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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Queer und Frei Sein

Schritt für Schritt zur Selbstbestimmung

Doris und viele, viele andere Menschen suchen jedes Jahr ihr Glück auf Wanderwegen, Pilgerstrecken oder anderen Pfaden durch Landschaften auf der ganzen Welt. Dass die Natur, besonders von queeren Menschen als identitätsstiftender Ort verstanden und genutzt wird, kommt nicht von ungefähr.

Einen Fuß vor den anderen setzen. Immer weiter und weiter. „Ich fühle mich beim Reisen wie in meinem Alltag: frei. Ich bin ich selbst. “Doris ist lesbisch, lebt in Lindenberg im Allgäu, einem kleinen Ort im Südwesten Bayerns, und liebt das Pilgern. Von ihrem Wohnort aus sind es nur wenige Kilometer zum Bodensee, nach Baden-Württemberg oder Österreich. Sie ist in ihrem Leben schon viele Schritte gegangen. Von 1993 bis 1995 lebte sie in Neuseeland und war überrascht von der offenen und freien Lebensweise Homosexueller dort. In einem Land, das auf viele oft abgeschieden wirkt, waren Homosexuelle freier, als Doris es sich je vorstellen konnte. Auf dem „Heaphy Track“, einem Wanderweg an der Westküste Neuseelands, stieß diese Offenheit viel in ihr an.

„Mir war klar, dass ich mit genau diesem Lebensgefühl nach Deutschland zurückkehren und künftig genauso mit meinem Les­bisch­-Sein umgehen werden würde.“

Seit ihrer Rückkehr in den 11.000-Seelen-Ort Lindenberg in Südbayern bedeuten ihr die Begriffe Freiheit und Selbstbestimmung sehr viel. Sie fühlt sich im Alltag frei, ist in den letzten Jahren auf verschiedenen Wegen durch die Landschaften Süddeutschlands und Österreichs gepilgert und schaut voller Stolz und Glück auf ihre Fußstrecken zurück.

Doris und viele, viele andere Menschen suchen jedes Jahr ihr Glück auf Wanderwegen, Pilgerstrecken oder anderen Pfaden durch Landschaften auf der ganzen Welt. Dass die Natur, besonders von queeren Menschen als identitätsstiftender Ort verstanden und genutzt wird, kommt nicht von ungefähr. Es gibt wenige Orte des Lebens, an denen sich queere Menschen frei und selbstbestimmt bewegen können. Ist doch der Alltag zu oft von Einschränkungen und Anpassungsdruck bestimmt. Vom Sich-Erklären, Sich-Recht­fertigen. Vom Sich-Verteidigen. Für viele Menschen bedeutet all das Unfreiheit. Weil sie nicht einfach so leben können, wie es ihnen entspricht. Und dann ist da noch die Angst. Die Angst und Sorge um das eigene seelische und körperliche Wohl, in einem Land, das zwar im Grundgesetz Gleichheit vor dem Gesetz, jedoch keinen Schutz vor gewalttätigen Übergriffen und Ausgrenzung garantiert.

Queeres Leben und queere Kultur sind in besonderem Maße und untrennbar an den Begriff der Freiheit gekoppelt. Seit je her ging es in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Kämpfen der queeren Community um das Auflehnen gegen fehlende Freiheit. Vorenthaltene Freiheit, die anderen zeitgleich gegeben wurde.

Seitdem ist die rechtliche Gleichbehandlung aller Geschlechter und Identitäten der wichtigste Maßstab für politische Forderungen der Community. Dass dies eher keine Frage von Freiheit, sondern eine Gerechtigkeitsfrage ist, wird zu oft nicht sichtbar.

Menschen müssen frei sein, um gestalten zu können. Auch um über bestehende Konzepte und Normen hinaus zu denken. Sie müssen frei sein, um sich an Entscheidungen zu beteiligen und Verantwortung für andere zu übernehmen. Dazu bedarf es zum einen der Gesellschaft, in der niemand wegen seiner sexuellen oder geschlechtlichen Identität angegriffen wird. Zum anderen braucht es die Selbstermächtigung queerer Menschen, damit sie eine Stimme haben, die gehört, anerkannt und mal erinnert werden wird.

Viele Menschen suchen jedes Jahr auf verschiedenen Wegen dieser Welt nach Freiheit. Diese Wege führen sie an Orte der Kunst, in Großstädte, in die Literatur, auf Partys, in die Liebe, in Parteien und Parlamente, in die Natur.

Viele von ihnen suchen nach Freiheit für sich selbst.
Und viele suchen nach Freiheit für sich und andere.

Markus Apel, LSVD Bayern

Markus traf auf einer Pilgerreise im Raum München auf eine Bekannte von Doris. Sie vermittelte den Kontakt.

Der Beitrag erschien auch in der neuen Ausgabe der LSVD-Zeitschrift respekt! vom Februar 2021.

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