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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Diskriminierung ist nicht nur Hass – sie kann auch ganz freundlich sein

Dokumentation des Kongresses „Respekt statt Ressentiment. Strategien gegen Homo- und Transphobie“, Berlin 2015

jennifer-petzen.jpg"Wenn wir die tief verwurzelte und komplexe staatliche, institutionelle und strukturelle Gewalt und Diskriminierung nicht wahrnehmen und nicht kritisieren, dann betreiben wir eine falsche Politik,  die nur einen Teil der Bevölkerung begünstigt." (Jennifer Petzen)

Erst einmal möchte ich der Amadeo Antonio Stiftung und dem LSVD e.V. für die Einladung danken. Es freut mich, dass diese beiden Organisationen sich mit post-kolonialen und Queer of Color-Perspektiven beschäftigen, die die Verbindungen zwischen Rassismus, Klassismus, Sexismus, Antisemitismus, Homophobie und Trans*-Diskriminierung klarer machen können. Bevor ich zu meinem Hauptthema komme, möchte ich ein paar Bemerkungen zum Rahmen der Konferenz machen, weil Wissen nur nachvollzogen werden kann, wenn die Rahmenbedingungen seiner Produktion mitgedacht werden.

Bei meiner ersten Bemerkung geht um unsere Vorstellung von „Entwicklung“ in Europa und wie wir sie mit Strukturen verbinden [oder auch nicht]. In einer Welt der  Lobbyarbeit für Menschenrechte sprechen wir viel von „Entwicklungen“ und in diesem Zusammenhang auch von „vorwärts“ bzw. „rückwärts“ gehen. Für mich ist das ein Denkfehler. Warum?

Ich möchte klar machen, dass ich nicht daran glaube, dass es eine „neue Welle“ von Rassismus, Homophobie oder Trans*-Diskriminierung gibt. Sicher leben wir in einer heterosexistischen Gesellschaft mit einem tief verankerten Glauben an ein zweigeschlechtliches Gender-System. Diese antifeministischen, homo- und transphoben Strukturen sind nicht neu, und auch queere Menschen sind von diesen Ideologien beeinflusst. Aber nur mit einem genauen Blick auf die Vergangenheit können wir die sogenannten „neuen“ Formen dieser Machtverhältnisse verstehen.

Wir leben in einer neoliberalen Zeit, die viele für post-rassistisch, post-kolonial, post-sexistisch, post-homophob halten. Nur von dort aus ist es möglich zu denken, es könnte eine ‚neue Welle‘ von Diskriminierung kommen. Doch unser Glaube an einen Rechtstaat kann uns in Gefahr bringen. Wir müssen genauer betrachten, welche Menschen welche Privilegien genießen bzw. wie wir eine gesellschaftliche Vision entwickeln können, wo niemand Privilegien hat und alle tatsächlich die gleiche Behandlung genießen.

Um das System von Privilegien und Marginalisierung zu verstehen, ist es sehr wichtig, die historischen Formen der Machtverhältnisse zu untersuchen, gerade weil sie die heutigen prägen; beide können nicht voneinander getrennt werden. Diese Kontinuität dürfen wir nicht vergessen; Wenn sie vergessen wird, müssen wir von epistemischer Gewalt sprechen. Wichtig ist ein sorgfältiger und stetiger Reflektionsprozess, ohne die Vergangenheit zu instrumentalisieren. Wenn wir das nicht leisten, wird unserer Streben nach sozialer Gerechtigkeit verhindert. 

Bei meiner zweiten Bemerkung geht es um den ersten Teil des Kongress-Titels: „Respekt statt Ressentiment“. Es ist gefährlich, wenn wir Diskriminierung nur durch Gefühl und Affekt artikulieren, anstatt die strukturellen Machtverhältnisse zu analysieren. Wie wir wissen, ist das natürlich ein großes Problem bei der Anti-Antisemitismus-Arbeit. Aber was ich meine, ist Folgendes: Jahrelang gab es einen Diskurs in Deutschland, der besagte, dass Rechtsextremist_innen eine unglückliche Kindheit hatten und deswegen gestört sind. Diese Menschen haben angeblich deshalb später rechtsextreme Gewalt ausgeübt, weil sie krank sind. Das ist aber falsch. Wir brauchen nur in Richtung Pegida zu schauen, um zu erkennen, dass Antisemitismus, Rassismus und Homophobie ein normaler Teil der Gesellschaft ist. Und es sind gerade die staatlichen und institutionellen Strukturen, die Raum dafür geben, dass solche Affekte sich ergeben können – Beispiel NSU. Wenn wir uns nur auf individuelle Gewaltakte fokussieren [obwohl das natürlich wichtig ist], entgleiten uns andere strukturelle Gewaltformen aus dem Blickfeld wie z.B. die Diskriminierung im Bildungs- und Gesundheitssystem, auf dem Arbeitsmarkt, bei Ämtern und anderes mehr. Wir müssen uns eingestehen, dass diese außerordentlichen und extremen Gewalttaten in gewisser Weise nur die gewöhnlichen normativen sozialen und politischen Werte widerspiegeln. Nur aus dieser Erkenntnis heraus können wir etwas Besseres „entwickeln“.

