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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Fragen und Antworten zu nicht-binären Menschen

Außerhalb der Binarität, Teil der Community

Nicht-binäre Personen werden im öffentlichen Leben immer sichtbarer. Beispielsweise sind die Sänger*innen Sam Smith und Demi Lovato offen nicht-binär. Auch Kim de l’Horizon, Preisträger*in des Deutschen Buchpreises 2022, ist nicht-binär und genderfluid. 2023 wurde das erste Mal eine offen nichtbinäre Person in den Landesvorstand einer Partei gewählt. Doch was bedeutet der Begriff eigentlich, und welche Bedarfe und queerpolitische Forderungen haben nicht-binäre Menschen? Hier ein kleiner Überblick.

Gliederung

1. Was ist “nicht-binär”?
2. Wie viele nichtbinäre Menschen gibt es? Steigt die Zahl?
3. Gibt es einen Unterschied zwischen Nichtbinarität und Transgeschlechtlichkeit?
4. Welche Diskriminierungen erfahren nichtbinäre Personen?
5. Welche Möglichkeiten des Geschlechtseintrags habe ich als nicht-binäre Person in meinem Personenstandsregister und meinem Pass?
6. Welche Pronomen benutzen nicht-binäre Menschen?
7. Nehmen nicht-binäre Menschen medizinische geschlechtsangleichende Maßnahmen in Anspruch?
8. Wie sieht die nicht-binäre Pride-Flagge aus?
9. Welche queerpolitischen Forderungen betreffen nicht-binäre Menschen?
Weiterlesen und Quellen

1. Was ist “nicht-binär”?

Nicht-binär ist ein Überbegriff für verschiedene Geschlechtsidentitäten auf dem Geschlechterspektrum. Nicht-binäre Menschen verorten sich selbst zwischen den binären Polen des geschlechtlichen Spektrums („männlich“/“weiblich“) oder außerhalb davon. Für manche verändert sich ihre Geschlechtsidentität mit der Zeit, ist also „fluide“. Der Begriff “nichtbinär” will deutlich machen, dass Menschen geschlechtliche Identität in mehr als zwei Ausprägungen (er)leben.

Außerdem gibt es verschiedene Unterbegriffe nicht-binärer Geschlechtsidentitäten, die zusätzlich genutzt werden können. Häufig werden beispielsweise folgende Bezeichnungen verwendet, um die eigene Identität zu beschreiben:

  • Agender bedeutet, dass Geschlecht für die eigene Identität keine Rolle spielt. Die Personen verorten sich außerhalb des Spektrums zwischen den Polen “Mann” und “Frau”.
  • Bigender Personen identifizieren sich teilweise mit zwei Geschlechtern (bi = zwei), zum Beispiel als Mann und als Frau.
  • Genderfluid meint, dass die Geschlechtsidentität eines Menschen in Bewegung bleibt.
  • Polygender sind Personen, die mehrere Geschlechter haben.

Während in den Medien androgyne nicht-binäre Menschen überdurchschnittlich sichtbar werden, verorten sich in der Realität Menschen mit ganz verschiedenen Körperformen, Kleidungsstilen oder Frisuren außerhalb binärer Kategorien. Nichtbinarität ist valide, egal wie Menschen andere Personen wahrnehmen würden. Ob eine Person nicht-binär ist oder nicht, kann nur sie selbst wissen. Nichtbinarität will Genderkonzeptionen aufbrechen und keine neuen Schubladen schaffen.

Wenn von einem nicht-binären Menschen gesprochen wird, wird im Englischen und inzwischen auch im Deutschen neben den einfachen Worten “Mensch” oder “Person” immer mehr der Begriff “Enby” verwendet. Die Selbstbezeichnung ist ein Nomen aus den Buchstaben „NB“ als Abkürzung für nicht-binär.

