Zudem schließt sich der Verband der folgenden Stellungnahme der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) an.
0. Präambel
[...]
Der vorliegende Gesetzesentwurf beinhaltet die größte Änderung der deutschen Migrationsgesetzgebung seit dem Asylkompromiss 1993. Die im Juni 2024 verabschiedete Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), die ab dem Sommer 2026 in Anwendung sein wird, wurde von zivilgesellschaftlichen Organisationen mehrfach als erhebliche Verschärfung des europäischen Asylrechts kritisiert, die den Schutz fliehender Menschen in der EU gefährdet. Wie bereits in einer gemeinsamen zivilgesellschaftlichen Stellungnahme von Juli 2024 gefordert, muss bei der nationalen Umsetzung der Reform sichergestellt werden, dass Menschenrechte bestmöglich geachtet und rechtsstaatliche Standards in Deutschland bestmöglich gewahrt werden. Der vorliegende Gesetzentwurf nutzt die bestehenden menschenrechtlichen Spielräume für Verbesserungen aus unserer Sicht nicht ausreichend.
Bereits im Vorfeld hat die BAfF e. V. gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen eine angemessene Beteiligungsfrist von mindestens zwei Wochen gefordert. Eine Beteiligungsfrist von gerade einmal etwas mehr als fünf Tagen für Organisationen, die sich tagtäglich mit den Herausforderungen und Stärken des Asyl- und Aufnahmeverfahrens auseinandersetzen, wird der Bedeutung und Tragweite der Reform nicht gerecht und mindert absehbar auch die Qualität der Regelungen, die es betrifft.
Im Folgenden können wir deshalb nicht in Gänze auf den Gesetzesentwurf eingehen, sondern fokussieren unsere Stellungnahme auf den Kernbereich unserer fachlichen Expertise: Die Identifizierung und Versorgung vulnerabler Personen mit besonderen Schutzbedarfen. Die Qualität des Asyl- und Aufnahmeverfahrens muss sich daran messen lassen, wie umfassend es die Rechte und die Würde der vulnerabelsten Personen innerhalb des Systems schützt. Die sorgfältige gesetzliche Verankerung der Maßgaben zum Schutz vulnerabler Gruppen, die das GEAS-Reformpaket vorsieht, ist daher von zentraler Bedeutung.
Eine weitere Kommentierung behalten wir uns vor und appellieren an den Gesetzgeber, bei der Implementierung der gesamten GEAS-Reform in keinem Punkt menschenrechtliche Standards zu unterschreiten und die Situation von Menschen auf der Flucht weiter zu verschärfen. Der Gesetzgeber ist in der Pflicht, faire Verfahren für alle Schutzsuchenden zu garantieren, um damit Rechtsstaatlichkeit, völkerrechtliche, europarechtliche und verfassungsrechtliche Vorgaben und das individuelle Recht auf Asyl zu wahren.
1. Identifizierung vulnerabler Gruppen
Der Schutz und die Versorgung vulnerabler Personen erfordert zunächst ein systematisches, zielgruppenübergreifendes Identifizierungsverfahren, das geeignet ist, ein Anmelden besonderer Schutzbedarfe bereits während des Screeningverfahrens, aber auch zu jedem späteren Zeitpunkt zu ermöglichen. Da die meisten Schutzbedarfe, die die Aufnahme-RL explizit nennt, nicht ohne aktive Mitwirkung der schutzsuchenden Person erkennbar sind, muss jedes Verfahren zur Vulnerabilitätsprüfung darauf abzielen, diese Mitwirkung informiert und angstfrei zu ermöglichen.
1.1 Flächendeckende Identifizierung
Zunächst möchten wir auf die Voraussetzungen für die Früherkennung und Prüfung von Vulnerabilität eingehen.
1.1.1 Umsetzung Vulnerabilitätsprüfungen
Hinsichtlich der Identifizierung vulnerabler Gruppen stellt die Gesetzesbegründung des GEAS-Anpassungsgesetz-E (GEAS-AnpG-E) auf S. 57 klar:
„Die europäischen Rechtsakte der GEAS-Reform enthalten ein umfassendes Regime der Früherkennung und Berücksichtigung besonderer Schutzbedarfe; wo die Regelungen der EU-Rechtsakte für die Umsetzung auf nationaler Ebene nicht ausreichen, werden
diese im Gesetzentwurf nachgezeichnet bzw. die Vorgaben präzisiert. Im Rahmen des Screenings nach der Screening-VO [...], das künftig für alle Personen gilt, die irregulär in die EU einreisen, wird unter anderem eine vorläufige Prüfung der Vulnerabilität vorgenommen.“
Wir begrüßen die Hervorhebung der Früherkennung und Berücksichtigung besonderer Schutzbedarfe. Eine Nachzeichnung bzw. Präzisierung der Vorgaben im erforderlichen Ausmaß findet sich in dem vorliegenden Gesetzentwurf jedoch nicht. Entgegen der Ausführung, "[zudem] werden besondere Verfahrensgarantien geprüft, z. B. in Bezug auf Vulnerabilität. Bei der Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, ist vorgesehen, dass ein besonderes Bedürfnis der einzelnen Person sowohl bei der Aufnahme als auch im späteren Verfahren beurteilt und berücksichtigt wird. Auch besondere medizinische Bedarfe werden beachtet” (ebd.), finden sich in dem Regelungsvorhaben keine ausreichend klaren gesetzlichen Vorgaben zu den Voraussetzungen von Vulnerabilitätsprüfungen.
a. Zuständigkeit
Nach § 71 Absatz 3 Nr. 9 Aufenthaltsgesetz-E (AufenthG-E) sind die mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragten Behörden zuständig für die Überprüfung im Screeningverfahren, wenn eine Person von der Grenzbehörde bei Erfüllung ihrer grenzpolizeilichen Aufgaben festgestellt wird. Laut der Gesetzesbegründung werden folglich neben der Bundespolizei der Zoll sowie einzelne Landespolizeien tätig. Für die übrigen Screeningfälle sind nach § 71 Absatz 4a Satz 1 AufenthG-E die Polizeivollzugsbehörden der Länder sowie andere nach Landesrecht zu bestimmende Behörden zuständig. Für einzelne Maßnahmen besteht nach § 71 Absatz 4a Satz 2 AufenthG-E die Möglichkeit, dass die Landesregierung oder die von ihr bestimmte Stelle bestimmen, dass nur eine oder mehrere bestimmte Polizeivollzugsbehörden oder nach Landesrecht bestimmte Behörden zuständig sind. Die Gesetzesbegründung führt aus, dass durch Landesrecht bestimmte Landesgesundheitsbehörden für die erforderlichen vorläufigen Gesundheitskontrollen zuständig sind.
Wie bereits in der o. g. Stellungnahme ausgeführt, sehen wir die Zuständigkeit der Polizei für das Screeningverfahren sehr kritisch, da dann Polizeibeamt*innen der erste und prägende Erstkontakt für in Deutschland ankommende Menschen sind, die vor Krieg, Gewalt und Folter geflohen sind. Kernaufgaben der Polizeien sind die Gefahrenabwehr und die Strafverfolgung, von einer Qualifikation für andere Aufgaben ist in der Regel nicht auszugehen. Insbesondere eine Vulnerabilitätsprüfung ist keinem der beiden Bereiche zuzuordnen. Die Polizei nimmt in der Regel gerade keine Aufgaben der Fürsorge wahr, sondern der Kontakt beruht auf dem Störerprinzip. Das widerspricht einer notwendigerweise zugewandten Vulnerabilitätsprüfung, diese wäre aber Voraussetzung für eine menschenwürdige, bedarfsorientierte Existenzsicherung.
