(Selbst)Bezeichnungen für intergeschlechtliche Menschen: Dem Unbekannten einen Namen geben
Drittes Faktenpapier zu Intergeschlechtlichkeit
Hier dokumentieren wir das dritte Faktenpapier "Dem Unbekannten einen Namen geben – (Selbst)Bezeichnungen für intergeschlechtliche Menschen" des Vereins Intergeschlechtliche Menschen. Die insgesamt sechs Broschüren "Fakten zu Intergeschlechtlichkeit" des Vereins Intergeschlechtliche Menschen entstehen seit 2020 im Rahmen des Kompetenznetzwerkes "Selbst.verständlich Vielfalt" und können dort auf der Webseite auch als pdf kostenlos heruntergeladen werden.
Für das Kompetenznetzwerk hat der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) gemeinsam mit dem Bundesverband Trans* und der Akademie Waldschlösschen die "Demokratie leben!" Förderung erlangt. Der Verein Intergeschlechtliche Menschen e.V. bereichert das LSVD-Projekt mit seiner Expertise zu den Varianten der geschlechtlichen Entwicklung.
Begriffe, Bezeichnungen, Bedeutungen
In Deutschland leben Menschen, deren körperliche Geschlechtsmerkmale nicht der weiblichen oder männlichen Norm entsprechen. In unserer auf zwei Geschlechter ausgerichteten Gesellschaft kommen diese Menschen nur am Rand vor. Dass die strenge Einteilung der Gesellschaft in zwei klar unterscheidbare Geschlechter nicht der gelebten Realität entspricht, ist schon lange bekannt. Ein aktueller Fund beweist, dass es auch schon im Jahr 1653 intergeschlechtliche Menschen in Deutschland gab: In einem alten Kirchenbuch wird festgehalten, dass der Taufname eines Kindes nachträglich von Anna zu Hans Jacob geändert wurde, da das Kind eher männlich als weiblich zu sein schien. Ob sich Hans Jacob als „Zwitter“ oder anders bezeichnete, wissen wir nicht. Positive (Selbst-)Bezeichnungen sind wichtig für ein positives Selbstwertgefühl und ein respektvolles Miteinander. Wie kann ich eine intergeschlechtliche Person also korrekt ansprechen?
Im deutschsprachigen Raum gibt es viele verschiedene Bezeichnungen für das, was wir unter „Intergeschlechtlichkeit“ fassen: Menschen mit Variationen der Geschlechtsmerkmale, Varianten der Geschlechtsentwicklung, Intersexualität, Zwitter, Hermaphrodit, DSD, AIS, Swyer-Syndrom, Klinefelter-Syndrom. All diese Begriffe bezeichnen einen Menschen, dessen körperliche Geschlechtsmerkmale nicht in das gängige Schema von Mann und Frau passen. Von intergeschlechtlich geborenen Menschen werden einige dieser Begriffe als beleidigend wahrgenommen, andere hingegen als positive Selbstbezeichnung verwendet. In diesem Faktenpapier werden einige (historische) Bezeichnungen beschrieben, und es wird erläutert, weshalb sich einige dieser Begriffe geändert haben und diese teilweise in anderen Zusammenhängen gebraucht werden.
