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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Plädoyer gegen die Scheinargumente

Warum die Rehabilitierung rechtlich geboten ist

Die Parteien lehnen die Rehabilitierung mit formalen Erwägungen ab, die nach unserer Auffassung nur vorgeschoben sind.

Wir kennen nicht die wahren Gründe, warum die CDU/CSU, Teile der SPD und die FDP die Rehabilitierung der nach 1945 verurteilten Männer ablehnen. Die Angst vor Entschädigungsansprüchen kann es nicht sein. Uns sind nur wenige Männer bekannt, die vor 1969 nach § 175 StGB verurteilt worden sind und jetzt eine Entschädigung verlangen könnten. Die meisten scheinen das Verstecken so verinnerlicht zu haben, dass sie es auch jetzt nicht schaffen, sich zu outen.

Die Parteien lehnen die Rehabilitierung mit formalen Erwägungen ab, die nach unserer Auffassung nur vorgeschoben sind.

1). Sie bringen vor, wenn sich die Auffassungen über die Strafbarkeit eines Verhaltens änderten, sei das kein Grund, frühere Verurteilungen aufzuheben.

ABER: Bei den Verurteilungen wegen einverständlicher homosexueller Handlungen hat sich nicht nur die Auffassung über die Strafbarkeit geändert, sondern der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat inzwischen wiederholt entschieden, dass diese Praxis menschenrechtswidrig war. Demgemäß hat der Deutsche Bundestag 2000 einstimmig anerkannt, dass die homosexuellen Bürger durch die menschenrechtswidrige Strafverfolgung in ihrer Menschenwürde verletzt worden sind. Nach Art. 1 GG ist aber die Würde des Menschen unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Sie hat deshalb auch die Aufgabe der Rehabilitation und Wiedergutmachung, wenn Menschen durch die staatliche Gewalt in ihrer Menschenwürde verletzt worden sind.

2). Die Verurteilungen nach § 175 StGB seien vom Bundesverfassungsgericht gebilligt worden.

ABER: Das Bundesverfassungsgericht hat zwar 1957 die Strafverfolgung homosexueller Männer aufgrund des von den Nazis verschärften § 175 StGB mit der Begründung gebilligt, dass sich homosexuelle Männer für ihre Art der Sexualität nicht auf das Grundrecht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) berufen könnten. Das Gericht hat aber inzwischen seine Rechtsprechung geändert und in insgesamt fünf Urteilen zum Lebenspartnerschaftsgesetz entschieden, dass Lebensgemeinschaften homosexueller Menschen zwar nicht durch Art. 6 Abs. 1 GG, wohl aber durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt sind. Damit hat es seine alte Entscheidung von 1957 stillschweigend „kassiert“. Außerdem vertritt das Bundesverfassungsgericht die Auffassung, dass Entscheidungen des EGMR, die neue Aspekte für die Auslegung des Grundgesetzes enthalten, rechtserheblichen Änderungen gleichstehen, die zu einer Überwindung der Rechtskraft einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts führen können.

3). Auch dürfe der Gesetzgeber keine rechtskräftigen Urteile aufheben. Das verstoße gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung.

ABER: Wenn der EGMR zur Auffassung gelangt, dass eine strafgerichtliche Verurteilung gegen die Menschenrechtskonvention verstößt, kann er die Verurteilung nicht aufheben, sondern nur dem Staat, der die Verurteilung zu vertreten hat, die Zahlung einer Entschädigung an den Verurteilten auferlegen. Deshalb hat der Bundesgesetzgeber 1998 in die Strafprozessordnung einen neuen Wiederaufnahmegrund eingeführt. Danach kann eine Verurteilung ausdrücklich aufgehoben werden, wenn der EGMR festgestellt hat, dass die Verurteilung gegen die Menschenrechtskonvention verstößt. In dem Gesetzgebungsverfahren hatten die Grünen beantragt, die Wiederaufnahme für alle gleichgelagerten Verurteilungen zuzulassen. Zur Begründung hatten sie auf die Strafurteile nach § 175 StGB verwiesen. Das wurde damals aber abgelehnt.

Es hindert den Gesetzgeber also nichts, nunmehr für eine Gruppe von Verurteilungen, die nach der Rechtsprechung des EGMR auf einer menschenrechts- und damit auch grundrechtswidrigen Norm beruhen, entweder ein Wiederaufnahmeverfahren einzuführen oder zur Vermeidung unnötigen bürokratischen Aufwands die Urteile insgesamt aufzuheben, wenn die Verletzung der Menschenrechte evident ist. Das ist bei den Verurteilungen nach § 175 StGB der Fall und vom Bundestag bereits anerkannt worden.

Manfred Bruns
LSVD-Bundesvorstand

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