2. Wie viele nicht-binäre Menschen gibt es? Steigt die Zahl?

Immer noch gibt es kaum Studien zur Anzahl und den Lebensrealitäten von LSBTIQ*. Aber selbst in Studien über die LSBTIQ*-Community kommen nicht-binäre Menschen teilweise gar nicht vor. In Deutschland gibt es keine Studie, die zuverlässige Aussagen über den Anteil nicht-binärer Menschen an der Gesamtbevölkerung geben kann. Die meisten internationalen Studien kommen auf einen gesamten Anteil von trans* und nichtbinären Personen zwischen 0,3 und 3 Prozent (Quelle: Lydia Meyer 2023). In der weltweit größten Studie unter erwachsenen trans* Personen (ca. 28.000 Teilnehmer*innen) gaben jeweils ungefähr ein Drittel der Teilnehmer*innen an, sich als trans*männlich, trans*weiblich bzw. als nicht-binär zu identifizieren (2015 U.S. Transgender Survey (USTS)).

Vielfältige geschlechtliche Identitäten gab es schon immer. In der Studie „Error or Minority? The Identification of Non-binary Gender in Prehistoric Burials in Central Europe“ weisen Forscher*innen die Existenz nicht-binärer Menschen sogar schon in der Steinzeit nach. Die Forschenden gehen davon aus, dass etwa zehn Prozent der Menschen schon damals nicht-binär waren. In manchen Gesellschaften wurde bis zum Kolonialismus respektvoll mit geschlechtlicher Vielfalt umgegangen (u. a. Snorton, C: Black on Both Sides: A Racial History of Trans Identity; María do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung; Oyewumi, Oyeronke: Invention Of Women: Making an African Sense of Western Gender Discourses; Thomas, Greg: The Sexual Demon of Colonial Power - Pan-african Embodiment and Erotic Schemes of Empire. Indiana University Press, 2007.)

Heutzutage gibt es eine Entwicklung hin zu mehr Sichtbarkeit, Offenheit und Anerkennung von trans* und nicht-binären Personen. Geschlechtliche Vielfalt als „Trend“ abzuwerten, bedeutet, dass man diese Vielfalt ablehnt. Wenn eine Zunahme von nicht-binären Coming-Outs beobachtet wird, hat dies vor allem mit einem steigenden Bewusstsein und der höheren Sichtbarkeit von trans*männlichen und nicht-binären Lebensweisen zu tun.

3. Gibt es einen Unterschied zwischen Nichtbinarität und Transgeschlechtlichkeit?

Manche nicht-binäre Menschen identifizieren sich selbst auch als trans*. Trans* und nicht-binäre Menschen haben gemeinsam, dass der Geschlechtseintrag, der ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde, nicht mit der tatsächlichen Geschlechtsidentität übereinstimmt. Andere nichtbinäre Menschen verbinden das Adjektiv “trans*” allerdings nur mit trans* Frauen und Männern. Deshalb lehnen sie das Label für sich selbst als zu binär ab.

Was trans* und nicht-binäre Menschen jedoch verbindet, sind nicht nur gemeinsame Diskriminierungserfahrungen, sondern auch gemeinsame Kämpfe um gesellschaftliche und rechtliche Anerkennung. So kann ein Selbstbestimmungsgesetz trans*, inter* und nicht-binären Menschen ermöglichen, selbst über den Vornamen und Geschlechtseintrag zu bestimmen. Trans*feindliche Diskriminierungen zum Beispiel bei der Passkontrolle oder auf der Straße betreffen sowohl trans* als auch inter* und nicht-binäre Menschen. 39,7 % der befragten trans* und nicht-binären Personen gaben in einer Studie des Robert-Koch-Instituts und der Deutschen Aidshilfe von 2023 an, dass ihre geschlechtliche Identität nur manchmal oder nie respektiert werde, während mehr als die Hälfte der Befragten (60,3 %) berichtete, dass dies meistens oder immer der Fall sei. Dennoch gaben auch fast zwei Drittel der Teilnehmer*innen (62,4 %) an, dass sie im Zusammenhang mit ihrer geschlechtlichen Identität manchmal und 22,1 %, dass sie meistens oder immer diskriminiert werden. Trans* und nicht-binäre Menschen nehmen laut Studien weniger medizinische Präventions- und Versorgungsangebote in Anspruch. Sie erleben dort Hürden, die sowohl auf Scham als auch auf Stigmatisierung sowie erfahrene oder befürchtete Diskriminierung hinweisen. (Forschungsbericht: Sexuelle Gesundheit und HIV/STI in trans und nicht-binären Communitys)

2023 erhob die Studie des Meinungsforschungsinstitut IPSOS erstmals die Einstellung gegenüber trans* Personen in 27 Ländern, wobei durch das Sternchen auch nicht-binäre Menschen mitgemeint sein sollen. Im Durchschnitt der dreißig untersuchten Länder wird die Ansicht, dass trans* Menschen im eigenen Land stark diskriminiert werden, von 67 % der Befragten geteilt. Zwei Drittel (68 %) sprechen sich in Deutschland grundsätzlich dafür aus, dass trans* Personen in Bereichen wie Arbeit und Wohnen sowie beim Zugang zu Restaurants oder Geschäften vor Diskriminierung geschützt werden sollten.