Hermaphroditismus ohne Mythologie
„Hermaphrodit“ ist antiken Ursprungs. Der Begriff entstammt der griechischen Mythologie. Der römische Dichter Ovid schreibt von Hermaphroditos, dem Sohn von Hermes und Aphrodite, dessen Körper mit dem einer Nymphe verschmolzen wurde. Die Verwandlung in ein zweigeschlechtliches Wesen galt als eine Strafe der Götter. Die jüdisch-christliche Sicht auf Geschlecht umfasste einerseits die Vorstellung vom Hermaphroditen als Verkörperung von Vollkommenheit, aber auch der Teufel wurde im Laufe der 2.500-jährigen Geschichte als geschlechtlich nicht eindeutiges Wesen dargestellt. (1) Der Begriff „Hermaphrodit“ war Bestandteil historischer Gesetzestexte und ist bis heute Bestandteil der ICD, einem weltweit anerkannten Klassifikationssystem für Krankheiten. (2)
Als biologisch-medizinische Beschreibung für Körper, die nicht der männlichen oder weiblichen Norm entsprechen, wurde der Begriff „Hermaphroditismus“ 1876 durch Erwin Klebs eingeführt. [*] In seinem Handbuch der pathologischen Anatomie erläutert er im ersten Band, achtes Kapitel, „Veränderungen der Geschlechtsorgane“. Klebs unterteilt dabei das Geschlecht in Keimdrüsen, Geschlechtsgänge (Vagina) und äußeres Genital. Die Zuteilung zu einem Geschlecht erfolgt bei ihm anhand der Keimdrüsen, entscheidet sich also daran, ob ein Mensch Hoden und/oder Eierstöcke hat. Eine „echte Zwitterbildung – Hermaphroditismus verus“ liegt Klebs zufolge vor, wenn bei einem Menschen sowohl männliche als auch weibliche Keimdrüsen vorhanden sind. Ein „echter Hermaphrodit“ hat also Hoden und Eierstöcke; andere Ausprägungen fasst Klebs unter der Zuordnung „Pseudo-Hermaphroditismus – Scheinzwitterbildung“ zusammen. In den 1880er und 1890er Jahren waren Ärzte der Ansicht, dass intergeschlechtliche Menschen „Missbildungen“ haben und nicht einfach mit einem Körper geboren wurden, der nicht weiblich und nicht männlich ist. (3)
Die Bezeichnung „Zwitter“ wird von einigen intergeschlechtlichen Menschen als Beleidigung empfunden, von anderen aber auch als positive Selbstbezeichnung verwendet. Im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 findet sich der Begriff für Menschen mit nicht eindeutig männlichem oder weiblichem Geschlecht. In mehreren Paragrafen wurde beispielsweise festgelegt, dass die Eltern das Erziehungsgeschlecht des Kindes bestimmen konnten, der Zwitter aber mit dem 18. Geburtstag selbst entscheiden konnte, in welchem Geschlecht die Person leben wolle. (4)
Intersexualität mit Unterschieden
„Intersexualität“ geht zurück auf Richard Goldschmidt, der den Begriff 1915 für „sexuelle Zwischenstufen“ bei Nachtfaltern verwendete. Für ihn war Intersexualität ein Kontinuum, das Geschlecht der Nachtfalter konnte durch Züchtung beliebig in die männliche oder weibliche Richtung verändert werden. Die Falter konnten somit, je nach Ausprägung, eher männlich oder eher weiblich erscheinen. Goldschmidt musste 1936 aus Deutschland auswandern, und seine Forschungsergebnisse wurden von den Nationalsozialisten dazu missbraucht, ihre Rassenideologien zu rechtfertigen. (5)
Eugeniker verwendeten „intersexuelle Konstitution“ oder „Intersexualität“ für Menschen, deren Körper leicht von der geschlechtlichen und sexuellen Norm abwichen, etwa für stark behaarte Frauen. Menschen mit eindeutig intergeschlechtlichem Genital wurden weiterhin als Hermaphroditen bezeichnet. (6)
Das Menschenbild der Nationalsozialist:innen war eine Mischung aus rassistischer Ideologie, Anti-Humanismus und zynischer Menschenverachtung. Wer deren Normen nicht entsprach, lief Gefahr, nicht mehr als nützlich für die Volksgemeinschaft eingestuft und als "Ballastexistenz" beseitigt zu werden. Nicht erkannt und benannt zu werden, war also die Strategie des Überlebens.
