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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Akademisierung und Professionalisierung sexueller Bildung und Beratung

Dokumentation des Kongresses „Respekt statt Ressentiment. Strategien gegen Homo- und Transphobie“, Berlin 2015

harald-stumpe.jpg"Um das Thema sexuelle Vielfalt (Geschlechtsidentitäten, sexuelle Identitäten, Sexuelle sexuelle Orientierungen usw.), das gegenwärtig häufig zu häufig polarisierten Meinungen führt, einer sachlichen Diskussion zuzuführen, bedarf es entsprechend ausgebildeter, professionell arbeitender Fachkräfte." (Prof. Dr. med. Harald Stumpe)

Sexuelle Bildung ist mehr als Aufklärung und Sexualpädagogik. Um das Thema sexuelle Vielfalt [Ge-schlechtsidentitäten, sexuelle Identitäten, sexuelle Orientierungen usw.], welches gegenwärtig häufig zu häufig polarisierten Meinungen führt, einer sachlichen Diskussion zuzuführen, bedarf es entsprechend ausgebildeter, professionell arbeitender Fachkräfte. In der öffentlichen Meinungsbildung wird ein solcher Standpunkt meist ausgeblendet, weil gelebte Sexualität ein elementares Lebensbedürfnis darstellt, weil nahezu jeder Mensch dazu entsprechende Erfahrungen hat und Bildungsarbeit daher als nicht notwendig erscheint.

Der Pluralismus verschiedener Lebensstile im Bereich von Sexualität gehört zum gesellschaftlichen Konsens, mit Ausnahme der Anerkennung sexueller Vielfalt. Das demonstrieren uns die anhaltenden Auseinandersetzungen in einigen Bundesländern zur „sexuellen Vielfalt“ als Thema in den Bildungsplänen der Schulen. Populismus, Halbwissen und ‚Stammtischrhetorik‘ bestimmen immer noch die Kommunikation zum Thema Sexualität in der Bevölkerung. Der heutige Aufbruch der Geschlechterdichotomität, die stärkere Öffentlichkeit von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in den Medien und im realen Leben führen offensichtlich erst jetzt zu einem Bewusstwerden der ‚„neuen Normalität‘“ bei den meisten Menschen. Diese Tatsache dürfte eine der Ursachen sein, die gegenwärtig zu einer Polarisierung der Meinungsbildung zwischen Befürworter_innen und Gegner_innen sexueller und geschlechtlicher Vielfalt führen. Aus diesen Entwicklungen heraus lassen sich die wachsenden Anforderungen an die sexuelle Bildungsarbeit ableiten. Die in Deutschland in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts entstandene Sexualwissenschaft konnte sich nach der Zerschlagung des Hitler-Faschismus nur wenig weiter entwickeln. In den letzten Jahren wurden sogar akademische Einrichtungen wie das Institut für Sexualwissenschaft an der Universität Frankfurt am Main geschlossen.

Professuren im Bereich der Sexualwissenschaft werden in aller Regel nur als Projekte und damit als befristet eingerichtet. Die konfliktreiche Entwicklung in der öffentlichen Meinungsbildung ruft geradezu nach einer interdisziplinären akademischen Aus- und Weiterbildung von Fachkräften für die soziale Praxis. Sie dürfte der Schlüssel für qualifizierte zielgruppenspezifische Bildungsarbeit, qualifizierte altersgerechte Bildung, eine effiziente didaktisch-methodische Umsetzung alters- und zielgruppenspezifischer Themen und Inhalte, für Aus-, Fort- und Weiterbildung von Menschen in sozialen, therapeutischen [und allen humanwissenschaftlichen] Berufen und für politische Entscheidungsfindungen sein. Eine Forderung nach Akademisierung und Professionalisierung sexueller Bildung und Beratung schließt keinesfalls die vielfältigen ehrenamtlichen Aktivitäten [z.B. Schulprojekte des LSVD] aus. Sie sind und bleiben wichtige Bestandteile der Bildungsarbeit für junge Menschen. Der heute in Fachkreisen benutzte Begriff der „Sexuellen Bildung“ schließt diese Tätigkeit notwendig ein.

In Deutschland gibt es gegenwärtig nur zwei Möglichkeiten für ein akademisches Studium. Seit 2009 existiert an der Hochschule in Merseburg der stark nachgefragte Masterstudiengang „Angewandte Sexualwissenschaft“ mit ca. 200 Bewerberinnen aus dem In- und Ausland auf insgesamt 20 Studienplätze. Seit dem vergangenen Jahr wird ein weiterer Studiengang [gebührenpflichtiger Weiterbildungsmaster] ‚Sexologie‘ als Kooperationsprojekt mit dem Institut für Sexualpädagogik und Sexualtherapie Uster [Schweiz] mit dem Schwerpunkt „Sexocorporel“ angeboten. Beide Studiengänge verfolgen zwei übergeordnete Zielstellungen:

  1. Professionelle in humanwissenschaftlichen Berufen zu befähigen, Menschen bei der Entwicklung einer selbstbestimmten Sexualität im Sinne sexueller Vielfalt zu bilden, zu beraten und zu begleiten.
  2. Professionelle in humanwissenschaftlichen Berufen zu befähigen, die sexuellen und reproduktiven Menschenrechte durchzusetzen und für eine entwicklungsfördernde sexuelle Kultur und Politik, freivon Gewalt und Bevormundung, einzutreten.

Die positiven Erfahrungen an der Hochschule Merseburg und die anhaltend hohen Bewerbungszahlen belegen deutlich einen wachsenden Bedarf, der gegenwärtig nicht abgedeckt werden kann. Insofern wäre es sehr wünschenswert, dass sich an anderen Universitäten und Hochschulen weitere sexualwissenschaftlich ausgerichtete Studiengänge etablieren.

Weitere Informationen zu den Studiengängen können der Webseite der Hochschule Merseburg www.hs-merseburg.de entnommen werden.

Prof. Dr. med. Harald Stumpe
Dekan des FB Soziale Arbeit, Medien u. Kultur der HS MerseburgundProfessor für Sozialmedizin und Sexualwissenschaft. Der Sozialmediziner und Psychotherapeut entwickelte in Kooperation mit Pro Familia die Zusatzausbildung "Sexualpädagogik" (Bundesmodellprojekt) und die Masterstudiengänge „Sexualpädagogik und Familienplanung“ sowie "Angewandte Sexualwissenschaft". Stumpe ist Gründungsmitglied und Vorsitzender des Landesverbandes Thüringen der Pro Familia, Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Sexualwissenschaft (GSW), Vorsitzender der Fördergemeinschaft "Sexualpädagogisches Zentrum Merseburg" sowie des Vereins "zusammen-wohnen" (alternative Wohnprojekte für Senioren).

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