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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Sexarbeit – Selbstbestimmung statt Stigma

Beschluss des LSVD-Verbandstages 2023

Sexarbeit ist gesellschaftliche Realität, umfasst ein breites Spektrum sexueller und geschlechtlicher Vielfalt und kann für LSBTIQ* eine Möglichkeit zur selbstbestimmten Arbeit sein. Für queere Sexarbeiter*innen kommen neben diversen Diskriminierungsdimensionen besondere Bedarfe dazu. Der LSVD formuliert Forderungen an Politik und Zivilgesellschaft, um die Diversität innerhalb des Arbeitsfeldes auch inhaltlich in Politik und Unterstützungsstrukturen abzubilden.

Sexarbeiter*innen sind in besonderem Maße von Gewalt, Diskriminierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung betroffen. Gleichzeitig werden sie von Staat und Gesellschaft bei der Ausübung ihrer Arbeit bevormundet. Trotz der Legalisierung von Sexarbeit in Deutschland gibt es keinen ausreichenden Zugang zu zielgruppenspezifischer Gesundheitsversorgung und Beratung – diese Situation wird durch häufig vorliegende Mehrfachdiskriminierung sowie Sprachbarrieren noch verschärft. Sexarbeit ist gesellschaftliche Realität, umfasst ein breites Spektrum sexueller und geschlechtlicher Vielfalt und kann für LSBTIQ* eine Möglichkeit zur selbstbestimmten Arbeit sein. Für queere Sexarbeiter*innen kommen neben diversen Diskriminierungsdimensionen besondere Bedarfe dazu. Der LSVD formuliert Forderungen an Politik und Zivilgesellschaft, um die Diversität innerhalb des Arbeitsfeldes auch inhaltlich in Politik und Unterstützungsstrukturen abzubilden.

Sexarbeit ist vielfältig und umfasst Tätigkeitsfelder, die gesellschaftlich und politisch oft unterschiedlich bewertet und stigmatisiert werden. Erfahrungen, Lebens- und Arbeitsrealitäten von Sexarbeiter*innen stehen daher vor unterschiedlichen Herausforderungen. Unter Sexarbeit versteht der LSVD sämtliche Arbeiten in der Sexindustrie, wie die Darstellung in Pornofilmen und -magazinen, Striptease, Lapdance/ erotischer Tanz, Tantra-Massagen, die Arbeit als Dom*inas, Escorts, Straßen- und Bordell-Prostitution, Telefonsex, Onlinesex und vieles mehr, was den Tausch einer sexuellen Dienstleistung gegen finanzielle oder materielle Vergütung beinhaltet.[1] In der Sexarbeit sind auch lesbische, schwule, bisexuelle, queere, trans*, inter* und nichtbinäre Personen tätig. Es gibt jedoch auch Angebote, die dezidiert außerhalb cis/heteronormativer Parameter stattfinden, ohne dass die Arbeiter*innen selbst Teil der LSBTIQ* Community sind.

Warum positioniert sich der LSVD zu Sexarbeit?

Die Position des LSVD zu Sexarbeit bezieht sich klar auf eine konsensuelle sexuelle oder sexualisierte Dienstleistung zwischen volljährigen Geschäftspartner*innen gegen Entgelt oder andere materielle Güter.[2] Sexuelle Ausbeutung ist eine Menschenrechtsverletzung; sie muss bekämpft und Täter*innen konsequent strafrechtlich verfolgt werden. Betroffene müssen geschützt werden. Es braucht mehr legale Migrationswege, sichere Fluchtrouten und effektive Programme gegen Menschenhandel. Betroffene können auch von den hier beschriebenen Forderungen profitieren – etwa beim Zugang zu gesundheitlicher Versorgung.

Queerfeindlichkeit ist gerade für Personen, die in der Sexarbeit tätig sind, ein alltägliches Problem. Gleichzeitig erfahren LSBTIQ* Sexarbeitende in vielen Teilen des Arbeitsmarktes noch immer massive Ausgrenzung. Dabei sind sie in ihrer Tätigkeit mitunter gezielt LSBTIQ*-feindlicher Gewalt ausgesetzt und erfahren oft auch innerhalb der Arbeitsstrukturen der Sexarbeit Ausgrenzung. Dem muss entgegengewirkt werden.