Das ist eine sehr wichtige Erkenntnis aus der Antidiskriminierungsarbeit und aus der postkolonialen Wissenschaft. Wenn wir die Machtverhältnisse von Mehrfachdiskriminierung verstehen und etwas dagegen tun wollen, müssen wir systematisch vorgehen. Wenn wir nur auf nur eine Facette des Systems beschränken, ohne den Rest mitzudenken, werden wir gravierende politische Fehler begehen. Ein gutes Beispiel für diese Einsicht hat die UNO uns gegeben: In dem neusten Bericht von ICERD [International Committee on the Elimination of all Forms of Racial Discrimination] wird empfohlen, dass der Staat Sensibilisierungs-Maßnahmen in Bezug auf intersektionale [Mehrfach-] Diskriminierung umsetzt. Laut UNO muss der Staat sich damit zum Beispiel auch um den Rassismus, den LSBTI-Menschen erleben, kümmern. Was wir Mehrfachdiskriminierung nennen, muss von der Mehrheitsgesellschaft endlich ernst genommen werden.

Ein wichtiges Beispiel ist die Flüchtlingskrise. Wir alle wissen, dass die Anzahl der schutzsuchenden Menschen gestiegen ist und dass die Menschen, die hierher kommen, nur ein kleiner Teil der Überlebenden sind.  Die Tragödie im Mittelmeer ist ein unmittelbares Ergebnis der europäischen rassistischen Migrationspolitik, die Migrant_innen und Schutzsuchende  kriminalisiert. Man hätte erwarten können, dass LSBTI-Organisationen Solidarität mit allen geflüchteten Menschen zeigen, nicht nur mit LSBTI-Flüchtlingen, und dass sie eine Lobby für eine menschenwürdige Migrations- und Asylpolitik sein würden. Leider ist es in diesem Bereich üblicher, eine Sonderpolitik – die üblicherweise mit entsprechenden Projektgeldern verbunden ist – zu betreiben. Das heißt, wir versuchen gerade, den Asylprozess nur für LSBTI-Menschen einfacher zu machen, statt eine breitere und grundsätzlichere Kritik daran zu formulieren. 

Wenn wir nicht achtgeben, d.h. wenn wir die tief verwurzelte und komplexe staatliche, institutionelle und strukturelle Gewalt und Diskriminierung nicht wahrnehmen und nicht kritisieren, dann betreiben wir eine falsche Politik, die nur einen Teil der Bevölkerung begünstigt. Die Konsequenzen für diejenigen, die nicht davon profitieren, sind immens. Wir brauchen nur in Richtung Mittelmeer zu schauen, um das zu verstehen: manche sind fürs Leben ausgewählt, andere zum Tode verdammt. Anders gesagt:  Wir betreiben eine Nekropolitik, eine Politik des Todes, wenn wir die Asylpolitik nicht so mitgestalten, dass sie das Recht auf Leben für alle anerkennt.

Für die Zukunft

Warum werden die Symbole der Regenbogen-Nation immer differenzierter, während rassifizierte und gegenderte Bevölkerungsgruppen in soziale Randschichten abgeschoben werden? Wenn wir über die Verbesserung von queerem Leben sprechen, sollten wir auch über ‚queer necropolitics‘ nachdenken, die, wie Jasbir Puar sagt, manche Queers ins Leben einlädt und andere Queers daraus entfernt, weil sie eine Art ‚sozialen Tod‘ erleben. Was bedeutet dann für sie das Lager, wo Menschen auf ein neues Leben oder einen eventuellen Tod warten, wenn sie „zurückgehen“?  Was ist mit den Tausenden von Menschen, die jeden Tag im Mittelmeer sterben? Wie sind bio- und nekropolitische Diskurse in Bezug auf ‚Grenzen‘ und ‚Sicherheit‘ durch Sexualität artikuliert? 

Wenn alle Energien und Ressourcen nur auf rechtsbasierte Projekte abzielen, die weiße Herrschaft im Namen eines Rechtstaats fördern, indem sie in den Nationen-Staat investieren, in einen Staat, in dem angeblich alle Menschen die gleichen Rechte genießen, werden wir unsere Visionen von einer Zukunft in sozialer Gerechtigkeit nicht einlösen können. Es ist nicht allein die physische Gewalt gegen LSBTI-Menschen, die uns beschäftigen sollte, sondern auch der strukturelle Rassismus [z.B. in der Asylgesetzgebung], die sexistischen Praxen in der Schule, bei Ärzt_innen und bei der Arbeit, die staatliche Beobachtung, die Inhaftierung und die Missachtung der vielen Menschen, die in Armut leben. 

Wie würde eine queere Politik aussehen, die mit der rassistischen Logik des Staates bricht? Wie wäre es, wenn Gender-Politik und sexuelle Politik sich zur Priorität machen würden, Klasse und Rassifizierung entgegen zu wirken, statt sie zu verstärken? Nur wenn wir uns auch diese Fragen stellen, können wir die bio-und nekropolitische Gewalt effektiv bekämpfen.

Dr. Jennifer Petzen
forscht seit 2001 zu transnationalen queeren Politiken und Bewegungen. Sie veröffentlicht in verschiedenen Zeitschriften und in Sammelbänden regelmäßig zu den Themen "Rassismus in queeren und feministischen Bewegungen", "Rezeption von Intersektionalität in Europa" sowie zu "Homonationalismus in der Bundesrepublik Deutschland". Sie lehrte und lehrt in Berlin, Seattle und Istanbul zu den Themen „Gender- und Queer-Theorie sowie zu Migration und zu anti-muslimischem Rassismus. Seit 2014 ist sie Geschäftsführerin der Lesbenberatung Berlin e.V.  

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