In den späten 1950er Jahren wurde Goldschmidts Begriff von mehreren Autor:innen aufgegriffen und als Sammelbegriff eingeführt. Mit zunehmendem Erkenntnisgewinn wurde nicht mehr nur zwischen „Hermaphroditismus verus“ und „Pseudohermaphroditismus“ unterschieden. Es kam zu einer Aufteilung in verschiedene Erscheinungsformen, die einzeln beschrieben wurden.
Im Jahr 1961 erschienenen Sammelband „Die Intersexualität“ von Claus Overzier finden sich Kapitel zu „Hermaphroditismus verus“, „Pseudohermaphroditismus“, „Testikuläre Feminisierung“, „Klinefelter-Syndrom“, „Gonadendysgenesie“ und zum „Androgenitalen Syndrom“.(7) Für Ausdifferenzierung und Klassifizierung der verschiedenen Ausprägungen wurde nach und nach das Genom immer wichtiger. Die Erfindung des Lichtmikroskops ermöglichte es, das Chromatingeschlecht zu bestimmen. So konnten einige Ausprägungen klarer von anderen unterschieden werden. Einige der im Sammelband aufgeführten Ausprägungen waren vorher unter anderen Namen bekannt oder mit anderen Ausprägungen zusammengefasst. Beispielhaft führt Hauser im Kapitel zur „testikulären Feminisierung“ ehemals verwendete Begriffe auf, etwa „Intersexualität bei beidseitigen Hodenadenomen“ oder „Männlicher Scheinzwitter mit weiblichem Habitus“. (8) Weitere Begriffe können „hairless women syndrome“ oder „Morris-Syndrom“ sein. Heute wird „Testikuläre Feminisierung“ allgemein mit „Kompletter Androgenresistenz (CAIS)“ beschrieben.
Störungen und Varianten
2005 wurde auf einer medizinischen Fachkonferenz die bestehende Klassifikation überarbeitet und ein neuer Name für diese neu geordneten „Abweichungen von der Norm“ gefunden: disorders of sex development (DSD), auf Deutsch „Störung der Geschlechtsentwicklung“. Dies führte zu massiver Kritik durch intergeschlechtliche Menschen, die eine Beschreibung ihrer Körper und deren Funktionsweisen als „Störung“ als Beleidung empfanden und ablehnten. Daraufhin wurde der Begriff zu „differences of sex development“ oder „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ geändert. (9)
Unabhängig von der genauen Bezeichnung eines „Syndroms“ haben all diese Klassifikationen eines gemeinsam: dass sie die Körper von Menschen geschlechtlich normieren und Abweichungen von dieser Norm aufzeigen. Auch die Neufassung der Internationalen Klassifikation von Krankheiten (ICD-11) hat nichts daran geändert, dass intergeschlechtliche Körper weiterhin pathologisiert werden und einem gesellschaftlichen Normierungsdruck unterworfen sind. (10) Eine nicht-pathologisierende Sprache bei der Beschreibung von intergeschlechtlichen Körpern und Lebensrealitäten ist ein längst überfälliger Schritt. Seit Beginn der 2000er Jahre wird Intergeschlechtlichkeit zunehmend in das Akronym „LSBTIQ+“ inkludiert und somit ein Anschluss an bestehende Initiativen zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt geschaffen. Intergeschlechtlicher Aktivismus in Deutschland wird sichtbarer, und es gibt viele Ideen, wie sich Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung selbst bezeichnen können, ohne eine medizinische Sprache zu verwenden.