Inwieweit durch die Gesetzesentwürfe im Sinne des Artikel 8 Absatz 9 Satz 1 Screening-VO sichergestellt wird, dass das Personal der Überprüfungsbehörden über angemessene Kenntnisse verfügen und die erforderliche Schulung erhalten soll, ergibt sich nicht. Nach Artikel 8 Absatz 9 Satz 4 Screening-VO haben die Mitgliedstaaten geeignetes Personal und ausreichende Mittel für eine effiziente Durchführung der Überprüfung einzusetzen. Diese Vorgaben erfüllen die bisherigen Regelungen nicht.
Wir fordern weiterhin, dass die Zuständigkeit für das Screeningverfahren als Verfahrensschritt vor dem Asylverfahren bei den dafür zuständigen Behörden wie dem BAMF und für die Aufnahme zuständigen Landesbehörden liegt. Nicht nur in der Gesetzesbegründung, sondern gesetzlich zu verankern ist im Sinne des Artikel 8 Absatz 9 Satz 2 Screening-VO, dass qualifiziertes medizinisches Personal die vorgesehene vorläufige Gesundheitskontrolle durchführt und dass spezialisiertes, für diesen Zweck geschultes Fachpersonal die vorläufige Prüfung der Vulnerabilität durchführt. Daneben ist von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, die nationalen Kinderschutzbehörden und die nationalen Behörden, die für die Ermittlung und Identifizierung von Opfern von Menschenhandel zuständig sind sowie entsprechende Mechanismen in diese Kontrollen und Prüfungen gemäß Artikel 8 Absatz 9 Satz 3 Screening-VO einzubeziehen, und eine Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen und qualifiziertem medizinischen Personal bei der Vulnerabilitätsprüfung gemäß Artikel 12 Absatz 3 Satz 2 Screening-VO zu verankern. Denn nur durch multiprofessionelle, intersektionale Information, Beratung und Ermittlung können die verschiedenen Bedarfe nach Artikel 25 Aufnahme-RL umfassend ermittelt und berücksichtigt werden.
b. Einzelne Verfahrensregelungen
Nach § 14a Absatz 1 AufenthG-E soll eine Person für eine Überprüfung an der Außengrenze nach der Screening-VO von der zuständigen Behörde an einen Ort nach Maßgabe von Artikel 8 Absatz 1 Screening-VO verbracht werden. Diese Regelung ist nicht hinreichend konkret. Laut Artikel 8 Absatz 1 Screening-VO ist ein angemessener und geeigneter Ort, der von dem jeweiligen Mitgliedstaat benannt wird und sich im Allgemeinen an den oder in der Nähe der Außengrenzen oder alternativ an anderen Orten innerhalb seines Hoheitsgebiets befindet. Nach dem klaren Wortlaut der Verordnung bedarf es folglich einer Konkretisierung durch den deutschen Gesetzgeber, ein bloßer Verweis auf die Verordnung ist nicht ausreichend.
Ohne gesetzliche Konkretisierung ist das Prinzip der Rechtssicherheit mangels Normenklarheit und Bestimmtheit nicht gewahrt. Wenn unklar ist, wohin Menschen für das Screeningverfahren verbracht werden, kann dies möglicherweise zu erschwertem Zugang zu Rechtsberatung und folglich Einschränkungen des effektiven Rechtsschutz nach Artikel 19 Absatz 4 GG führen. Aus gleichem Grund ist von der Möglichkeit der Beschränkung des Zugangs zu Einrichtungen von Personen und Organisationen, die befugt sind, Rechtsauskunft und Beratungsleistungen zu erbringen, keinen Gebrauch zu machen (vgl. zu Zugänge). § 14a Absatz 4 AufenthG-E ist zu streichen.
Darüber hinaus bestehen im Hinblick auf die Anknüpfung an den Ort aus § 14a Absatz 1 AufenthG-E in § 14a Absatz 2 AufenthG-E bei einer möglichen Anordnung einer Überprüfungshaft verfassungsrechtliche Bedenken. Die Norm erfüllt das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot aus Artikel 20 Absatz 3 GG nicht. Je weitreichender eine Norm in die Rechte der betroffenen Person eingreift, desto höher sind die Anforderungen an ihre Präzision und Klarheit. Hinsichtlich der freiheitsentziehenden Maßnahme, die den stärksten Eingriff in individuelle Freiheitsrechte darstellt, genügt in keinem Fall der nicht konkretisierende Verweis in der Regelung erst recht nicht. Auch ist die Unterscheidung zwischen den freiheitsbeschränkenden Maßnahmen in Absatz 1 und Absatz 2 nicht trennscharf. (vgl. Ausführungen zu §§ 68 ff. AsylG-E)
Für § 15a AsylG-E gilt hinsichtlich des in Absatz 1 genannten Ortes, an dem die Überprüfung im Bundesgebiet durchzuführen ist, aufgrund der Gleichläufigkeit der Regelung das zu § 14a Absatz 1 AsylG-E Gesagte. Hinsichtlich der in § 15a Absatz 6 AufenthG-E normierten Verpflichtung von Behörden des Bundes und der Länder, illegalisierte Menschen zu melden, sind Ausnahmen zu ergänzen. So etwa wie in § 87 Absatz 1 AufenthG für Schulen und Bildungs- und Erziehungseinrichtungen, und für Stellen der Gesundheitsversorgung, dass „Kranke nicht davon abgehalten werden, sich behandeln zu lassen“, wie im Koalitionsvertrag angekündigt (Koalitionsvertrag 2021-2025, S. 139). Die Meldepflicht führt sonst dazu, dass lebensbedrohliche Erkrankungen unbehandelt bleiben und der faktische Ausschluss von der Gesundheitsversorgung führt zu einer Verletzung des in Artikel 35 EU-Grundrechtecharta garantierten Rechts auf ärztliche Versorgung.
Der Verweis in § 14b AsylG-E auf § 15a AsylG-E und damit die Anwendung der Regelungen der Überprüfung an der Außengrenze in Fällen der Überprüfung an der Binnengrenze, steht im Widerspruch zum Non-Refoulement-Verbots nach Artikel 33 GFK und Artikel 3 EMRK, sowie den Grundideen des AMMVO. Hier besteht die begründete Sorge, dass es bei den Überprüfungen vermehrt zu racial profiling kommen kann – der Gesetzgeber hat dies effektiv zu verhindern.
Neben diesen formellen Vorgaben an das Screeningverfahren findet sich in den Gesetzentwürfen hinsichtlich der vorläufigen Gesundheitsüberprüfung die Regelung des § 82 Absatz 3a AufenthG-E, wonach eine Person eine durch die zuständige Landesgesundheitsbehörde angeordnete, zur Ermittlung von Gefahren für die öffentliche Gesundheit im Rahmen der vorläufigen Gesundheitsüberprüfung im Screeningverfahren zu dulden hat. Nach der Gesetzesbegründung sei dies insbesondere mit Blick auf die Unterbringung der Betroffenen in Gemeinschaftsunterkünften angezeigt, die bei einer notwendigen Unterbringung während des Screeningverfahrens in einer solchen erfolgen dürfte.
