Reproduktive Gerechtigkeit – Für Entkriminalisierung, rechtliche Absicherung und sichere Versorgung
Beschluss des LSVD+ - Verbandstags 2025

Der LSVD⁺ spricht sich für die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafgesetzbuches aus. Stattdessen sollten Schwangerschaftsabbrüche im Schwangerschaftskonfliktgesetz geregelt werden. Schwangerschaftsabbrüche, die innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen oder wenn eine medizinische oder kriminologische Indikation vorliegt, erfolgen, sind als rechtmäßig zu betrachten. Der Verband positioniert sich für eine Streichung der Beratungspflicht als Voraussetzung und für die Übernahme der Kosten eines Abbruchs durch die gesetzlichen Krankenkassen.
Zum Hintergrund:
Körperliche, gesundheitliche, geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung sind Kernthemen des LSVD⁺. So arbeiten wir seit Jahren zum Recht auf angemessene, diskriminierungsfreie Gesundheitsversorgung von Menschen mit HIV oder AIDS und für trans*, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen, setzen uns für die Rechte von Sexarbeiter*innen ein und sind aktiv gegen Konversionsmaßnahmen. Auch die reproduktiven Rechte queerer Menschen sind seit langem Teil unserer Arbeit: Der LSVD⁺ tritt ein für die Gleichbehandlung bei Zugang zu und Finanzierung von Kinderwunschbehandlungen, für das Ende der Diskriminierung queerer Familien im Abstammungsrecht und für Entschädigungen für trans* und intergeschlechtliche Personen, die aufgrund der Regelungen des TSG oder der operativen Praxis an intergeschlechtlichen Personen sterilisiert wurden. Für die Arbeit des Verbandes ist es sinnvoll, all diese Themen als explizit miteinander verknüpft zu begreifen und im Kontext der Forderung nach reproduktiver Gerechtigkeit zu verorten. Dazu gehört auch, Leerstellen in der eigenen Arbeit kritisch zu reflektieren.
Der LSVD⁺ hat sich bislang nicht zum Recht auf Schwangerschaftsabbruch positioniert. Aber auch queere Menschen werden ungewollt schwanger und benötigen in dieser Situation zuverlässige Informationen und angemessene medizinische Versorgung. Zugleich betrachten wir das Recht auf Schwangerschaftsabbruch im Kontext 1. menschenrechtlicher Gewährleistungen, 2. reproduktiver Gerechtigkeit und 3. seiner Bedeutung für die Demokratie (vgl. Policy Paper Schwangerschaftsabbrüche neu denken: Eine historische Chance für Reproduktive Gerechtigkeit).
Status quo: Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen
Schwangerschaftsabbrüche stehen in Deutschland seit 1871 im Strafgesetzbuch (StGB) und sind dort als eine der „Straftaten gegen das Leben“ im gleichen Abschnitt wie Mord und Totschlag zu finden: „Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“ (§ 218 Abs. 1 S. 1 StGB). Dennoch sind im StGB drei Modelle vorgesehen, nach denen Abbrüche durchgeführt werden können. § 218a Abs. 1 StGB regelt die Voraussetzungen der sog. Fristen- oder Beratungslösung. Dazu muss der Abbruch innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen, nach der Teilnahme an einem institutionalisierten Beratungsgespräch und einer anschließenden Drei-Tages-Frist stattfinden. Außerdem gibt es die sogenannte kriminologische sowie die medizinisch-soziale Indikation. Gemäß § 218a Abs. 2 und 3 StGB kann die Rechtswidrigkeit des Schwangerschaftsabbruchs entfallen, wenn die Schwangerschaft durch eine Vergewaltigung entstanden ist. Dasselbe gilt, wenn der Abbruch der Schwangerschaft zur Abwendung der Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der psychischen oder physischen Gesundheit der schwangeren Person notwendig ist.
Diese Rechtslage geht wesentlich auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993 zurück. In der DDR war der Schwangerschaftsabbruch bereits seit 1972 bis zur zwölften Schwangerschaftswoche ohne weitere Voraussetzungen möglich. Die mit der Wiedervereinigung vorgesehene Entkriminalisierung scheiterte jedoch vor dem Bundesverfassungsgericht, das eine grundsätzliche „Austragungspflicht“ festlegte. Dadurch ist eine widersprüchliche Rechtslage entstanden: „Austragungspflicht“ und Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch unter Beratungslösung schließen sich eigentlich logisch aus. Das führt zu Rechtsunsicherheit bei ungewollt Schwangeren und Ärzt*innen.