Die Studie “Prevalence of Substance Use and Mental Health Problems among Transgender and cisgender US Adults” der UCLA erforschte 2023 unter anderem das Risiko, im Lauf des Lebens einen Suizid zu erwägen. Dieser lag bei cisgeschlechtlichen Erwachsenen bei 35 % – deutlich weniger als die 81 % Prävalenz zu Suizidgedanken transgeschlechtlicher Menschen. Hier wurden auch nicht-binäre Personen erfasst. Das erhöhte Risiko für psychische Erkrankungen wie Depression ist auf ein nicht unterstützendes, sondern diskriminierendes Umfeld zurückzuführen – dabei wird wissenschaftlich auch vom „Minority Stress“ (Minderheitenstress) gesprochen.

Doch auch innerhalb der Gruppe trans*geschlechtlicher Menschen gab es Unterschiede. So berichteten etwa nicht-binäre Menschen viermal so häufig von Alkoholmissbrauch als zum Beispiel transgeschlechtliche Frauen. Und gegenüber trans*geschlechtlichen Männern haben nicht-binäre Menschen ein sechsmal so häufiges Risiko, in der Vergangenheit einmal Suizid erwogen zu haben. Die Studienautor*innen führten die besondere Situation nicht-binärer Menschen auf den starken Mangel gesellschaftlicher Akzeptanz und Repräsentation dieser Gruppe zurück.

4. Welche Diskriminierungen erfahren nichtbinäre Personen?

Viele Aspekte unserer Gesellschaft sind noch immer entlang eines binären Geschlechtssystems strukturiert, vom Schulsport bis hin zum Kontakt mit Krankenkassen. Deswegen sind die alltäglichen Diskriminierungserfahrungen nicht-binärer Menschen vielfältig. Häufig muss medizinisches Fachpersonal durch trans* und nicht-binäre Menschen selbst aufgeklärt werden (60,4 % in den letzten zwölf Monaten laut der RKI/DAH-Studie von 2023). Es zeigt sich immer wieder, dass die geschlechtliche Identität trans* und nicht-binärer Menschen nicht ernst genommen wird, wenn zusätzlich eine psychische Diagnose vorliegt (18,5 % in den letzten 12 Monaten ebd.). Aber auch in sexuell intimen Situationen berichten 40 % der trans* und nicht-binären Personen davon, dass ihre Identität in den letzten zwölf Monaten nicht ernst genommen wurde (ebd.).

Die wiederholt falsche Interpretation der Geschlechtsidentität durch fremde Personen und das damit verbundene Unbehagen kann dazu führen, Restaurants und Cafés zu vermeiden oder weniger die Schule zu besuchen. Als besonders belastend wird vor allem die bewusste Entwertung der Geschlechtsidentität von vertrauten Personen wahrgenommen. (Diskriminierungserfahrungen von Personen mit nicht-binärer Geschlechtsidentität (uni-potsdam.de)) Die Studien, die derzeit zu geschlechtsspezifischer Gewalt vorliegen, berücksichtigen diese Geschlechtsidentitäten nicht bzw. beziehen nicht genügend Befragte mit trans* Identitäten ein, um aussagekräftige Ergebnisse zu ihrer Gewaltbetroffenheit hervorzubringen.

5. Welche Möglichkeiten des Geschlechtseintrags habe ich als nicht-binäre Person in meinem Personenstandsregister und meinem Pass?

Das Geschlecht einer Person wird als Geschlechtseintrag im Personenstandsregister und im Pass vermerkt. Im Personalausweis steht es – entgegen landläufiger Meinung – nicht. Seit 2018 können nicht-binäre Personen neben „männlich“ und „weiblich“ zwei weitere Eintragungsformen wählen: Sie können den Geschlechtseintrag „divers“ eintragen lassen oder den Geschlechtseintrag komplett streichen lassen. Die Möglichkeit der Streichung des Geschlechtseintrags gibt es bereits seit 2013.