Die Regelung begegnet starken verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Zwangsmaßnahme gegen den Willen der betroffenen Person ist nicht erforderlich. Trotz der hohen Eingriffsintensität im Hinblick auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Artikel 2 Absatz 1 i. V. m. Artikel 1 Absatz 1 GG, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach Artikel 2 Absatz 1 i. V. m. Artikel 1 Absatz 1 GG und die allgemeine Handlungsfreiheit nach Artikel 2 Absatz 1 GG werden mildere Mittel, wie etwa Schutzmaßnahmen nach § 34 Infektionsschutzgesetz, nicht in Betracht gezogen. Auch fehlt es an einem richterlichen Vorbehalt wie in § 81a StPO, der keine Unterscheidung zwischen körperlichen Eingriffen oder körperlicher Untersuchung vornimmt. Die Norm ist folglich zu streichen.
1.1.2 Fehlende Regelungen
Weitere Ausführungen, wie Vulnerabilitätsprüfungen stattfinden sollen, finden sich in den Gesetzesentwürfen nicht. Wie auch in der Gesetzesbegründung des GEAS-AnpG-E ausgeführt, ist es zweckmäßig und im Sinne des mit der GEAS-Reform verbundenen Harmonisierungsziels, mittels eines integrativen Ansatzes die Inhalte der Verordnungen in Teilen zu wiederholen oder auf diese explizit zu verweisen (vgl. GEAS-AnpG-E, S. 56). Mit den vorliegenden Gesetzesentwürfen ist dem nicht ausreichend Rechnung getragen. Weitere Präzisierungen oder Ergänzungen des nationalen Rechts im Zusammenhang mit Früherkennung und Berücksichtigung besonderer Schutzbedarfe sind erforderlich und in die Entwürfe für entsprechende Regelungen im AsylG und AufenthG aufzunehmen. Dabei hat der deutsche Gesetzgeber die sorgfältige und flächendeckende Umsetzung der Aufnahme-RL umzusetzen.
Die Verankerung einer Rechtsgrundlage für die Durchführung von Vulnerabilitätsprüfungen ist erforderlich. Zur Gewährleistung der Rechtssicherheit bedarf es nach dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes einer rechtlichen Grundlage, da an das Verfahren und das Ergebnis einer Vulnerabilitätsermittlung weitreichende Rechtsfolgen anknüpfen (vgl. Ausführungen zu §§ 44 Absatz 2, 46 Absatz 2 Satz 2 und Absatz 3, 68 Absatz 5 Satz 3, 70a AsylG-E). Da im Rahmen des Screeningverfahrens und nach Artikel 25 Absatz 1 Satz 5 Aufnahme-RL während der gesamten Dauer des Asylverfahrens Vulnerabilitäten zu prüfen sind, empfehlen wir dringend, eine allgemeine Regelung zur Vulnerabilitätsprüfung zu erlassen. Den verschiedenen Zuständigkeiten kann durch konkretisierende Ausgestaltung der Norm Rechnung getragen werden. Dabei sind insbesondere die Vorgaben aus Artikel 25 Aufnahme-RL zur wirksamen Umsetzung der Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse bei der Aufnahme aus Artikel 24 Aufnahme-RL gesetzlich zu normieren. Für Rechtssicherheit in der Rechtsanwendung sind die zu prüfenden Vulnerabilitäten aus Artikel 24 Aufnahme-RL und aus Artikel 12 Absatz 3 Satz 1 Screening-VO, nämlich ob eine Person staatenlos, vulnerabel, oder ein Opfer von Folter oder anderer unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung sein könnte, oder besondere Bedürfnisse im Sinne des Artikel 25 Aufnahme-RL hat, explizit zu nennen.
Da an das Vorliegen einer besonderen Schutzbedürftigkeit auch eine Entscheidung über die Zuteilung, Entlassung oder Priorisierung im Grenzverfahren im Sinne des Artikel 43 ff. AsylverfahrensVO (AVVO), § 18a AsylG-E anknüpft, welches mit extremen Grundrechtseinschränkungen und immensen Verkürzungen von Verfahrensgarantien einhergeht, müssen Vorgaben zu Vulnerabilitätsprüfungen ganzheitlich für alle Verfahrensstadien gesetzlich geregelt werden und keine erschwerenden Vorgaben an die Nachweisbarkeit zu stellen. Wir appellieren eindringlich an den deutschen Gesetzgeber, bei der Umsetzung der Grenzverfahren ins nationale Recht nicht über bereits sehr weitgehenden Verschärfungen des verpflichtenden Grenzverfahrens aus Art. 45 Abs. 1 AVVO hinauszugehen. Grenzverfahren betreffen grundrechtssensibelste Bereiche und führen regelmäßig zu starken psychischen und physischen Belastungen für Betroffene, die auch langfristige negative gesundheitliche Konsequenzen nach sich ziehen können.
Für Klarheit in der Praxis und Erleichterung im Behördenalltag ist insb. die Vorgabe aus Artikel 25 Absatz 2 lit. c) Aufnahme-RL gesetzlich zu normieren. Danach überweist das die Vulnerabilitätsprüfung durchführende Personal eine antragstellende Person mit deren Einwilligung für die weitere Untersuchung ihres psychischen und körperlichen Zustands an eine geeignete medizinische Fachkraft oder eine*n Psycholog*in, wenn es Hinweise darauf gibt, dass sich ihre psychische oder physische Gesundheit auf ihre Bedürfnisse bei der Aufnahme auswirken könnte; erforderlichenfalls wird eine mündliche Übersetzung durch eine*n ausgebildete*n Dolmetscher*in zur Verfügung gestellt, um sicherzustellen, dass der* die Antragstellende mit dem medizinischen Personal kommunizieren kann.
Zudem bedarf es einer klaren Regelung, die den Betroffenen einen wirksamen Rechtsbehelf gegen das Ergebnis einer Vulnerabilitätsprüfung einräumt. Deutlich wird dies daran, dass in der Gesetzesbegründung zu § 14a AufenthG-E ausgeführt wird, dass der Verbleib am Ort des Screenings im Regelfall nur wenige Stunden andauern werde, da das Screeningverfahren im Regelfall in diesen Zeitraum abgeschlossen werden wird. Wie eine intersektionale Vulnerabilitätsprüfung in wenigen Stunden ablaufen soll, bleibt offen. Es bedarf folglich einer durchgängigen Überprüfbarkeit. Es ist sicherzustellen, dass Menschen, die aufgrund fehlerhafter oder unvollständiger Prüfungen benachteiligt werden, die Möglichkeit haben, die Entscheidung im Sinne des Artikel 19 Absatz 4 GG gerichtlich überprüfen zu lassen und der Staat seinem Schutzauftrag vollumfänglich nachkommt. Nur nach Feststellung besonderer Bedarfe können Menschen die notwendige spezifische Unterstützung erhalten (vgl. Artikel 25 Absatz 4 Aufnahme-RL), wie z. B. Inanspruchnahme von Rehabilitationsmaßnahmen oder geeigneter psychologischer Betreuung für Minderjährige nach Artikel 26 Absatz 4 Aufnahme-RL, entsprechend für Opfer von Folter und Gewalt nach Artikel 28 Aufnahme-RL, wobei Personen bei Bedarf eine mündliche Übersetzung zur Verfügung zu stellen und der Zugang zu einer solchen Behandlung und Betreuung so zügig wie möglich nach der Ermittlung der Bedürfnisse zu gewähren ist, sowie dass Menschen unter Berücksichtigung ihrer körperlichen und geistigen Gesundheit eine zeitnahe und angemessene Unterstützung in angemessenen Einrichtungen erhalten (vgl. Artikel 8 Absatz 8, Artikel 12 Absatz 4 Screening-VO).
