ERC-Konferenzen vom 16. bis 18.12.2024 in Berlin
Abschlussbericht LSVD⁺

Vieles wurde erreicht: Neue Mitgliedsstaaten wie Brasilien, Kolumbien und Thailand (als erstes asiatisches Land) wurden gewonnen, mit deutscher Unterstützung konnte im Mai 2024 endlich das ERC-Sekretariat eingerichtet werden, sodass die Koalition und ihre Arbeit entscheidend stabilisiert wurden. Zudem konnten neue Organisationen aus verschiedenen Weltregionen für die Mitarbeit gewonnen werden. Auch wurden Kriterien für ein Mitwirken dieser Organisationen erarbeitet: Zusammenarbeit mit den jeweiligen Regierungen, Austausch mit anderen LSBTIQ*-Organisationen oder regelmäßige Mitarbeit in einer der ERC-Arbeitsgruppen.
Zu positiven Entwicklungen wie der Entkriminalisierung von Homosexualität in Singapur, Mauritius oder den Cook Islands sowie der Eheöffnung in Griechenland, Estland, Nepal und Thailand konnten positive gemeinsame Statements veröffentlicht werden. Dennoch sind der weitere Vormarsch der LSBTIQ*-Feindlichkeit und des Rechtspopulismus und eine gemeinsame Gegenstrategie sowie mangelndes Interesse oder Regierungswechsel in einigen der Mitgliedsstaaten große Herausforderungen für die Koalition. Ganz zu schweigen von langfristig fehlenden Finanzen für die Arbeit des Sekretariats oder die Sprachmittlung in den Arbeitsgruppen. Es braucht auch weiterhin proaktive Regierungen, die bereit sind, Verantwortung in der ERC zu übernehmen, etwa beim Co-Vorsitz in den vier Arbeitsgruppen.
Vom 16. bis 18.12.2024 fanden in Berlin die zivilgesellschaftliche Vorkonferenz und die eigentliche ERC-Konferenz statt - zu einer Zeit, in der weltweit die Herausforderungen für LSBTIQ*-Personen zunehmen und die Krisen sich überschlagen. Die globale Anti-Gender-Bewegung gewinnt an Zuwachs und will die errungenen Fortschritte wieder aushöhlen. Angesichts des weltweit steigenden Fundamentalismus, Populismus und der Gefährdung der Demokratien sind Allianzen besonders notwendig.
Beide Konferenzen waren ein großer Erfolg. Dem LSVD⁺ wurde von vielen Aktivist*innen für die Arbeit gedankt, denn die Vorarbeiten waren für den LSVD⁺ ein gewaltiger Kraftakt. An der Vorkonferenz in der mexikanischen Botschaft nahmen am 16.12. mehr als 130 Aktivist*innen aus aller Welt teil. LSVD⁺ und Fundación Arcoiris oblagen inhaltliche Ausgestaltung und Logistik. Themen waren die geleistete Arbeit des Co-Vorsitzes in den letzten beiden Jahren, die Arbeit in den vier Arbeitsgruppen, Ausblick und Empfehlungen für die kommenden Jahre, Umgang mit problematischen autoritären Regierungen und das Problem der fehlenden finanziellen Unterstützung für die ERC durch die Mitgliedsstaaten. Gegenstrategien und mögliche Auswege wurden in mehrsprachigen Workshops gemeinsam erarbeitet. Ein gemeinsames Statement mit Empfehlungen und Forderungen an die Mitgliedsstaaten wurde diskutiert, verabschiedet und auf der Hauptkonferenz im Auswärtigen Amt vorgestellt.