Der Eintrag im Pass folgt in der Regel dem Eintrag im Personenstandsregister. Das kann nicht-binäre Menschen jedoch bei Auslandsreisen Probleme bereiten: Nicht alle Staaten akzeptieren einen Geschlechtseintrag "divers" oder das Fehlen des Geschlechtseintrags; in manchen Ländern kann es sogar gefährlich sein, sich als nicht-binäre Person zu outen. Daher können nichtbinäre Menschen einen zweiten Reisepass beantragen, der die Eintragung „männlich“ oder „weiblich“ hat und damit sicheres Reisen ermöglicht. Im aktuellen Entwurf des Selbstbestimmungsgesetzes von Herbst 2023 ist diese Regelung allerdings nicht mehr vorgesehen.

Der Weg zur Änderung des Geschlechtseintrags ist nach derzeitiger Rechtslage unterschiedlich, je nachdem, ob die nicht-binäre Person intergeschlechtlich ist oder nicht. Intergeschlechtliche Personen können seit 2018 mit der Vorlage eines ärztlichen Attests durch eine einfache Erklärung auf dem Standesamt ihren Geschlechtseintrag und ihre Vornamen ändern lassen. Nicht-binäre Personen, die nicht intergeschlechtlich sind, müssen hingegen das Verfahren nach dem Transsexuellengesetz (TSG) beschreiten. Das hat der Bundesgerichtshof 2020 entschieden (BGH, Beschluss XII ZB 383/19 vom 22.04.2020). Das bedeutet, sie müssen ein gerichtliches Verfahren vor dem Amtsgericht führen und dazu mehrere psychologische Gutachten vorlegen.

Personen, die keine rechtliche Transition anstreben oder die noch mitten im Verfahren sind, können sich einen sogenannten Ergänzungsausweis bei der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (dgti) ausstellen lassen. Der dgti-Ergänzungsausweis ist ein standardisiertes Ausweispapier, das aussieht wie ein Personalausweis. Es dokumentiert alle selbstgewählten personenbezogenen Daten (Vorname, Pronomen und Geschlecht), zeigt ein aktuelles Passfoto; zudem ist die Nummer des Personalausweises aufgedruckt, um z. B. nachzuweisen, dass es sich um die Person handelt, welche der Ausweis zeigt, auch wenn man z. B. bereits medizinische Transitionsschritte gemacht hat. Obwohl es sich nicht um ein amtliches Dokument handelt, ist der Ergänzungsausweise heute bei sämtlichen Innenministerien, bei der Polizei, vielen Behörden, Banken, Universitäten, Versicherungen und anderen Stellen in Deutschland bekannt und akzeptiert.

6. Welche Pronomen benutzen nicht-binäre Menschen?

Nicht-binäre Personen verwenden häufig Pronomen, die nicht „sie“ oder „er“ sind. Das liegt in der Regel an dem Wunsch, sichtbar zu machen, dass diese Person weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugehörig ist. Die deutsche Sprache kennt jedoch – anders als beispielsweise das Englische oder Schwedische – keine geschlechtsneutralen Personalpronomen für Menschen. Das Pronomen „es“ wird von nicht-binären Menschen überwiegend nicht verwendet, weil es in der deutschen Sprache in der Regel nur für Gegenstände und Tiere verwendet und daher als abwertend empfunden wird. Stattdessen verwenden nicht-binäre Menschen häufig entweder geschlechtsneutrale Pronomen aus anderen Sprachen (z. B. „they“, „hen“) oder sog. Neopronomen. Neopronomen sind Wortneuschöpfungen, die die Lücke des im Deutschen nicht vorhandenen geschlechtsneutralen Pronomens schließen sollen.

Mögliche Neopronomen im Deutschen:

  • dey, dem(m), deren (an das Englische “they” angelehnt)
    Beispielsatz: Dey kommt 5 Minuten später.
  • xier/xiers (gesprochen, wie es geschrieben wird)
    Beispielsatz: Das ist xiers Buch.
  • Ens
    Beispielsatz: Ens hat mich gestern angerufen.
  • ey/ em
    Beispielsatz: Ich gehe später mit ey spazieren.