Die Beschränkung des Auskunftsrechts in § 91k AufenthG-E verunmöglicht das Aufsuchen effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Absatz 4 GG. Die Verantwortlichkeit für die Datenspeicherung, wonach eine Person als Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung eingestuft wird, muss in einer demokratischen Gesellschaft im Rahmen eines rechtsstaatlichen Verfahrens voll überprüfbar sein. An diese Einstufung knüpfen sich weitreichende Rechtsfolgen: so können bspw. auf dieser Grundlage Menschen, auch unbegleitete Minderjährige, in das verpflichtende Grenzverfahren verwiesen werden (Art. 45 Absatz 1 i. V. m. Artikel 43 Absatz 1 i. V. m. Artikel 42 Absatz 1 lit. f); Artikel 42 Absatz 3 lit. b) i. V. m. Artikel 42 Absatz 1 lit. f) AVVO), in dessen Rahmen auch die Begründetheit ihrer Asylanträge überprüft werden kann (Artikel 44 Absatz 1 lit.b) AVVO). Eine Pflicht zur Beschränkung der Auskunftsrechte sieht Artikel 43 Absatz 3 Eurodac-VO nicht vor. Aufgrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Artikel 19 Absatz 4, dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Gewaltenteilung und den besonderen Schutzpflichten aus der UN-Kinderrechtskonvention ist die Regelung zu streichen.
1.2 Information und Beratung
Eine Ermittlung besonderer Schutzbedarfe kann nur erfolgen, wenn Schutzsuchende zu ihren Rechten bedarfsgerecht informiert werden und zu ihrer individuellen Situation eine vertrauliche und sensibilisierte Beratung in Anspruch nehmen können.
Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass eine unentgeltliche Rechtsauskunft, die im Rahmen des § 12b Abs. 1 AsylG-E in Form von Gruppenberatungen durchgeführt werden soll, den nötigen Umfang nicht gewährleisten kann und den sensiblen Fragestellungen im Kontext Vulnerabilität (u. a. Thematisierung schwerer Gewalt) keinesfalls gerecht wird.
Nach § 12b Absatz 1 AsylG-E wird einer asylantragstellenden Person auf ihr Ersuchen hin im Asylverfahren und im Verfahren zur Bestimmung des zuständigen EU-Mitgliedstaates für die Durchführung des Asylverfahrens unentgeltliche Rechtsauskunft gemäß Artikel 16 AVVO und Artikel 21 AMMVO erteilt. Die Regelung bestimmt, dass das BAMF künftig die Behörde sein soll, die die unentgeltliche Rechtsauskunft im Verwaltungsverfahren in diesen Fällen erteilt.
Die Vorgaben der EU-Verordnungen werden jedoch bereits durch das in § 12a AsylG gemäß dem Koalitionsvertrag geförderte Bundesprogramm behördenunabhängige Asylverfahrensberatung gewährleistet. Die Möglichkeit der Erbringung unentgeltlicher Rechtsauskunft und -beratung durch Nichtregierungsorganisationen ist in Artikel 19 Absatz 1 AVVO explizit vorgesehen. Die im Bundesprogramm geförderte Beratung erfolgt behördenunabhängig, ergebnisoffen, unentgeltlich, individuell und freiwillig und erstreckt sich über das gesamte Asylverfahren bis zu dessen unanfechtbaren Abschluss. Sie wird durch erfahrene Träger gewährleistet, die ihre Zuverlässigkeit, die ordnungsgemäße und gewissenhafte Durchführung der Beratung sowie Verfahren zur Qualitätssicherung und -entwicklung nachgewiesen haben. Ein solches Beratungsangebot ist für die Qualitätssicherung der Verfahren unverzichtbar. Es kann und darf nicht durch ein Auskunftsangebot seitens des BAMF ersetzt werden. Gerade im Hinblick auf die Ermittlung von Vulnerabilitäten muss eine Aufklärung zu und Vorbereitung auf entsprechende Maßnahmen durch unabhängige, spezialisierte Rechtsberatung ab Beginn des Screeningverfahrens sichergestellt sein (Artikel 11 Absatz 4 Screening-VO, Artikel 15 AVVO). Nur durch einen zeitnahen Zugang auch zu einer besonderen Rechtsberatung für vulnerable Personen können Informationen über besondere Schutzbedarfe in angemessener Weise vermittelt und die individuellen Bedarfe tatsächlich festgestellt werden.
1.3 Zugänge
Aus Artikel 25 Absatz 1 Satz 5 Aufnahme-RL ergibt sich, dass besondere Bedürfnisse so früh wie möglich, aber auch im gesamten weiteren Verlauf des Asylverfahrens festzustellen und zu berücksichtigen sind. Zwangsläufig ergibt sich hieraus, dass eine unabhängige Informations- und Beratungsmöglichkeit zu jedem Zeitpunkt zu gewährleisten ist, auch und gerade während des Screeningverfahrens und des Grenzverfahrens.
§ 12c AsylG-E sieht vor, dass der Zugang zu Einrichtungen im Sinne des Artikel 18 Absatz 3 sowie Artikel 30 Absatz 3 AVVO, also Grenzübergangsstellen, Hafteinrichtungen und Transitzonen, von Personen und Organisationen, die befugt sind, Rechtsauskunft und Beratungsleistungen zu erbringen, beschränkt werden kann, wenn dies für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, oder die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des abgeschlossenen Bereichs, der Hafteinrichtung oder der Grenzübergangsstelle objektiv erforderlich ist und der Zugang dadurch nicht wesentlich erschwert oder unmöglich gemacht wird.
Die vorgeschlagene Umsetzung durch die Bundesregierung geht über das in der AVVO geforderte hinaus. Nach Artikel 30 Absatz 3 AVVO liegt es im Ermessen der Mitgliedstaaten, Zugänge für Berater*innen zu beschränken. Die Zugangsverweigerung für Fachpersonal kann kaum ein Mittel zur Erreichung des Zwecks “Aufrechterhaltung der Sicherheit, der öffentlichen Ordnung oder der Verwaltung der Einrichtung” darstellen. Vielmehr fehlt es an einer Zweck-Mittel-Relation und spricht den Beratenden ihre Professionalität und Fachexpertise ab. Vielmehr ist die professionelle Information für und insbesondere die Beratung von Menschen, die im Rahmen ihres Verfahrens am Verlassen der Einrichtung und damit am autonomen Aufsuchen von bedarfsgerechter Beratung gehindert werden, eine Grundvoraussetzung für die klare Bedarfsermittlung sowie die Effektivität und Beschleunigung der Verfahren. Der § 12c AsylG-E ist zu streichen.
Artikel 11 Absatz 4 Screening-VO eröffnet den Mitgliedstaaten den Ermessensspielraum, einschlägigen und zuständigen nationalen, internationalen und nichtstaatlichen Organisationen und Stellen zu gestatten, Drittstaatsangehörigen während des Screeningverfahrens Informationen insbesondere über den Zweck, die Dauer und die Elemente der Überprüfung und wie diese durchzuführen ist sowie mögliche Ergebnisse der Überprüfung, zu erteilen. Aus oben genannten Gründen, nämlich einer Annäherung an eine tatsächliche Bedarfsermittlung sowie der Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens nach dem Grundsatz der Effektivität des Verwaltungshandelns, appellieren wir an den Gesetzgeber, eine entsprechende rechtliche Grundlage im AsylG zu verankern.