Inhalte, Vorschläge für Referent*innen und Empfehlungen für die zweitätige ERC-Konferenz im Auswärtigen Amt kamen auch aus der Zivilgesellschaft, das Auswärtige Amt lieferte zudem logistische Lösungen und finanzielle Unterstützung. Auch hier ging es um das Ausbreiten von Anti-LSBTIQ*-Gruppen und deren Wirken in aller Welt - zugleich kommt es hier in immer mehr Staaten zunehmende Reibungen mit antidemokratischen und autoritären Politikstilen und Narrativen. Es nahmen über 500 Personen aus über 80 Staaten teil, mehr als 40 Regierungsdelegationen mit mehreren Minister*innen und über 200 Vertreter*innen zivilgesellschaftlicher Organisation waren dabei. Außenministerin Annalena Baerbock hielt eine sehr engagierte, in Teilen auch emotionale Eröffnungsrede, die mit großem Beifall bedacht wurde. Sie betonte Frauen- und LSBTIQ*-Rechte als Minderheitenrechte als Messlatte für den Zustand einer Demokratie. Angesichts des alarmierenden Backlashes müssten alle sich in der internationalen Community beispielsweise auf der Klimakonferenz für Demokratie und Menschenrechte einsetzen, denn es gehe um die Frage einer freien Gesellschaft. Baerbock zeigte sich sehr besorgt angesichts der Häufigkeit queerfeindlicher Angriffe (aktuell ca. alle vier Stunden) und bestätigte ihren Einsatz für die Anpassung von Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz. Darüber hinaus zeigte sie den Zusammenhang zwischen dem Angriffskrieg Putins auf die Ukraine und seine Verbindungen zur globalen Anti-Gender-Bewegung auf. Der Kampf gegen Diskriminierung müsse gegen politische Entwicklungen nachhaltig abgesichert werden. Sie dankte Klaus Jetz und Gloria Careaga für das große Engagement im Rahmen der ERC, versprach zwölf Millionen Euro in den nächsten Jahren für LSBTIQ*-Menschenrechte weltweit aufzubringen und kündigte an, Deutschland werde sich auch künftig in der ERC stark engagieren.
In das umfängliche Programm der zweitätigen ERC-Konferenz kann an dieser Stelle nur ein kleiner Einblick gegeben werden.
In seiner Begrüßungsrede wies Volker Türk, UN-Hochkommissar für Menschenrechte, darauf hin, dass Anti-Gender-Bewegungen sich gegen die Menschenrechte einsetzen. Noch wolle er nicht von einer Bewegung sprechen, sondern eher von Gruppen, die wachsen. Er betonte, dass die Finanzierung für die Menschenrechtsarbeit erhöht werden muss, um den Status Quo zu erhalten. Die LSBTIQ*-Bewegung ist Teil der größeren Menschenrechtsbewegung. Kampagnen mit nur einem Inhalt seien nicht zielführend, es brauche themenübergreifende Bewegungen, in der die eine Gruppe der anderen Unterstützung zusagt und sich für sie einsetzt. Er rief dazu auf, Brücken zu bauen mit den Menschenrechten als Leitbild und betonte die Verantwortung für LSBTIQ*, die aus der Vergangenheit der Verfolgung erwächst. Große und andauernde Anstrengungen seien nötig, um Rechtsschutz in jedem Lebensbereich zu gewährleisten. Die beste Methode, das beste Rezept sei immer, zu zeigen, dass es funktioniere.
Bundesministerin für Familie, Senior*innen, Frauen und Jugend Lisa Paus betonte in ihrer Rede die queerpolitischen Meilensteine des Aktionsplans der Bundesregierung „Queer leben“ und das Selbstbestimmungsgesetz, dessen Verabschiedung von einer schwierigen Debatte begleitet wurde. Die Zivilgesellschaft wisse am besten, was LSBTIQ* brauchen, und durch ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis kam das Gesetz zu Stande. Aber die Regierung sei in dieser Legislaturperiode trotzdem hinter ihren queerpolitischen Versprechen zurückgeblieben. Beim Panel „Thematic Group on National Laws and Policies: National Action Plans to Counter the Anti-gender Movement Leadership & Accountability” wies Sven Lehmann, Queerbeauftragter der Bundesregierung auch auf den ersten bundesweiten Aktionsplan und das Selbstbestimmungsgesetz als große Erfolge der Bundesregierung hin.
Bärbel Kofler, Parlamentarische Staatssekretärin im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) unterstrich im weiteren Verlauf der Konferenz die Bedeutung von Mainstreaming für die Arbeit des Ministeriums. Das BMZ arbeite mit 65 Partnerländern in politischen Dialogen zusammen, aber die eigenen Werte müssten auch auf der eigenen Arbeitsebene umgesetzt werden, so Kofler.
