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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Späte Gerechtigkeit?

Bedeutsamer Schritt mit bitterem Wermutstropfen

§ 175 zerstörte die Biographien von Generationen schwuler Männer. Sie mussten in Angst vor Entdeckung, Erpressung und Verfolgung leben. Viele flüchteten in Scheinehen, Doppelleben, Einsamkeit oder sogar in den Tod.

§ 175 zerstörte die Biographien von Generationen schwuler Männer. Sie mussten in Angst vor Entdeckung, Erpressung und Verfolgung leben. Viele flüchteten in Scheinehen, Doppelleben, Einsamkeit oder sogar in den Tod.

1871 aus dem preußischen Strafrecht ins Reichsstrafgesetzbuch übernommen bestand § 175 123 Jahre lang. 1935 haben ihn die Nationalsozialisten massiv verschärft. Bereits ein Kuss oder ein Blick in „wollüstiger Absicht“ konnten zur Verfolgung führen. Bis 1945 gab es ca. 50.000 Verurteilungen. Tausende wurden in Konzentrationslager verschleppt. Nur eine Minderheit überlebte den Terror der Lager.

In der Bundesrepublik galt § 175 in der nationalsozialistischen Fassung bis 1969 unverändert fort. Erneut wurden Zehntausende Opfer menschenrechtswidriger Verfolgung. Das wird bis heute gerne mit einem damals herrschenden „Zeitgeist“ entschuldigt. Damit macht man es sich zu leicht. Es gab politische Täter. Die Fortsetzung der Homosexuellen-Verfolgung war eine bewusste politische Entscheidung. Sowohl der Deutsche Juristentag als auch eine von Bundesregierung selbst eingesetzte „Große Strafrechtskommission“ hatten bereits in den 1950er Jahren empfohlen, Homosexualität unter Erwachsenen zu entkriminalisieren. Die Regierungen unter Bundeskanzler Adenauer (CDU) haben diese Empfehlungen eiskalt verworfen. Erst 1969 wurde § 175 reformiert, bis 1994 galten noch unterschiedliche Schutzaltersgrenzen für hetero- und homosexuelle Handlungen.

LSVD-Forderung nach Rehabilitierung

In der DDR kehrte man zu der Fassung von vor 1935 zurück. 1957 wurde § 175 für Handlungen unter Erwachsenen praktisch außer Kraft gesetzt. Ab 1968 galt eine gesonderte Jugendschutznorm in § 151 StGB, die 1987 vom Obersten Gericht der DDR aufgehoben, 1989 auch formal aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wurde.

Viele Jahre hat sich der LSVD für Rehabilitierung und Entschädigung eingesetzt. Während die Aufhebung der Urteile aus der NS-Zeit 2002 durchgesetzt werden konnte, wurde dieser Schritt für die Verurteilungen nach 1945 lange nicht vollzogen. Es wurden verfassungsrechtliche Bedenken vorgeschoben. Ein Rechtsgutachten im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle kam aber im Mai 2016 zu dem Ergebnis: Es ist verfassungsrechtlich nicht nur möglich, sondern sogar geboten, dass der Gesetzgeber die Verurteilten rehabilitiert. Daraufhin hat Bundesjustizminister Maas einen Gesetzentwurf vorgelegt. Am 19. Juni 2017 hat der Bundestag nun die Rehabilitierung und eine Entschädigung beschlossen.

Zwei Wermutstropfen

Nach langen Jahren der Ignoranz wird einem Teil der Opfer staatlicher Verfolgung ihre Würde zurückgegeben. Der Rechtsstaat hat seine Qualität bewiesen, Fehler auch korrigieren zu können. Aber leider gibt es zwei Wermutstropfen:

1. Die CDU/CSU hat in letzter Minute eine Einschränkung bei der Aufhebung der Urteile durchgeboxt, die angeblich dem Jugendschutz dienen soll, in Wahrheit aber neue Ungerechtigkeiten schafft. Selbstverständlich dürfen keine Urteile zu sexuellem Missbrauch aufgehoben werden. Das Gesetz führt aber rückwirkend erneut unterschiedliche Schutzaltersgrenzen zwischen Homo- und Heterosexualität ein. Man lässt also symbolisch einen Teil des § 175 StGB wiederauferstehen.

2. Die Entschädigung — 3.000 € je aufgehobenes Urteil, 1.500 € je angefangenes Jahr erlittener Freiheitsentziehung — ist viel zu gering. Bereits Ermittlungen nach § 175 brachten gesellschaftliche Ächtung, oft den Verlust des Arbeitsplatzes und der gesamten Karriere. Die Auswirkungen sind bis heute spürbar, so bei der Höhe der Rente. Das muss ausgeglichen werden.

Damit soll die historische Bedeutung des Bundestagsbeschlusses zur Rehabilitierung nicht in Abrede gestellt werden. Aber ganz zu Ende ist dieses Kapitel deutscher Unrechtsgeschichte leider immer noch nicht.

Günter Dworek
LSVD-Bundesvorstand

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