2. Dokumentation besonderer Schutzbedarfe
Eine fachgerechte und lückenlose Dokumentation ermittelter Schutzbedarfe ist Voraussetzung für die Umsetzung der notwendigen Schutzmaßnahmen in Verfahren und Unterbringung sowie der erforderlichen gesundheitlichen Versorgung.
Nach § 46 Absatz 3 Satz 1 AsylG-E teilt die veranlassende Aufnahmeeinrichtung der zentralen Verteilungsstelle, soweit bereits identifiziert, besondere Bedürfnisse der asylsuchenden Menschen bei der Aufnahme mit.
Wir begrüßen die Informationsweitergabe zur Gewährleistung einer durchgängigen Bedarfsdeckung, für die eine zuverlässige Übermittlung an relevante Stellen Voraussetzung ist. Aufgrund der hohen Sensibilität der personenbezogenen Daten bedarf es jedoch ergänzend, wie in § 46 Absatz 3 Satz 2 AsylG-E für die Familieneinheit, eines Zustimmungserfordernisses der betroffenen Person.
Aus Artikel 8 Grundrechtecharta und dem verfassungsrechtlich verankerten Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Artikel 2 Absatz 1 i.V.m. Artikel 1 Absatz 1 GG, sowie die einfachgesetzlichen Vorgaben aus dem Bundesdatenschutzgesetz und DSGVO bestehen darüber hinaus Informationspflichten gegenüber der betroffenen Person. Eine solche ist gesetzlich zu verankern. Die Ergebnisse jeder Identifizierungsmaßnahme zu Vulnerabilitäten sind der betroffenen Person schriftlich auszuhändigen. Aufgrund der an die Bedarfsermittlung anknüpfenden Rechtsfolgen müssen die Ergebnisse überprüfbar sein, auch um bestehende Bedarfe erneut zu prüfen oder ggf. weitere entsprechende Nachweise erbringen zu können (Artikel 25 Absatz 1 Satz 5 und 6 Aufnahme-RL). Die Gesetzesentwürfe sind um entsprechende Regelungen zu ergänzen.
3. Umsetzung von Schutzbedarfen
Nach der Feststellung und Dokumentation besonderer Schutzbedarfe muss die Umsetzung in Bezug auf eine bedarfsgerechte, sichere Unterbringung sowie auf eine angemessene gesundheitliche Versorgung und besondere Verfahrensgarantien für vulnerable Personen im Asylverfahren sichergestellt werden.
3.1 Aufnahme/Unterbringung
§ 44 Abs. 2 AsylG-E sieht vor, dass die Länder geeignete Maßnahmen treffen, um bei der Unterbringung von Ausländern nach Absatz 1 besondere Bedürfnisse bei der Aufnahme zu berücksichtigen, und trägt damit Artikel 24 Aufnahme-RL Rechnung. Dass eine bedarfsgerechte Unterbringung für vulnerable Schutzsuchende somit explizite Erwähnung findet, begrüßen wir. Eine geeignete Unterbringung umfasst jedoch nicht nur die Lage und Ausgestaltung der Räumlichkeiten, sondern muss immer auch Maßnahmen zum Gewaltschutz und zur Gewaltprävention beinhalten, gerade in Bezug auf vulnerable Gruppen, die einem höheren Risiko ausgesetzt sind, auch nach der Flucht erneut Gewalt zu erleben. Hier ist es unsere dringende Empfehlung, den Schutzbegriff in der aktuellen gesetzlichen Regelung weiterhin ergänzend beizubehalten, wie es die Mindeststandards zum Schutz geflüchteter Menschen in Flüchtlingsunterkünften vorsehen, die eine Bündelung der Expertise aus Landesministerien, Behörden und zivilgesellschaftlichen Organisationen mit langjähriger Erfahrung in der Identifizierung und Versorgung vulnerabler Gruppen darstellen.
Des Weiteren ist in § 46 Absatz 2 Satz 2 AsylG-E in Bezug auf die Bestimmung der zuständigen Aufnahmeeinrichtung die Berücksichtigung etwaiger besonderer Bedürfnisse der Ausländer bei der Aufnahme verankert. Da die Möglichkeiten zur bedarfsgerechten Unterbringung vor allem für vulnerable Personen mit komplexen Schutzbedarfen aktuell nicht flächendeckend in gleicher Qualität möglich ist, leitet sich daraus eine Berücksichtigung erkannter und dokumentierter Bedarfe bereits in der EASY-Verteilung ab. Diese Klarstellung begrüßen wir. Um allen vulnerablen Personen, auch denen mit unsichtbaren Bedarfen, gerecht zu werden, ist es notwendig, die Pflicht zur systematischen, flächendeckenden und zielgruppenübergreifenden Ermittlung besonderer Schutzbedarfe an dieser Stelle explizit mit zu verankern. Daran anknüpfend sollte auch eine Pflicht zur Datenübermittlung in Bezug auf die erkannten Bedarfe festgeschrieben werden, mit expliziten Vorgaben zu Einwilligung und Datensparsamkeit.
Im Hinblick auf die Sicherstellung der lückenlosen bedarfsgerechten Unterbringung im Sinne der AufnahmeRL möchten wir außerdem auf die Notwendigkeit einer Ergänzung des § 49 Abs. 2 AsylG-E hinweisen, der die Entlassung aus der Aufnahmeeinrichtung in der Regel nicht vorsieht, bevor die Anhörung nach § 25 durchgeführt wurde. Wir fordern hier einen Zusatz in Form einer Klarstellung, dass eine vorzeitige Entlassung aus der Erstaufnahmeeinrichtung insbesondere zum Zweck einer bedarfsgerechten Umverteilung ermöglicht wird, wenn dort keine angemessene, lückenlose Versorgung der vorliegenden Schutzbedarfe gewährleistet ist.
Eingriffe in Bewegungsfreiheit §§ 68 ff. AsylG-E
Freiheitsbeschränkungen jeder Art sind stets ultima ratio staatlichen Handelns. Einschränkungen von Bewegungsfreiheit, insbesondere durch Haft, führen zu Verlust von Autonomie, starken psychischen und physischen Belastungen und riskieren eine (Re-)Traumatisierung schutzsuchender Menschen, die schwere (oft staatliche) Gewalt erlebt haben. Zudem werden Menschen dadurch fundamental von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen. Eine deutlich längere Aufenthaltsdauer in geschlossenen Einrichtungen unter Haftbedingungen wird in vielen Fällen den Gesundheitszustand von Menschen drastisch und nachhaltig verschlechtern, eine Stabilisierung ist kaum möglich. Die “Sicherheitsvorkehrungen” geben Menschen das Gefühl, dafür bestraft zu werden, dass sie Schutz suchen. Eine solche Unterbringung steht damit regelmäßig im Widerspruch zum Menschenrecht auf Gesundheit und verunmöglicht es Schutzsuchenden in vielen Fällen aufgrund der daraus resultierenden akuten Belastung, ihren Mitwirkungspflichten im Asylverfahren angemessen nachzukommen.
Wir weisen mit aller Deutlichkeit darauf hin, dass der deutsche Staat gegenüber Menschen im Asylverfahren aufgrund völker- und verfassungsrechtlicher Verpflichtungen eine besondere Schutzpflicht hat, die er insbesondere bei der Unterbringung zu achten hat. Daher sehen wir die geplanten Regelungen in §§ 68 AsylG-E mit großer Besorgnis und verfassungsrechtlichen Bedenken.