Im Jahr 2023 wurden in Deutschland 106.218 Schwangerschaftsabbrüche gezählt. Es gab keine Abbrüche, die nach einer kriminologischen Indikation erfolgten, 3,8 % erfolgten nach medizinisch-sozialer Indikation und entsprechend über 96 % nach der sogenannten Fristen- oder Beratungsregel.
Schlechte Versorgungslage
Dass Schwangerschaftsabbrüche nach wie vor grundsätzlich strafbar und nur unter bestimmten Bedingungen straffrei sind, wirkt sich auf die Versorgungslage sowie die Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen aus und befördert die gesellschaftliche Tabuisierung von Abbrüchen sowie die Stigmatisierung von Personen aus, die einen Abbruch benötigen.
Die Kosten von ca. 350-700 Euro für einen Abbruch sind nach der Fristenlösung grundsätzlich von der schwangeren Person selbst zu tragen. Eine Übernahme der Kosten durch die gesetzlichen Krankenkassen ist explizit ausgeschlossen. Bei nachgewiesener Bedürftigkeit kann gemäß § 19 Abs. 2 SchKG eine Kostenübernahme durch die Länder erfolgen, wobei die pauschale Einkommensgrenze seit Juli 2024 bei 1446,8 Euro netto liegt und die Übernahme vor dem Abbruch beantragt werden muss. Alle, deren Einkommen über dieser Grenze liegt, müssen den vollen Betrag zahlen. Dazu können Reisekosten kommen, wenn die durchführenden Ärzt*innen nicht in der Nähe sind.
Da Schwangerschaftsabbrüche keine Kassenleistung sind, wird zunehmend argumentiert, dass öffentliche Krankenhäuser nicht „gezwungen“ werden können, Abbrüche vorzunehmen. Kirchliche Einrichtungen berufen sich auf ihre Religionsfreiheit. § 12 Abs. 1 SchKG entlässt alle Ärzt*innen aus der Pflicht: „Niemand ist verpflichtet, an einer Abtreibung mitzuwirken.“ Diese ›Gewissensklausel‹ hat konkrete Auswirkungen auf die medizinische Ausbildung: Die Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen wird in der medizinischen Ausbildung nicht gelehrt.
All dies führt zu einer prekären medizinischen Versorgungslage. Gemäß § 13 SchKG sind die Bundesländer in der Pflicht, ein ausreichendes Angebot ambulanter und stationärer Einrichtungen zur für Schwangerschaftsabbrüche sicherzustellen. Davon sind viele Regionen jedoch weit entfernt.
Warum positioniert sich der LSVD⁺ zum Thema?
- Menschenrechtliches Gebot
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993 wird aufgrund der internationalen menschenrechtlichen Entwicklungen der letzten 30 Jahre inzwischen als veraltet betrachtet. So empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) seit 2022 die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs ohne weitere Voraussetzungen. Laut WHO führen restriktive Gesetze nicht zu weniger Schwangerschaftsabbrüchen oder höheren Geburtenraten, sondern dazu, dass Abbrüche unsicher durchgeführt werden.Der Ausschuss zur UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW) rügt Deutschland regelmäßig für die aktuelle Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. 2021 hat der Europarat Polen dazu aufgefordert, klare und wirksame Verfahren zu schaffen, um „Zugang zu einer legalen Abtreibung“ zu ermöglichen. Das Europäische Parlament fordert die EU-Mitgliedstaaten zur vollen Verwirklichung sexueller und reproduktiver Rechte auf. Dazu gehört ein allgemeiner Zugang zu sicheren und legalen Schwangerschaftsabbrüchen und die Rechtmäßigkeit des Abbruchs der frühen Schwangerschaft.
In Deutschland hat eine von der Bundesregierung eingesetzte, interdisziplinäre Expert*innenkommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs bis zur zwölften Woche und darüber hinaus bei einer medizinischen oder kriminologischen Indikation empfohlen.
