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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Queerpolitischer Aufbruch 2021: Ein Sofortprogramm für die neue Bundesregierung

Beschluss des 33. LSVD-Verbandstags am 09. Oktober 2021

Die letzten vier Jahre waren für Lesben, Schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LSBTI) auf vielen Feldern eine Wahlperiode der verpassten Chancen. 2021 muss einen queerpolitischen Aufbruch bringen.

Menschen unter einer großen Regenbogenflagge

Update: Am 24. November 2021 haben die drei Parteien den Koalitionsvertrag vorgestellt.

Die neue Bundesregierung hat große Aufgaben: einen wirksamen Klimaschutz, die Bewältigung der Corona-Pandemie, schwierige außenpolitische Herausforderungen und die Pflicht, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern. Das heißt: Ungerechtigkeiten beseitigen, Menschenrechte schützen, Respekt und Vielfalt stärken. Die Verwirklichung von Gleichberechtigung, ein besserer Diskriminierungsschutz und wirksame Maßnahmen gegen Hass und Hetze dürfen nicht auf die lange Bank geschoben werden.

Eine Regierung muss Multitasking können. Präsident Biden hat es vorgemacht. Zu seinen Maßnahmen am ersten Amtstag gehörte die Rückkehr zum Pariser Klima-Abkommen ebenso wie eine Verfügung gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz wegen der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität. Das sollte Vorbild sein. Die letzten vier Jahre waren für Lesben, Schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LSBTI) auf vielen Feldern eine Wahlperiode der verpassten Chancen. 2021 muss einen queerpolitischen Aufbruch bringen.

Menschenfeindliche Ideologien wie Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, Islamismus, Sexismus, Homophobie oder Transfeindlichkeit leugnen, dass alle Menschen mit gleicher Würde und gleichen Rechten ausgestattet sind. Sie sind auf das Engste miteinander verwoben. Deshalb gilt es, jede Form von Diskriminierung, Ausgrenzung und Menschenfeindlichkeit gemeinsam, solidarisch und konsequent anzugehen. In unserem Land müssen alle frei und sicher leben können.

1. Fahrplan für die ersten 100 Tage: Transsexuellengesetz abschaffen, das Abstammungsrecht reformieren und den Schutz LSBTI-Geflüchteter gewährleisten

Seit Jahrzehnten ist die Reform des Transsexuellenrechts überfällig. Die Verwirklichung der Menschenrechte für trans- und intergeschlechtliche Menschen duldet keinen Aufschub mehr. Das diskriminierende Transsexuellengesetz muss zugunsten eines Selbstbestimmungsgesetzes abgeschafft werden. Ein weiteres drängendes Problem: Vier Jahre nach der Ehe für alle werden Regenbogenfamilien weiter rechtlich diskriminiert. In 2-Mütter-Familien muss die automatische Anerkennung beider Eltern von Anfang an im Abstammungsrecht gesetzlich geregelt werden, wenn nach 1600d Abs. 4 BGB keine Vaterschaft besteht. In allen anderen Konstellationen muss eine gesetzliche Regelung die Interessen von allen Beteiligten gleichermaßen berücksichtigen und zum Ausgleich bringen. Schließlich bedarf es der Regelung für eine Elternschaftsvereinbarung vor der Zeugung, in der die Beteiligten ihr Verhältnis zueinander und zu dem Kind rechtlich verbindlich gestalten können. Für beide Bereiche liegen längst Gesetzesvorschläge und Anträge vor. Sie können und müssen nun unverzüglich umgesetzt werden.

Auch andere Missstände lassen kein Zuwarten und Zaudern zu. LSBTI-Flüchtlinge müssen unter entsetzlichen Bedingungen und unter ständiger Bedrohung durch Anfeindungen und Gewalt in Lagern an EU-Außengrenzen ausharren. Hier braucht es ein sofortiges und großzügiges Aufnahmeprogramm für diese besonders vulnerablen Gruppen. Ebenso braucht es endlich flächendeckende und wirksame Gewaltschutzkonzepte für LSBTI-Geflüchtete bei der Aufnahme in Deutschland.

2. Das Grundgesetz in Artikel 3 ergänzen

Das Grundgesetz ist 72 Jahre alt. Bis heute fehlt im Gleichbehandlungsartikel unserer Verfassung ein ausdrücklicher Schutz vor Diskriminierung für LSBTI. Die neue Regierungskoalition muss eine entsprechende Ergänzung zu ihrem Ziel machen und schnell Gespräche mit den anderen demokratischen Parteien aufnehmen, um die erforderliche 2/3-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat zu erreichen.

3. Aktionspläne für Akzeptanz und gegen Hasskriminalität auf die Schiene setzen

Fünfzehn Bundesländer haben bereits Aktionspläne zur Akzeptanz von LSBTI. Der Bund muss endlich nachziehen. Ein solcher Aktionsplan muss von der gesamten Bundesregierung unter Beteiligung der Zivilgesellschaft, insbesondere von LSBTI-Organisationen, erarbeitet werden. Dieser Beratungsprozess muss schnell eingeleitet werden, damit der Aktionsplan binnen eines Jahres nach der Regierungsbildung steht. Schon jetzt können freilich LSBTI-Demokratie-Projekte besser abgesichert, können Bildung und die Arbeit gegen Rechtsextremismus durch ein Demokratiefördergesetz gestärkt werden.