§ 68 Absatz 1 AsylG-E sieht vor, dass die nach Landesrecht zuständige Behörde anordnen kann, dass sich eine Person im Asylverfahren nur an einem bestimmten Ort, der zur „Unterbringung von Ausländern“ geeignet ist, aufhalten darf. Zulässig soll eine solche Anordnung sein, wenn dies aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder bei Bestehen einer Fluchtgefahr zur wirksamen Verhinderung einer Flucht erforderlich ist, insbesondere in sogenannten Dublin-Fällen. Übernommen wird hier maßgeblich der Wortlaut aus Artikel 9 Aufnahme-RL, welcher den Erlass einer solchen Regelung ins Ermessen der Mitgliedstaaten stellt.
Bei der in der Regelung angedachten Maßnahme handelt es sich möglicherweise nicht um eine bloße Freiheitsbeschränkung i. S. d. Artikel 104 Absatz 1 GG, sondern um eine Freiheitsentziehung nach Artikel 104 Absatz 2 GG. Hier sei vermerkt, dass die deutsche Übersetzung in Artikel 9 Absatz 1 Aufnahme-RL „nur an einem bestimmten Ort aufhalten darf” lautet, anders die englische Version “is allowed to reside only in a specific place” und die französische Version “qu'un demandeur est autorisé à résider uniquement dans un lieu déterminé”. Nach stRspr des BVerfG ist bei der Unterscheidung auf die Intensität und der Dauer des Eingriffs abzustellen. Eine Freiheitsbeschränkung liegt vor, wenn eine Person durch die öffentliche Gewalt gegen ihren Willen daran gehindert wird, einen Ort aufzusuchen oder sich an einem Ort aufzuhalten, der ihr an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich ist. Der Tatbestand der Freiheitsentziehung kommt demgegenüber nur in Betracht, wenn die tatsächlich und rechtlich an sich gegebene körperliche Bewegungsfreiheit durch staatliche Maßnahmen nach jeder Richtung hin aufgehoben wird.
(Bergmann/Dienelt/Winkelmann/Broscheit, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 62 Rn. 11, beck-online).
Aus dem klaren Wortlaut der Regelung soll sich eine Person nur an einem bestimmten Ort aufhalten können. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass sie nicht nur am Zugang zu einem bestimmten Ort gehindert werden soll, sondern vielmehr ihre körperliche Bewegungsfreiheit durch staatliche Anordnung aufgehoben ist und sich die Person in einer staatlich verwalteten Unterbringung aufhalten muss.
In der Regelung fehlen die u. a. in Artikel 9 Absatz 5 Aufnahme-RL festgelegten Verfahrensgarantien wie die Unterrichtung der betroffenen Person sowie die Überprüfungs- und Anfechtungsmöglichkeit der Anordnung. Trotz des durch diese schwere Form der Freiheitsbeschränkung einhergehenden Grundrechtseingriffs fehlt ein gesetzlicher Richtervorbehalt nach Artikel 104 Absatz 2 GG. Vielmehr ist eine Anhörung der betroffenen Person nach § 68 Absatz 5 Satz 2 AsylG-E gänzlich ausgeschlossen. Auch fehlt eine ausdrückliche Bezugnahme auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip, wie Artikel 9 Absatz 4 Aufnahme-RL fordert und dem deutschen Recht auch bekannt ist, bspw. in § 112 Absatz 1 Satz 2 StPO. Die Beweislastumkehr in § 68 Absatz 2 AsylG-E, dass eine Fluchtgefahr widerleglich vermutet wird, ist darüber hinaus rechtsstaatlich bedenklich. Denn aufgrund der Eingriffsintensität bedarf es einer Prüfung der konkreten Umstände und einer Interessenabwägung im Einzelfall. Aufgrund starker verfassungsrechtlicher Bedenken sollte der deutsche Gesetzgeber nicht von einer Regelung nach Artikel 9 Aufnahme-RL Gebrauch machen. § 68 Absatz AsylG-E ist zu streichen.
Äußerst vorsorglich weisen wir darauf hin, dass es zwar zu begrüßen ist, dass auch bei Eingriffen in die Freiheit der Person nach Artikel 2 Absatz 2 GG besondere Bedürfnisse der einzelnen Person zu beachten sind, wie in § 68 Absatz 5 Satz 3 AsylG-E klargestellt. Demnach ist bei der Anordnung eventuell bestehenden besonderen Bedürfnissen des Ausländers bei der Aufnahme Rechnung zu tragen. Abgesehen von fehlender Rechtsklarheit durch die Verwendung des äußerst unbestimmten Rechtsbegriff “eventuell”, der aufgrund der Eingriffsintensität einer Definition zur Wahrung der Rechtssicherheit bedürfte, lässt die Regelung auch offen, wie und durch wen eine Bedarfsermittlung stattfindet. Dies verdeutlicht erneut, dass es einer rechtlichen Grundlage von Vulnerabilitätsprüfung bedarf (vgl. Identifizierung).
Die Regelungen in §§ 69, 70 AsylG-E zu sogenannten Asylverfahrenshaft stehen aufgrund der Eingriffsintensität außer Verhältnis zu den aufgeführten Zwecken. Sie sind vor dem Hintergrund, dass Menschen sich in einem Verfahren um Anerkennung internationalen Schutzes und nicht in der Strafvollstreckung eines rechtsstaatlich verhängten Strafurteils befinden, verfassungsrechtlich äußerst bedenklich. Kein Mensch darf nach Artikel 1 GG zum bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht werden. Rechtsgrundlagen für präventive gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen finden sich bereits umfangreich in den Polizeigesetzen. Regelungen der Haft, inkl. der rechtsstaatlichen Garantien für inhaftierte Menschen, finden sich u. a. in StPO und Strafvollzugsgesetz (StVollzG) und sollten durch Sondergesetze nicht umgangen werden. Die Eingriffsschwelle staatlichen Handelns sollte sich an den allgemeinen Regeln messen lassen und bei Schutzsuchenden nicht weiter abgesenkt werden. Vielmehr sind Mittel zu prüfen, die die in der Regelung aufgeführten Zwecke gleich geeignet erreichen können. Beispielsweise ist hinsichtlich des in § 69 Absatz 1 Nr. 1 AsylG-E aufgeführten Haftgrund zum Zweck der Identitätsfeststellung das noch effektivere Mittel, nämlich die Möglichkeit, eine Versicherung an Eides statt abzugeben, gesetzlich zu verankern, wie im Koalitionsvertrag festgelegt (Koalitionsvertrag 2021-2025, S. 110).
Die Umsetzung der in Bezug genommenen Artikel 10 bis 12 Aufnahme-RL steht im Ermessen der Mitgliedstaaten. Nach dem Wortlaut „darf” Haft angeordnet werden. Einer Verpflichtung entspricht das nicht. §§ 69, 70 AsylG-E sind daher zu streichen.