Manche Menschen benutzen auch kein Pronomen und möchten, dass man statt eines Pronomens den Vornamen verwendet, wenn über sie gesprochen wird. Eine Übersicht zu möglichen Pronomen findest du in diesem Wiki.

Woher weiß ich dann, welche Pronomen ich für eine nicht-binäre Person verwenden soll? Das Geschlecht einer Person ist nicht von außen ablesbar. Viele Menschen stellen sich deshalb im täglichen Leben direkt mit ihren Pronomen vor oder schreiben ihre Pronomen im Schriftverkehr in die E-Mail-Signatur oder tragen Pronomen-Buttons an der Kleidung.

Hier gibt es eine Möglichkeit für Allys, ihre nicht-binären Mitmenschen zu unterstützen: Wenn sich alle Menschen mit ihren Pronomen vorstellen, machen sie es nicht-binären, inter* und trans* Personen leichter, ihre Pronomen anzugeben: „Hey, ich bin Lisa. Meine Pronomen sind sie/ they.“ Wenn man das Pronomen einer Person nicht kennt oder es vergessen hat, kann man die Person auch danach fragen, welches Pronomen sie verwendet – genauso, wie wenn man nach dem Namen einer Person fragt. Dabei sollten nicht nur Personen nach den Pronomen gefragt werden, die äußerlich nicht der binären Norm entsprechen.

Die Verwendung der richtigen Pronomen und Selbstbezeichnungen ist wichtig, um trans*, inter* und nicht-binären Menschen zu zeigen: „Ich nehme dich und deine Identität ernst.“ Das sendet außerdem ein wichtiges Signal an das Umfeld, dass man respektvoll mit dem Gegenüber umgeht. Sich hier Mühe zu geben, ist ein nicht zu unterschätzender Beitrag für einen respektvollen Umgang unserer Gesellschaft mit Vielfalt. Denn absichtliches Misgendern und Deadnaming, also das Verwenden der abgelegten Pronomen und Vornamen, gehören für nicht-binäre Menschen leider noch immer zum Alltag: In einer aktuellen Studie der Deutschen Aids-Hilfe und des Robert-Koch-Instituts berichten 79,8 % der befragten trans* und nicht-binären Personen, dass in den letzten zwölf Monaten über sie mit einem falschen Pronomen gesprochen wurde oder sie mit einem Namen angesprochen wurden, den sie nicht mehr nutzen. Zudem zeigen verschiedene Studien die fatalen gesundheitlichen Folgen von Deadnaming und Misgendern auf (Mental Health of Transgender Children Who Are Supported in Their Identities | Pediatrics | American Academy of Pediatrics; The social psychological dynamics of transgender and gender nonconforming identity formation, negotiation, and affirmation - Carole J. Hetzel, K. Mann, 2021).

Es ist immer richtig, respektvoll nachzufragen, wie eine Person angesprochen werden möchte. Eine geschlechtsneutrale Ansprache ist leichter, als viele denken. Wie wäre es mit “Guten Tag Vorname Nachname” bzw. mit "Hallo Vorname"? Das ist im professionellen und im privaten Kontext leicht umsetzbar.

7. Nehmen nicht-binäre Menschen medizinische geschlechtsangleichende Maßnahmen in Anspruch?

Eine Geschlechtsangleichung ist immer eine sehr persönliche Entscheidung; die Nichtbinarität ist auch valide, wenn keine Transition angestrebt wird. Nicht-binäre Personen können rechtlich, sozial und/oder medizinisch transitionieren, sprich nach ihrem Geschlecht leben.

a) Rechtliche Transition

Die Bundesrepublik ermöglicht seit 2013 die rechtliche Existenz von Nichtbinarität – seither können Menschen ihren binären Geschlechtseintrag im Personenstandsregister streichen lassen. Seit 2018 können nicht-binäre Menschen auch den Geschlechtseintrag „divers“ wählen. Trotzdem werden nicht-binäre Menschen in vielen gesellschaftlichen und politischen Debatten nicht ausreichend berücksichtigt. Gleichstellungsdebatten gehen beispielsweise überwiegend von nur zwei Geschlechtern aus. Daher regeln Gleichstellungsmaßnahmen wie Geschlechterquoten oder die Einführung von Gleichstellungsbeauftragten meist nur die Gleichstellung zwischen Männern und Frauen und vergessen darüber die Repräsentation und Teilhabe nicht-binärer Menschen. Das Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (KJSG) war 2021der erste Gesetzestext, der erstmals ausdrücklich von nicht-binären Personen sprach.

