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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

„Die LSBT+ -Gemeinschaft ist zum Hauptinstrument der politischen Führung geworden, um die Aufmerksamkeit von echten Problemen abzulenken“

Interview mit Amir Mukambetov von Kyrgyz Indigo, Kirgisistan.

Amir Mukambetov ist ein LSBT+ -Aktivist, Menschenrechtsverteidiger, Pro–Feminist und queerer Muslim aus Kirgisistan. In 2020 nahm Amir am dreimonatigen CrossCulture Programm des Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) teil, mit dem LSVD als Gastgeber. Wegen der COVID-19 Einschränkungen waren wir „virtuell“ Gastgeber von Amir.

Aktivist Amir Mukambetov auf einem CSD

Amir Mukambetov ist ein LGBT+ -Aktivist, Menschenrechtsverteidiger, Pro-Feminist und queerer Muslim aus Kirgisistan.

Kirgisistan, ein Land in Zentralasien mit mehr als sechs Millionen Einwohnern, grenzt an seine größten Nachbarn, Kasachstan und China. Amir lebt in Bischkek, der kirgisischen Hauptstadt und der größten Stadt des Landes mit über einer Million Einwohnern.

Seit acht Jahren arbeitet Amir für die Organisation Kyrgyz Indigo, eine LGBT+ -Grassroot-Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, die kirgisische LGBT + -Gemeinschaft zu schützen und zu unterstützen. Er studierte Journalismus und hat einen Master in Internationalem Recht.

Von September bis November 2020 nahm Amir am CrossCulture Programm (CCP) des ifa teil, einer in 1917 in Deutschland gegründeten Mittlerorganisation für den internationalen Kulturaustausch.

Die Teilnehmenden des CCP absolvieren eine dreimonatige praktische Ausbildung in Gastorganisationen in Deutschland, wie zum Beispiel dem LSVD. Im Rahmen der Praxisaufenthalte in den Gastorganisationen vertiefen die Teilnehmenden ihre Fachkenntnisse und erwerben interkulturelle Kompetenzen. Die Gastorganisationen wiederum profitieren vom Fachwissen, den regionalen Kenntnissen und Netzwerken der Stipendiatinnen und Stipendiaten. Aufgrund der aktuellen COVID-19-Beschränkungen war der LSVD während seines CCP-Stipendiums „virtuell“ Gastgeber von Amir.

Im folgenden Interview sprach Guido Schäfer mit Amir über Kirgisistan und die Situation der LGBT+ -Gemeinschaft in seinem Land. Guido vertritt die Hirschfeld-Eddy-Stiftung in Deutschland, die Menschenrechtsstiftung des LSVD.

Nach den Parlamentswahlen Anfang Oktober wurden auch in Deutschland in den Nachrichten über Kirgisistan berichtet. Die Proteste des kirgisischen Volkes und die Unruhen im Land führten zu einem neuen - nicht gewählten - Premierminister. Was ist passiert?

Tatsächlich fanden am 4. Oktober 2020 Wahlen zum Parlament des Landes statt. Diese Wahlen gingen einher mit großen Verstößen gegen demokratische Werte. Es gab gekaufte Stimmen, staatliche Stellen wurden für den Wahlkampf eingesetzt, Daten wurden gefälscht und, infolgedessen, hat ein Trio regierungsnaher Parteien die Wahlen gewonnen. Dieses Ergebnis verursachte Unruhen in der Bevölkerung und schließlich eine weiteren Revolution, die dazu führte, dass Menschen, die erst kürzlich inhaftiert worden waren, an die Macht kamen. Der amtierende Präsident trat zurück.

Der neue Premierminister ist jetzt Sadyr Dschaparow. Anstatt erneut Parlamentswahlen abzuhalten, hat er beschlossen, nunmehr Präsidentschaftswahlen und ein Referendum über eine neue Verfassung abzuhalten, die Änderungen vorsieht, die unser Land von einem parlamentarischen zu einem präsidialen Staat umwandeln mit nahezu unbegrenzter Macht für den Präsidenten. Aufgrund der Tatsache, dass die Gesetze ständig systematisch verletzt wurden, bestehen große Zweifel an der Legitimität des derzeitigen Regimes und den geplanten Verfassungsänderungen.

War der letzte Wahlkampf von der Situation von LGBT+ im Land beeinflusst?