Auch hier sei vorsorglich darauf hingewiesen, dass die aus Artikel 13 Aufnahme-RL übernomme Formulierung in § 70a AsylG-E zur Inhaftnahme von Menschen mit besonderen Bedürfnissen hinsichtlich der Einschränkung auf sichtbare Merkmale, Äußerungen oder Verhaltensweisen sachlich nicht nachvollziehbar ist. De facto würde dies zu einem Ausschluss diverser nach der Aufnahme-RL zu schützenden vulnerablen Gruppen führen, da ein Großteil nicht als solche sichtbar ist. Ausführungen zu einer geeigneten Bedarfsermittlung fehlen auch in dieser Norm. Problematisch ist, dass hiervon abhängig ist, ob Haft fortgesetzt wird, Haftbedingungen angepasst werden müssen oder eine Person bei ernsthafter Gefährdung der körperlichen oder psychischen Gesundheit nicht in Haft genommen werden darf.
Die auf Personen mit besonderen Bedürfnissen beschränkte Regelung gemäß § 70a Absatz 2 Satz 2 AsylG-E geht nicht weit genug, da nicht geregelt wird, inwieweit eine erneute Vulnerabilitätsprüfung bei allen inhaftierten Personen stattfindet, sollte sich der Zustand durch die Haft verschlechtern oder besondere Bedürfnisse relevant werden. Auch fehlen konkrete Regelungen zu Zuständigkeit und Verfahren, sodass eine Anspruchsdurchsetzung äußerst erschwert wird. Daneben fehlen Gewaltschutzkonzepte und Unterbringungsvorgaben für besonders vulnerable Personen, bspw. nicht-binäre Personen. Wir weisen nachdrücklich darauf hin, dass eine Inhaftnahme nicht dem Wohl von Kindern und Jugendlichen dienen kann, da diese auch bei kurzen Zeiträumen schwerwiegende Auswirkungen auf ihre psychische und physische Gesundheit haben kann. Eine Verpflichtung zur Umsetzung der Vorgaben in Artikel 13 Absatz 2 Aufnahme-RL ist nicht vorgeschrieben und verstößt gegen Art. 3 und 37 UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK). Die Regelung ist zu streichen.
3.2 Gesundheitliche Versorgung
Die Umsetzung der GEAS-Reform muss bereits bei den Änderungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht wachsenden und entstehenden Schutz- und Versorgungslücken vorbeugen. Dafür müssen im Zuge der gesetzlichen Regelungen zur Identifizierung besonderer Schutzbedarfe (s. o.) als integralen Bestandteil des Identifizierungsprozesses auch die daraus abgeleiteten Versorgungsansprüche, u. a. im AsylblG, verankert werden, wie bereits im Koalitionsvertrag zugesichert (siehe u. a. die Empfehlungen der BAfF an den Gesundheits- und Familienausschuss). Andernfalls drohen vulnerable Schutzsuchende, darunter Überlebende von Folter und schwerer Gewalt, und mit ihnen ggf. ihre ganzen Familien ohne jegliche Versorgung zu verbleiben.
Das Gesetzespaket muss klar regeln, welche Leistungen Personen mit besonderen Schutzbedarfen gewährt werden. Insbesondere der Zugang für Personen, deren besondere Schutzbedarfe eine ärztliche und/oder psychotherapeutische Abklärung und Behandlung erfordern, ist gesetzlich abzusichern. In dem Zuge sind die unverhältnismäßig und sachlich nicht begründbaren hohen Nachweispflichten in §§ 60, 60a AufenthG zu überarbeiten und im Hinblick auf eine mögliche Einreichung psychotherapeutischer Atteste und Stellungnahmen zu erweitern.#
Es ist positiv festzustellen, dass der Gesetzentwurf in § 4 Absatz 4 AsylbLG-E minderjährigen Geflüchteten den gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung wie deutschen Staatsbürger*innen gewährt.
Dies zeigt für leider nur eine betroffene Gruppe, dass die Gesundheitsversorgung von Schutzsuchenden unbürokratisch und bedarfsgerecht geregelt werden kann. Eine solche Regelung hätte für alle besonders schutzbedürftigen Personen geschaffen werden müssen. Dies war so auch im Koalitionsvertrag festgelegt, wird mit diesen Gesetzesentwürfen aber nun einmal mehr nicht umgesetzt. Und das obwohl bereits die sichere Erkenntnis besteht, dass dies gesellschaftlich geboten ist. Studien (z. B. DIW-Studie siehe Wochenbericht 12/2024) zeigen seit Langem, dass es auch effizient ist, wenn der Zugang vollständig gewährt wird. Leistungseinschränkungen führen stattdessen nur dazu, dass ambulante Angebote seltener und Notfallbehandlungen häufiger genutzt werden, was durch rechtzeitige ambulante Behandlungen vermeidbar wäre. Ein Zugang zu der vorhandenen Gesundheitsversorgung und insbesondere von besonders Schutzbedürftigen ist menschenrechtlich geboten. Die Bundesregierung wurde bereits mehrfach von den Vereinten Nationen dafür gerügt, dass Deutschland Asylsuchenden das Recht auf Gesundheitsversorgung verwehrt. So auch in der ausdrücklichen Aufforderung des UN-Komitees zur Konvention gegen Rassismus (ICERD), die Ungleichbehandlung im Zugang zu Sozial- und Gesundheitsleistungen zu beenden (08.12.2023).
Auch das Bundesverfassungsgericht hat schon vor über zehn Jahren entschieden, dass die „Menschenwürde […] migrationspolitisch nicht zu relativieren“ ist (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 - 1 BvL1, 3, 4/09). Der Versuch, die Flucht nach Deutschland zu begrenzen, indem Geflüchteten den Zugang zu notwendiger Gesundheitsversorgung versagt wird, ist also nicht nur unwirksam und unmenschlich, sondern auch verfassungswidrig. Die Verankerung des gesetzlichen Anspruches ist auch zur Umsetzung der Bestimmungen aus der Aufnahme-RL notwendig, denn die Aufnahme-RL gibt klar vor, dass für alle Geflüchteten ein der Charta und internationalen Verpflichtungen entsprechender Lebensstandard und voller Zugang zu Gesundheitsleistungen des Artikel 22 ohne Ausnahme zu gewähren ist (Artikel 23 Absatz 4 Satz 3 AufnahmeRL).
Der vorliegende Gesetzentwurf lässt dazu die entsprechenden Regelungen vermissen. Das behördliche Ermessen und Antragsverfahren, wie nach § 6 AsylblG vorgesehen, ist nicht mit Artikel 22 Absatz 3 Aufnahme-RL vereinbar. Es wurde aber nicht überarbeitet und es fehlt weiterhin der Anspruch auf sogenannte § 6-Leistungen mit Anknüpfung allein an die medizinische Notwendigkeit ohne Beurteilungsspielraum der Behörde. Für Betroffene ist ihr Anspruch entsprechend der Aufnahme-RL weiterhin nicht transparent aus dem AsylbLG erkennbar, was zu Versorgungsdefiziten und Rechtsunsicherheit führt: Für weitere für die Gesundheit unerlässliche Leistungen, so auch Psychotherapien, bestehen aufgrund der Ermessensregelung der zuständigen Behörde erhebliche Hürden – Ablehnungen sind bundesweit die Regel –, auch hier wurde die Gelegenheit verpasst, für einen sicheren Zugang zu sorgen.