b) Soziale Transition

Bei der sozialen Komponente von Geschlechtlichkeit geht es u. a. um ein inneres und/oder äußeres Coming-Out, das Sprechen über die Person mit den korrekten Personalpronomen und die Anrede mit dem selbstgewählten Vornahmen, oder auch der Beziehungsbezeichnung als Kind, Tochter, Mutter, Freund oder Opa. Aber auch die Wahl geschlechtsaffirmativer Kleidung oder Frisuren kann bei der sozialen Transition eine Rolle spielen.

c) Medizinische Transition

Der Begriff „medizinische Transition“ fasst verschiedene medizinische Maßnahmen zusammen. Manche nicht-binären Personen nehmen z. B. Operationen oder eine Hormonersatztherapie in Anspruch. Für Krankenversicherte werden die Kosten für Hormone und geschlechtsangleichende Operationen von den Krankenkassen übernommen. Medizinische geschlechtsangleichende Maßnahmen können Menschen dabei unterstützen, sich mit ihrem äußeren Erscheinungsbild besser identifizieren zu können und dadurch wohler zu fühlen. Der Forschungsbericht der Deutschen Aids-Hilfe und des Robert-Koch-Instituts zeigt jedoch, dass binär verortete trans* Personen deutlich häufiger medizinische geschlechtsangleichende Maßnahmen vornehmen als Personen, die sich auch oder ausschließlich im nicht-binären Spektrum verorten. Eine Entscheidung für oder gegen eine medizinische Transition macht eine nicht-binäre Geschlechtsidentität nicht mehr oder weniger valide.

8. Wie sieht die nicht-binäre Pride-Flagge aus?

Die Pride-Flagge besteht aus einem gelben, lilafarbenen, weißen und schwarzen Streifen. Der gelbe Streifen steht für die Menschen, deren Geschlecht außerhalb der zweigeschlechtlichen Norm liegt, da gelb oft als geschlechtsneutrale Farbe fungiert. Weiß steht für Menschen mit vielen oder allen Geschlechtern, da in weiß alle anderen Farben enthalten sind. Lila steht für die Menschen, deren Geschlecht eine Mischung aus männlich und weiblich ist – und gleichzeitig für die Fluidität von Geschlecht. Schwarz steht für Menschen, die kein Geschlecht haben.

9. Welche queerpolitischen Forderungen betreffen nicht-binäre Menschen?

Viele der queerpolitischen Forderungen des LSVD betreffen die ganze LSBTIQ*-Community – so auch nicht-binäre Personen. Zum Beispiel ist der Kampf gegen Hasskriminalität, für ein verbessertes Antidiskriminierungsrecht, für Aufklärung in Schulen und Jugendarbeit sowie für ein gerechtes Asylrecht für alle LSBTIQ* wichtig. Manche unserer Forderungen aus unserem Programm sind aber besonders relevant für nicht-binäre Menschen.

Dazu gehören insbesondere:

a) Selbstbestimmungsgesetz

Bis heute ist die Änderung des Namens und Geschlechtseintrags für trans* und nicht-binäre Personen durch das „Transsexuellengesetz“ (TSG) geregelt. Danach müssen sich nicht-binäre Personen begutachten und als psychisch krank definieren lassen, wenn sie eine Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags beantragen. In einem langwierigen Verfahren vor dem Amtsgericht wird dann mithilfe zweier Gutachten darüber entschieden, ob die Person wirklich „trans* oder nicht-binär genug“ ist und ob der Vorname und/ oder der Geschlechtseintrag geändert werden darf. Die aktuelle Rechtslage ist durch Fremdbestimmung und Abhängigkeit geprägt. Von vielen Betroffenen wird das als sehr belastend erlebt.