Selbst sagen, was Sache ist
Diese Selbstbezeichnungen reichen von „intersexueller Mensch“ über „intergeschlechtliche Frau“, „intergeschlechtlicher Mann“, „intergeschlechtlich geborene Person“, „intergeschlechtlich geborene queere Person“ bis zu „diverse Person“, „inter* Mensch“ oder auch „inter Mensch“. Als politische Selbstbezeichnung werden auch „Herm“, „Hermaphrodit“ oder „Zwitter“ verwendet. Einige Personen, deren Leben durch die Medizin geprägt ist, bezeichnen sich manchmal auch als „Mensch mit einem körperlichen Defekt“ oder „Frau mit einer hormonellen Störung“, Als Bezeichnung für Intersexualität haben sich „Varianten der Geschlechtsentwicklung“, „Intergeschlechtlichkeit“ oder „Variationen der Geschlechtsmerkmale“ in der Community etabliert. Diese Begriffe sind nicht statisch, sondern einer stetigen Veränderung unterworfen, wie die Sprache selbst ebenfalls. Durch diesen sprachlichen Wandel werden neue Realitäten geschaffen, Menschen können eine positive Selbstwahrnehmung entwickeln und ihre Identität frei ausdrücken. Die selbstempfundene Identität eines Menschen und die damit verbundene Selbstbezeichnung ist als Teil der Würde zu schützen. Diese Gleichwürdigkeit kann durch die Frage „Wie darf ich Sie ansprechen?“ sehr einfach erreicht werden.
Kontakt
Intergeschlechtliche Menschen e. V.
Slebuschstieg 6
20537 Hamburg
Telefon: 0170-7090385
Homepage: www.im-ev.de
E-Mail: vorstand@im-ev.de
Quellenverzeichnis
(1) Krannich, Conrad (2016): Geschlecht als Gabe und Aufgabe: Intersexualität aus theologischer Perspektive. Psychosozial-Verlag, Gießen. S.56.
(2) ICD steht für "International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems" Ein ICD-Code ist ein medizinisches Klassifikationssystem für Diagnosen. Es wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) initiiert und wird durch diese gepflegt. “Hermaphroditismus” ist unter dem Code Q56 zu finden: https://www.icd-code.de/icd/code/Q56.-.html [geprüft am 23.11.2020].
(3) Carpenter, Morgan (2018): The “Normalization” of Intersex Bodies and “Othering” of Intersex Identities in Australia. Bioethical Inquiry 15, 487–495. https://doi.org/10.1007/s11673-018-9855-8 [geprüft am 01.12.2020].
(4) Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (1794): Erster Teil, erster Titel §§19-23.
(5) Rolker, Christoph (2016): Goldschmidt über „Intersexualität“ (1915). 22.10.2016, Blog: männlich-weiblich-zwischen https://intersex.hypotheses.org/4121 [geprüft am 01.12.2020].
(6) Klöppel, Ulrike (2014): Intersex im Nationalsozialismus: ein Überblick über den Forschungsbedarf. in: Homosexuelle im Nationalsozialismus. Neue Forschungsperspektiven zu Lebenssituationen von lesbischen, schwulen, bi-, trans- und intersexuellen Menschen 1933 bis 1945. Institut für Zeitgeschichte, Michael Schwartz (Hg.), München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag, S. 107-114.
(7) Overzier, Claus (1961): Die Intersexualität. Thieme, Stuttgart. IX-XV.
(8) Hauser, G.A. (1961): Testikuläre Feminisierung. In: Overzier, Claus (1961): Die Intersexualität. Thieme, Stuttgart. (S.261-281), S. 262.
(9) Deutsche Gesellschaft für Urologie (DGU) e.V., Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH) e.V., Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und - diabetologie (DGKED) e.V (2016): S2k -Leitlinie Varianten der Geschlechtsentwicklung – Version 1.0 (Juli 2016). https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/174-001l_S2k_Geschlechtsentwicklung-Varianten_2016-08_01.pdf [geprüft am 01.12.2020].
(10) OII Europe (2018): WHO publishes ICD-11 – and no end in sight for pathologisation of intersex people. 19.06.2018. https://oiieurope.org/de/who-publishes-icd11-and-no-end-in-sight-for-pathologisation-of-intersex-people/ [geprüft am 01.12.2020].
[*] Korrektur: Andere Quellen deuten darauf hin, dass der Begriff bereits früher, 1823, in "Eros oder Wörterbuch über die Physiologie und über die Natur und CulturGeschichte des Menschen in Hinsicht auf seine Sexualität" Verwendung fand.
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