Als Menschen- und Bürgerrechtsverband setzt sich der LSVD⁺ nicht nur weltweit, sondern auch in Deutschland für die Wahrung grundrechtlich verbürgter Selbstbestimmung und die Gewährleistung angemessener gesundheitlicher Information und Versorgung ein.
- Schwangerschaftsabbrüche im Kontext reproduktiver Gerechtigkeit
Ob individuelle Rechte praktisch verwirklicht werden können, hängt immer auch von den Strukturen ab, in denen sie gelebt werden. Diese (sozialen und gesellschaftlichen) Strukturen adressiert das Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit und verbindet die Forderungen nach individueller reproduktiver Autonomie mit der nach sozialer Gerechtigkeit. Reproduktive Gerechtigkeit umfasst auf struktureller Ebene die Forderungen nach Selbstbestimmung in Bezug auf Sexualität, Schwangerschafts- und STI-Verhütung, Schwangerschaftsabbrüche, aber auch Familienplanung und den Anspruch, Kinder in wirtschaftlicher Stabilität, ohne Diskriminierung sowie in gleichberechtigten Partner*innenschaften oder Mehrelternschaften großzuziehen.
Die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen trifft marginalisierte Personen besonders: Menschen mit Behinderung, mit ungesichertem Aufenthalt oder queere Personen erleben häufig ohnehin Diskriminierung und eine schlechtere Versorgung im Gesundheitswesen. Zudem hat eine Studie im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) festgestellt, dass infolge finanzieller Prekarität die Zahl der ungewollten Schwangerschaften sowie die der Schwangerschaftsabbrüche bei Sozialleistungsbezieher*innen fast dreimal so hoch ist wie bei Nichtbezieher*innen. Kriminalisierung verschärft soziale Ungleichheit. In den 1960er- und 70er Jahren reisten ungewollt Schwangere aus Deutschland, die über die entsprechenden Ressourcen verfügten, in die liberaleren Niederlande, um dort einen Abbruch vornehmen zu lassen. Ein solches Ausweichen in andere Rechtsordnungen ist jedoch nicht für alle Personen möglich.
Menschen, die ungewollt schwanger werden, benötigen hinreichende Informationen, Beratung und professionelle medizinische Versorgung statt Stigmatisierung und Bestrafung. Im Sinne reproduktiver Gerechtigkeit sollten Schwangerschaftsabbrüche jetzt außerhalb des Strafgesetzbuches geregelt und die Kosten für alle Personen übernommen werden. - Demokratie
Reproduktive Rechte sind unmittelbar mit dem Erhalt von Demokratie und rechtsstaatlichen Prinzipien verknüpft. Die Einschränkung der Rechte queerer Menschen sowie des Rechts auf reproduktive Selbstbestimmung sind häufig die ersten Maßnahmen rechter Politik, wie wir in Polen, Ungarn oder den USA beobachten können. Im nationalsozialistischen Deutschland stand die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen als „Angriffe auf Rasse und Erbgut“ unter Todesstrafe. Die Verfolgung von LSBTIQ* und Personen, die Schwangerschaftsabbrüche in Anspruch genommen hatten, lag bei derselben Polizeiabteilung – der sogenannten „Reichszentrale zur Bekämpfung von Homosexualität und Abtreibung“. Die Kontrolle der Sexualität der Bevölkerung und die Abwertung von allem, das vom Idealbild der Nationalsozialist*innen abwich, verband beides. Heutige sogenannte Abtreibungsgegner*innen propagieren meistens auch ein heteronormatives Familienbild und verurteilen Queerness, wie etwa die Organisator*innen der „Demo für Alle“. Antifeministische, frauenfeindliche und queerfeindliche Bewegungen haben große inhaltliche und personelle Überschneidungen. Solidarische Netzwerke, die sich gemeinsam gegen Antifeminismus und Queerfeindlichkeit stellen, sind in diesen politischen Zeiten unerlässlich. Eine Positionierung zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs ermöglicht es dem LSVD⁺, sich breiteren solidarischen Bündnissen anzuschließen.
Weiterlesen:
- Policy Paper Schwangerschaftsabbrüche neu denken: Eine historische Chance für Reproduktive Gerechtigkeit
- Bericht der Kommission zur Reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin
- Rechtliche Regulierung von Reproduktion in Deutschland
[beschlossen auf dem 37. LSVD+-Verbandstag am 06.04.2025 in Berlin]