Anders ist das für nicht-binäre inter* Personen. Sie können seit 2018 ihren Personenstand beim Standesamt ändern lassen. Dazu müssen sie jedoch ein ärztliches Attest vorlegen, dass ihnen eine „Variante der Geschlechtsentwicklung“ bescheinigt. Diese Pathologisierung wird von vielen inter* Personen, die mit dem Gesundheitssystem regelmäßig sowieso bereits negative Erfahrungen gemacht haben, als bevormundend und belastend erlebt (https://www.transinterqueer.org/wp-content/uploads/2021/11/TrIQinfo-med-eingriffe_2016.pdf).

b) Abstammungsrecht

Der LSVD fordert die Bundesregierung auf, das Abstammungsrecht diskriminierungsfrei für nicht-binäre Elternteile zu gestalten. Das aktuelle Abstammungsrecht ist binär geregelt und kennt nur „Mutter“ und „Vater“.  Nicht-binäre Elternteile werden entweder fälschlich als „Mutter“ oder „Vater“ in die Geburtsurkunde ihrer Kinder eingetragen oder müssen schlimmstenfalls zunächst ihre eigenen Kinder als Stiefkinder adoptieren, um überhaupt rechtlicher Elternteil werden zu können. Wir fordern daher, eine Eintragung als "Elternteil" ab Geburt des eigenen Kindes zu ermöglichen. Die Reform des Abstammungsrechts für nicht-binäre Elternteile ist spätestens seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten „dritten Option“ beim Geschlechtseintrag von 2017, das die personenstandsrechtliche Existenz nicht-binärer Personen festgeschrieben hat, überfällig (BVerfG, Beschl. v. 10.10.2017, Az. 1 BvR 2019/16).

c) Forschung

Wir fordern von Bundesregierung, Landesregierungen und Kommunen, bei jeglicher Datenerhebung auch nicht-binäre Menschen mit zu berücksichtigen. Das gilt insbesondere für Erhebungen des statistischen Bundesamts sowie für Forschung und Statistiken im Bereich Gesundheit.

d) Hasskriminalität

Im Bereich der Hasskriminalität gegen LSBTIQ* müssen Vorkehrungen getroffen werden, um genauere Daten über das Auftreten, die Ursachen und Auswirkungen von geschlechtsspezifischer Gewalt zu erheben und diese jährlich zu veröffentlichen. Die Daten müssen trennscharf erhoben werden; die Unterthemenfelder der Erhebung des Bundesinnenministeriums ermöglichen derzeit keine Identifizierung von spezifisch nicht-binären Betroffenengruppen.

Als Sofortmaßnahmen im staatlichen Handeln fordert der LSVD eine Reform der polizeilichen Erfassungsmethoden, wirksame Gewaltschutzkonzepte für Geflüchtetenunterkünfte und die sichtbare Inklusion von LSBTIQ* in alle bestehenden Programme gegen Mobbing und Gewalt sowie bei der Umsetzung des „Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ (Istanbul-Konvention). Auch in der Gesetzgebung sind sofortige Schritte möglich und nötig: Die Straftatbestände der Volksverhetzung (§ 130 StGB) und der verhetzenden Beleidigung (§ 192a StGB) sind dringend um queerfeindliche Motive zu ergänzen, um einen umfassenden strafrechtlichen Schutz auch nicht-binärer Personen zu gewährleisten.

e) Gleichstellungsmaßnahmen und Quoten

Gleichstellungsgesetze und -maßnahmen sind fast ausschließlich binär verfasst und beziehen sich nur auf Frauen und Männer. Nicht-binäre Personen kommen trotz der für sie bestehenden tatsächlichen Nachteile im Gleichstellungsrecht regelmäßig nicht vor. Sie sind deshalb von Fördermaßnahmen und Nachteilsausgleichen nach diesen Regelungen ausgeschlossen. Der Gesetzgeber muss den Anwendungsbereich des Gleichstellungsrechts geschlechterinklusiv weiterentwickeln, beispielsweise indem er die für Frauen anwendbare Positivrechte und Förderpflichten für auf nicht-binäre Menschen entsprechend anwendbar erklärt (vgl. hierzu die beiden ausführlichen Gutachten DIMR, Geschlechtervielfalt im Recht; Dutta/Fornasier, Jenseits von männlich und weiblich – Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung im Arbeitsrecht und öffentlichen Dienstrecht des Bundes).

Viele weitere unserer Forderungen für Queerpolitik stehen in unserem ausführlichen Programm.

Kerstin Thost,
Pressesprecher*in

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