Der LSVD fordert deshalb...

… auf politischer Ebene:

  • Eine vollständige Entkriminalisierung von Sexarbeit, die derzeit durch Sondergesetze, wie beispielsweise Sperrzonenregelungen oder Registrierungspflichten ausgebremst wird.
  • Ein Ende staatlicher/nichtstaatlicher Überwachung, wie sie zum Beispiel aktuell im Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG) in Form einer Anmeldepflicht gegeben ist – die daran geknüpften Hilfsstrukturen und Sozialleistungen müssen auf andere Weise gewährleistet werden.
  • Verbesserung des gesetzlichen Schutzes vor Diskriminierung
  • Einbeziehung von Sexarbeiter*innen und ihrer diversen Realitäten bei allen wesentlichen Schritten in der Gesetzgebung und Policyarbeit als Expert*innen; Mitdenken und Einbeziehung der Bedarfe und Lebensrealitäten von Sexarbeiter*innen durch die Sozialversicherungen
  • Berücksichtigung der Bedarfe und Lebensrealitäten von Sexarbeiter*innen durch die Zivilgesellschaft; Einbezug von Bedarfen und Lebensrealitäten queerer Sexarbeiter*innen durch Berufsverbände und Selbstorganisationen von Sexarbeiter*innen
  • Der Schutz und die Versorgung von Sexarbeiter*innen muss von den Lebensrealitäten her gedacht werden. Das betrifft den diskriminierungsfreien Zugang zu Gesundheitsversorgung, Unterkunft und sozialer Gerechtigkeit frei von Ausbeutungsverhältnissen und Gewalt für alle Sexarbeiter*innen – unabhängig von Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsstatus und auch für Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus
  • Sensibilisierung, Fortbildung und Antidiskriminierungsarbeit zu Sexarbeitsfeindlichkeit in allen relevanten Behörden und Ämtern (z.B. Ordnungsamt, Gesundheitsamt), aber auch insbesondere in Polizei und Justiz mit dem Ziel, Einsätze mit hohem Risiko von Polizeigewalt (Durchsuchungen etc.) abzubauen

… für Aufklärung, Beratung und gesundheitliche Versorgung:

  • Einbezug von Berufsverbänden und Selbstorganisationen, um Zugang zu und Qualität der gesundheitlichen Versorgung zu verbessern und Diskriminierung im Gesundheitswesen abzubauen
  • Aufklärung von Fachkräften für Bedürfnisse queerer Sexarbeiter*innen an allen wichtigen Schnittstellen der physischen und psychischen Gesundheitsversorgung sowie präventiver Vorsorgeangebote.
  • Sensibilisierung bestehender Angebote für Sexarbeiter*innen für queere Themen und Abbau von Stigmatisierung für alle Sexarbeiter*innen
  • Eine nachhaltige finanzielle Absicherung bedarfsgerechter Beratungs- und Unterstützungsangebote (insbesondere Peer-to-Peer-Ansätze) unabhängig davon, ob Praktizierende weiterarbeiten oder den Beruf wechseln wollen
  • Eine Sensibilisierung bestehender Angebote für queere Themen und der Auf- und Ausbau queer-sensibler Angebote, die auch MSM (= Männer, die Sex mit Männern haben) und trans* Personen ansprechen (dies kann auch eine Stärkung aufsuchender Angebote bedeuten) und Gewalt gegen männliche Sexarbeiter ernstnehmen
  • Eine entstigmatisierende Informations- und Beratungspraxis: niedrigschwellig, mehrsprachig, unabhängig vom Aufenthaltsstatus und sensibel in der Ansprache (vorzugsweise mit Selbstbezeichnungen), auch digital
  • Finanzierung und strukturelle Absicherung ausreichender Schutzunterkünfte für Betroffene von Gewalt, die auch den Schutz männlicher, trans*, inter* und nichtbinärer Sexarbeiter*innen gewährleistet

 

[beschlossen auf dem 35. LSVD-Verbandstag am 12.03.2023 in Köln]

Beschluss hier per PDF herunterladen

 

[1] Vgl. Carolin Küppers, Gender Glossar, Sexarbeit, 2016 mit weiteren Nachweisen.

[2] Vgl. ebd.