Zweifellos ist die LGBT+ -Gemeinschaft im Land in den letzten Jahren zum Hauptinstrument der politischen Führung und der Behörden geworden, um die Aufmerksamkeit von echten Problemen abzulenken. Parlamentswahlen waren dabei keine Ausnahme. Regierungsnahe Parteien nutzten das Thema LGBT+ gegen neue politische Parteien, die für demokratische Werte eintreten und die Menschenrechte fördern. Aus diesem Grund haben wir im Namen der LGBT+ -Plattform in Kirgisistan eine Erklärung abgegeben, dass die LGBT+ im Land mit keiner Partei zusammenarbeiten oder diese unterstützen, in der Hoffnung, dass die regierungsnahen Parteien ihre Angriffe stoppen.

Ungefähr eine Woche vor den Wahlen wurde jedoch in allen sozialen Netzwerken ein Videoclip veröffentlicht, in dem die neuen politischen Parteien beschuldigt und zwei männliche Studenten einer der Universitäten des Landes beim Sex gezeigt wurden. Im Video wurde erklärt, dass Schwule das Land korrumpieren, indem sie unter dem Deckmantel von Demokratie und Menschenrechten für westliche Werte einträten.

In einer solchen Situation ist es wohl schwierig, sich öffentlich für LGBT+ einzusetzen. Wie ist denn die Rechtslage und wie ist das Leben für queere Menschen in Deinem Land?

In Kirgisistan werden LGBT+ nicht kriminalisiert. Tatsächlich gab es bereits 1998 eine Entkriminalisierung. Trotz dieser positiven Entwicklung versuchte die Regierung vor ein paar Jahren ein „Gesetz über schwule Propaganda“ einzuführen, welches das Parlament aber nach einer Mobilisierung der Zivilgesellschaft mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft letztlich ablehnte. Kirgisistan ist ein überwiegend muslimisches Land. Religiöse Führer und Institutionen machen hin und wieder negative Aussagen über LGBT+. Ich würde aber sagen, dass Übergriffe durch die Gesellschaft nicht so oft vorkommen. Da der Staat LGBT+ jedoch häufiger als Instrument einsetzt, verbessert sich die öffentliche Meinung zu LGBT+ nicht wirklich. Exekutivorgane, wie z.B. die Polizei handeln manchmal homo- und transphob.

Wie arbeitet Kyrgyz Indigo im Allgemeinen und gibt es nach den jüngsten Vorfällen konkrete Pläne?

Unsere Organisation bietet viele verschiedene Dienstleistungen an, beispielsweise zur Gesundheit und psychologische und rechtliche Unterstützung. Bei Bedarf bieten wir Schutzräume. Darüber hinaus bieten wir Schulungen zum Thema Kapazitätsaufbau und Interessenvertretung an.

Trotz großer Erfolge in der Vergangenheit bei der Demokratisierung und der Förderung der Menschenrechte besteht für das Land aktuell ein hohes Risiko, in naher Zukunft alles zu verlieren. Es könnte sein, dass LGBT+ erneut kriminalisiert werden. Daher ist die aktuelle Situation sehr kritisch und instabil. Es ist für uns derzeit sehr schwierig, eine Strategie für unser zukünftiges Engagement zu entwickeln. Wir werden jedoch weiterhin unsere Dienstleistungen erbringen und mit unseren Aktivitäten und Schulungen fortfahren. Wenn die Situation klar und hoffentlich besser wird, wollen wir uns für ein Antidiskriminierungsgesetz einsetzen, das auch LGBT+ einschließen soll. Wenn die neue Regierung darauf abzielt, LGBT+ zu kriminalisieren, werden wir alles tun, um dem entgegenzuwirken.

Was erwartet Kyrgyz Indigo in politischer Hinsicht und im Hinblick auf die entwicklungspolitische Zusammenarbeit aus Deutschland oder auf europäischer Ebene?

 Ich möchte die gesamte internationale Gemeinschaft auffordern, auf unser Land zu achten und zur Wahrung der Demokratie beizutragen. Es wäre hilfreich, wenn die ausländischen Regierungen, wie die deutsche und die EU, sowie internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen ihre Bedenken äußern und Druck auf die derzeitige kirgisische Regierung ausüben würden, den Weg der Demokratie nicht zu verlassen.

Danke, Amir.

Übersetzung aus dem Englischen