Die unklare Rechtslage der reduzierten Gesundheitsleistungen im AsylbLG und der hohe bürokratische Aufwand durch die Leistungserbringer verzögern oder verhindern die Versorgung zu Lasten der Betroffenen. Sozialbehörden werden weiterhin in der Bewilligung von Gesundheitsleistungen restriktiv von ihrem Ermessensspielraum Gebrauch machen – auch bei besonders vulnerablen Geflüchteten, die beispielsweise als Folterüberlebende oder schwer psychisch erkrankte Personen gemäß Aufnahme-RL einen Anspruch auf die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe, einschließlich erforderlichenfalls einer geeigneten psychologischen Betreuung haben. Die Bundesregierung hat zwar bereits 2016 in der Bundestags-Drucksache 18/9009 bestätigt, dass eine Verpflichtung zur europarechtskonformen Auslegung besteht, demnach für besonders schutzbedürftige Asylsuchende das behördliche Ermessen, das bei der Bewilligung von Gesundheitsleistungen im AsylbLG vorgesehen ist, auf null reduziert sein muss. Die Gelegenheiten, dies auch entsprechend im AsylbLG transparent erkennbar umzusetzen, hat sie jedoch – wie erneut mit diesem Entwurf – nicht wahrgenommen. Damit kann der Entwurf letztlich auch den Bestimmungen zur Identifizierung nicht gerecht werden: Der verbindliche Zugang zur Gesundheitsversorgung ist bereits für einen vollständigen Identifizierungsprozess notwendig, insbesondere im Falle zahlreicher körperlicher oder psychischer Erkrankungen.
Der Gesetzentwurf hat zudem der Zuspitzung in der gesundheitlichen Versorgung durch die letzten Änderungen im AsylbLG auch nicht entsprechend der europäischen Vorgaben aus den Richtlinien entgegengewirkt. Die Voraufenthaltszeit, bis eine Versorgung auf dem Niveau des SGB XII erfolgt, ist zuletzt auf 36 Monate verlängert worden. Dies bedeutet drei Jahre lang lediglich Versorgung von “akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen”. Diese Verlängerung baut für die konsequente Berücksichtigung von besonders Schutzbedürftigen zusätzliche Hürden auf und hätte aufgefangen werden müssen, z. B. wie vorgeschlagen wenigstens mit einem erkennbaren Versorgungsanspruch entsprechend der Aufnahme-RL, der unabhängig von Voraufenthaltszeiten greift.
Hinzu kommt, dass der Personenkreis unversorgter Geflüchteter durch die legislative Entscheidung, den Bezugszeitraums der eingeschränkten Gesundheits- und Sozialleistungen auf drei Jahre zu verlängern, plötzlich sehr stark angewachsen ist. Demgegenüber stehen nur sehr wenige Angebote zur Verfügung, die außerhalb der Regelversorgung einen Teil der Gesundheitsversorgung abfangen können und partiell Bedarfe decken. Der Druck auf überhaupt noch vorhandene Angebote wird mit dem fortgesetzten Ausschluss aus der Gesundheitsversorgung folglich auf ein nicht verkraftbares Maß steigen. Die unzureichende Versorgungslage ist bekannt. Die Psychosozialen Zentren für Geflüchtete (PSZ) als potenzielle Ausweichstrukturen konnten bereits vor den Änderungen lediglich 25.000 Klient*innen pro Jahr und damit nur 3,1 % des potenziellen Versorgungsbedarfs decken. Ihre Existenz ist zudem wegen fehlender Bereitschaft auf Länder- und Bundesebene, diese weiter zu finanzieren, akut gefährdet. So wird es von diesen Angeboten zukünftig auch noch weniger geben.
Und auch das von der Bundesregierung eingeführte Instrument der Ermächtigung ist mit den letzten Änderungen de facto außer Kraft gesetzt. Einrichtungen, Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen, die über diese Regelung abrechnen, dürfen Asylsuchende künftig erst nach drei Jahren in die Therapie aufnehmen. Dies hätte eine Berücksichtigung bei der Verankerung der Schutzbedarfe finden müssen, indem die Regelversorgung in die Pflicht genommen wird.
Der Gesetzentwurf setzt zudem die vom BVerfG bereits mehrfach kritisierte Praxis fort, mit Sanktionen die grundrechtlich verbürgten Ansprüche wieder zu entziehen, mit der Intention, Migration zu steuern oder davor abzuschrecken. Für die notwendige Gesundheitsversorgung, insbesondere besonders schutzbedürftiger Personen, ist eine Reduzierung der Leistungen, wie erweiternd vorgesehen in § 1a Absatz 6a AsylbLG-E und § 68 Absatz 6 AsylG-E sowie die Beschränkung auf Sachleistungen in §§ 2 Absatz 2a, 3 Absatz 3a AsylbLG-E, immer schädlich und unverhältnismäßig. Sie taugt ebenso wenig, um die deutschen Verteilungsmechanismen auf zugewiesene Unterkünfte durchzusetzen, denn in der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung wiegt das Recht auf den Schutz von Leben und Gesundheit immer höher.
Bereits zur Identifizierung muss ein niedrigschwelliger Zugang zum Gesundheitssystem unabhängig vom Aufenthaltsstatus gesetzlich verankert werden.
Bedarfsgerechte Versorgung gemäß Aufnahme-RL erfordert eine rechtliche Festlegung in Bezug auf die Leistungsgewährung, damit sich aus identifizierten Bedarfen ein Versorgungsanspruch ableiten lässt (Artikel 25 Absatz 2 S. 2 Aufnahme-RL).
Die Ergänzungen zu Gesundheitsleistungen nach Artikel 22 Aufnahme-RL müssen für die Bedarfe aller besonders schutzbedürftigen Personen verankert werden.
Leistungsumfang und Kostenträger sind gesetzlich eindeutig zu bestimmen für die geeignete psychologische Betreuung für Überlebende von Folter und schwerer Gewalt (Artikel 22, 28 Aufnahme-RL), die Teilhabe- und Pflegeleistungen für Menschen mit Behinderung (Artikel 19 Absatz 2 Aufnahme-RL iVm Artikel 26 GRCh, Artikel 22, Artikel 25 Absatz 2 Satz 2 Aufnahme-RL), Bedarfsgerechte Unterbringung und Gewaltschutz (Artikel 20, Artikel 26 Aufnahme-RL), sowie die Kostenübernahme für erforderliche qualifizierte Sprach- und Kulturmittlung.
Um Verfahren zu entbürokratisieren und eine angemessene Qualität der medizinischen Versorgung sicherzustellen (vgl. Artikel 22 Absatz 1 Satz 3 Aufnahme-RL), muss für alle Geflüchteten flächendeckend die elektronische Gesundheitskarte (eGK) eingeführt werden. Für besonders Schutzbedürftige wäre über diesen Weg auch der europarechtlich garantierte volle Anspruch auf Versorgung sicherzustellen.
Versorgungsansprüche sind derart mit Ressourcen zu hinterlegen, dass sie auch in der Realität durchsetzbar sind (Sprachmittlung, Ausstattung der Leistungsträger, Stabilität für die Angebote von Leistungserbringer).
4. Monitoring
Die Implementierung eines unabhängigen Monitoringmechanismus für das Screening sowie das Asylgrenzverfahren findet zwar in der Gesetzeserklärung mehrfach Erwähnung, ist jedoch bislang nicht gesetzlich verankert. Die Unabhängigkeit der zuständigen Träger, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht abschließend feststehen, sowie ihr Zugang zu allen erforderlichen Stellen ist gesetzlich klar abzusichern. Eine angemessene und nachhaltige Finanzierung des Mechanismus, die bereits in der Konzeptionsphase einsetzt, ist ebenfalls gesetzlich festzuschreiben.
Mitgezeichnet durch
KOK – Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e. V.
LSVD⁺ – Verband Queere Vielfalt e. V.