Katja Keul, Staatsministerin im Auswärtigen Amt, moderierte das Panel „LGBTQI+ rights and resilient democracies: the role of foreign policy”. Dort gab Mmpaseka Steve Letsike, früher selbst Queer-Aktivistin und heute stellvertretende Ministerin für Frauen, Jugend und Menschen mit Behinderung, Einblicke in die sozialen Kämpfe des ehemaligen Apartheid-Staates Südafrika. Dessen queerfreundliche Verfassung kam allein auf Druck der Zivilgesellschaft, besonders der Anti-Apartheitsbewegung und der LSBTIQ*- Bewegung, zustande. Die Diskrepanz zwischen den schönen Gesetzen und den harten und gewaltvollen Lebensumständen sei schwer zu ertragen, von Gewalt und Diskriminierung betroffen seien vor allem ärmere Schwarze Frauen und weiblich gelesene Personen. Als Antwort auf die furchtbaren Fakten, sexuellen Gewalttaten an lesbischen und anderen Frauen*, die perfiderweise „korrigierende Vergewaltigungen“ genannt werden, habe die Regierung jüngst einen „Corrective rape national strategic plan“ aufgestellt. Einige Länder wie Botswana, Lesotho, Mauritius und Namibia haben Straffreiheit für LSBTIQ* erreicht, das bedeute einen Fortschritt in Afrika, und es sei wichtig, den Erfolg dieser afrikanischen Länder an dieser Stelle zu loben. Die treibende Kraft für die Anti-Gender-Bewegung seien nicht die afrikanischen Länder selbst, sondern die religiösen Fundamentalisten. Der Antrieb für die Anti-Gender-Bewegung stamme aus dem kolonialen Erbe. Südafrika sei als Beobachter (noch) nicht Mitglied der ERC, erwäge aber aktiv einen Beitritt zur ERC.
Eine Aktivistin aus Georgien erzählte, wie das Land viele Jahre ein Vorbild war und sich demokratisch und europäisch entwickelte. Es sei tragisch, dass sie es seit zwei Jahren mit der Verwandlung in ein autoritäres Regime zu tun hätten, das einen regelrechten Wasserfall an antidemokratischen Gesetzen erlasse. Als Teil populistischer Manipulation und Polarisierung würden LSBTIQ* strategisch benutzt, um die Gesellschaft zu spalten. Kenita Placida von der Eastern Caribbean Alliance for Diversity and Equality aus St. Lucia wies auf die Resilienz der Community angesichts der Gewalt und auf den kolonialen Bezug der Anti-queeren-Gesetzgebungen weltweit hin. Die sexuelle Orientierung sei auf St. Lucia durch die Antidiskriminierungsgesetzgebung abgedeckt, aber die kulturellen und sozialen Normen haben sich noch nicht geändert. Strategische Prozessführung sei sehr wichtig, in Kombination mit strategischer Kommunikation – dazu wäre auch ein Verbandsklagerecht wichtig. Zudem sei für die Community Selbstfürsorge als Absicherung besonders in stürmischen Zeiten von Bedeutung.
Der „Roundtable Crisis Point: Addressing the Rights and Dignity of Trans & Gender Diverse People“ befasste sich mit der Frage, wie transsexuelle und geschlechtsspezifische Menschen über alle regionalen, religiösen und kulturellen Grenzen hinweg kriminalisiert werden. Kenya Cuevas Fuentes, Casa de las Muñecas Tiresias, eine Aktivistin aus Mexiko, gab Einblicke in ihre Arbeit. Die Organisation hat eine Unterkunft für trans* Frauen gegründet (in vier Jahren wurden über 350 Frauen Unterkunft gewährt). Gewalt ist historisch gewachsen, Rechtslosigkeit zieht sich durch alle Lebensbereiche. Arbeitslosigkeit führt zu gesellschaftlichem Ausschluss, Sexarbeit sei für viele die einzig mögliche Arbeit. Zentrales Anliegen: Grundwissen/Bildung über Trans*sein vermitteln. Die Zusammenhänge zwischen Diskriminierung, Gewalt, Suchterkrankung und Kriminalisierung wegen Identität, Sexualität, Arbeit und Konsum werden deutlich. Mexiko kämpft für ein Monitoring für Trans*femizide. Gesetze zu Femiziden müssen auch explizit und regelmäßig auf Morde an trans* Frauen angewandt werden.