Einen speziellen Aktionsplan braucht es, damit die Bekämpfung von LSBTI-feindlicher Hasskriminalität endlich einen angemessenen Stellenwert in der Kriminalpolitik bekommt. Hier fordern wir die Berufung einer Expert*innenkommission. Sie soll eine systematische Bestandsaufnahme von LSBTI-Feindlichkeit und damit verbundener Hasskriminalität erarbeiten sowie Empfehlungen für einen Nationalen Aktionsplan zur deren besseren Erfassung, Erforschung, Prävention und Bekämpfung entwickeln – einschließlich der Sensibilisierung von Sicherheitsbehörden und Justiz sowie Verbesserungen in der Opferhilfe. Diese Kommission muss bald berufen werden, damit sie spätestens zur Mitte der Wahlperiode ihren Bericht und ihre Empfehlungen vorlegen kann. Auch hier gilt: Notwendige Reformen können und sollten bereits im Vorgriff erfolgen, insbesondere die explizite Aufnahme von LSBTI-feindlichen Motiven in die strafrechtlichen Bestimmungen gegen Hasskriminalität.

4. Für eine menschenrechtsgeleitete Außen-, Entwicklungs- und Flüchtlingspolitik

Bereits die letzte Bundesregierung hat für die Entwicklungszusammenarbeit und die Auswärtige Politik auf Initiative des LSVD, der Hirschfeld-Eddy-Stiftung und der Yogyakarta-Allianz ein LSBTI-Inklusionskonzept beschlossen. Das sind sehr gute Ansätze, die nun noch mehr mit Leben gefüllt werden müssen – gegenüber den internationalen Gremien und den Staaten, die LSBTI unterdrücken und verfolgen. Besonders wichtig ist es, LSBTI-Menschenrechtsverteidiger*innen zu stärken. Europapolitisch ist zentral, die EU-LSBTI-Gleichstellungsstrategie viel offensiver zu unterstützen und klare Kante gegen Regierungen zu zeigen, die die Rechte von LSBTI mit Füßen treten, wie derzeit in Polen und Ungarn.

Es braucht für die EU wie Deutschland eine menschenrechtskonforme, LSBTI-inklusive Flüchtlingspolitik. Hier muss grundlegend umgesteuert werden, um faire, kultursensible Asylverfahren sowie den Zugang zu Informationen und unabhängiger Rechtsberatung zu gewährleisten. Es darf keine Abschiebung in Verfolgerstaaten geben. LSBTI-Asylanträge dürfen nicht mehr abgelehnt werden mit der Begründung, die Geflüchteten könnten ihre sexuelle Orientierung bzw. geschlechtliche Identität im Herkunftsland geheim halten und sich so vor Verfolgung schützen. Länder, in denen Freiheit, Leib und Leben von LSBTI durch Strafbestimmungen oder andere Verfolgungen bedroht sind, dürfen nicht zu „sicheren Herkunftsstaaten“ erklärt werden. Bestehende Einstufungen sind aufzuheben.

5. Ausblendung, Ausgrenzung und Diskriminierung strukturell angehen

Trotz der Erfolge in der gesellschaftlichen Akzeptanz und der rechtlichen Fortschritte gibt es viele Lebensbereiche, in denen es noch lange nicht selbstverständlich ist, LSBTI mitzudenken. Oft werden LSBTI übersehen und damit marginalisiert. So müssen zum Beispiel Regenbogenfamilien im Familienrecht und in der Familienberatung- und -hilfe endlich in ihrer ganzen Vielfalt berücksichtigt werden. Hier besteht großer Reformbedarf.

Die Migrations- und Integrationspolitik muss LSBTI-Themen aufgreifen, z. B. als verbindlichen und zentralen Bestandteil von Sprach- und Orientierungskursen. In der Sozialpolitik und im Gesundheitswesen werden spezielle Lebenslagen und Bedarfe von LSBTI oft überhaupt nicht gesehen. Daher fordern wir die Erstellung eines LSBTI-Gesundheitsberichts, auch um das Krankheitsrisiko Diskriminierung besser angehen zu können.

Denn Diskriminierung ist noch nicht überwunden, offene Anfeindungen sind sogar wieder lautstärker geworden. Die neue Regierungskoalition muss daher auch das mittlerweile 15 Jahre alte Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) aktualisieren, ausbauen und wirksamer gestalten. Dazu gehört die Einbeziehung staatlichen Handelns, ein echtes Verbandsklagerecht, die Aufhebung der Ausnahmeregelungen für Religionsgemeinschaften und eine deutliche Stärkung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes.

(beschlossen auf dem 33. LSVD-Verbandstag am 09. Oktober 2021)

Beschluss "Queerpolitischer Aufbruch 2021: Ein Sofortprogramm für die neue Bundesregierung" als pdf

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