Clayton Mercieca, Regierungsvertreter von Malta betonte, wieviel Bedeutung Einzelpersonen zukommt, die Unrecht erfahren, dagegen mittels strategischer Prozessführung vorgehen und dadurch gesetzliche Veränderungen erwirken. Nicht-binäre Menschen erhalten in Malta die volle Anerkennung ihres Geschlechts, Malta hat ein Gesetz, das Konversionstherapien verbietet und unterstützt international die Klage der EU-Kommission gegen Ungarn. Eine trans* Aktivistin aus Pakistan, gab einen historischen Überblick über die Entwicklung von trans* Rechten in Pakistan seit der Kriminalisierung im Jahr 1871 und wies auf die Verknüpfung von Transfeindlichkeit und Kolonialismus hin. Ymania Brown von TGEU (Transgender Europe) betonte den Missbrauch von Religion, um LSBTIQ*-Feindlichkeit zu rechtfertigen und äußerte Kritik am gängigen Diversity-Begriff, denn Europas Ansatz sei "top-down“. In Europa hänge die Anerkennung von mehr als zwei Geschlechtern zeitlich deutlich hinterher, denn in vielen indigenen Communitys seien sie seit tausenden Jahren anerkannt – diese werden aber von UN-Texten zum Thema oft nicht erreicht, weil sie nicht in ihren Sprachen verfügbar sind. TGEU verantwortet das Trans Murder Monitoring Project, es zeige, dass trans* Sexarbeitende einen großen Anteil der Mordopfer ausmachen, wie TGEU feststellte.
Beim Panel „LGBTQI+ inclusive crisis and humanitarian response“ verwies Paul Jansen von Outright International auf einen Report von Outright International. Ein wesentliches Ergebnis des Berichtes sei die Tatsache, dass LSBTIQ* im „System“ (mit öffentlichen Mitteln finanzierte Programme) oft nicht mitgedacht werden. Das gelte beispielsweise besonders für Regenbogenfamilien mit trans* Elternteilen. Außerdem gebe es häufig im Fall positiver Gesetzgebung Diskrepanzen bei der Umsetzung in die Praxis. Hier bedürfe es mehr Trainings und eines Monitorings. Zudem müssen CSOs häufiger zusammenarbeiten, um ihren Forderungen ein stärkeres Gewicht zu geben.
Aylar Rezaee vom LSVD⁺ beschrieb die Situation in Afghanistan, die deutlich mache, wieso LSBTIQ*-Gemeinschaften bei Krisen und humanitären Maßnahmen einbezogen und besonders berücksichtigt werden müssten. Sie erwähnte positiv die Rolle von Großbritannien, Kanada und Deutschland. Außerdem lobte sie die Lobbyarbeit des LSVD⁺ für die Inklusion von LSBTIQ* beim Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan (BAP) und die Notwendigkeit der Weiterführung desselben. Sie forderte die deutsche Regierung zur Fortführung des Projekts auch unter politischem Druck auf und andere ERC-Länder, sich dem Beispiel der drei Länder anzuschließen. Außerdem forderte sie, die Taliban für ihre Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Eine Aktivistin der Unión Afirmativa beschrieb die Situation in Venezuela. Das Land hatte bisher schon keine Schutzrechte für LSBTIQ*, und in den letzten Jahren nimmt die Diskriminierung in der Praxis zu. CSOs im Land waren und sind schwach, was vor allen Dingen an mangelnder Finanzierung liegt. Das Land befinde sich in einer komplexen Menschenrechtskrise. Mehr als acht Millionen Menschen haben das Land verlassen. Ihre Organisation hat einen Ratgeber über den Schutz von LSBTIQ*veröffentlicht. Dieser Ratgeber soll anderen CSOs im Land im Umgang mit queeren Menschen helfen. Sie fordert Förderländer auf, die Umstände vor Ort bei der Vergabe von Mitteln zu berücksichtigen und die Anforderungen anzupassen.
Der zweijährige ERC-Vorsitz, die Abschlusskonferenzen in Berlin und die erfolgreiche Staffelübergabe haben das Ansehen des LSVD⁺ bei unseren Kooperationspartnern in aller Welt gesteigert. Zudem wurden viele neue Arbeitskontakte geknüpft. Auch hier bleiben wir künftig am Ball!
Klaus Jetz, Geschäftsführer der Hirschfeld-Eddy-Stiftung
Kerstin Thost, Pressesprecher*in des LSVD⁺