Mit welcher Identität und welchem Personenstandseintrag leben intergeschlechtliche Menschen?
Faktenpapier zu Intergeschlechtlichkeit
Hier dokumentieren wir das erste Faktenpapier "Mit welcher Identität und welchem Personenstandseintrag leben intergeschlechtliche Menschen?" des Vereins Intergeschlechtliche Menschen. Die insgesamt vier Broschüren "Fakten zu Intergeschlechtlichkeit" des Vereins Intergeschlechtliche Menschen entstehen seit 2020 im Rahmen des Kompetenznetzwerkes "Selbst.verständlich Vielfalt" und können dort auf der Webseite auch als pdf kostenlos heruntergeladen werden.
Für das Kompetenznetzwerk hat der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) gemeinsam mit dem Bundesverband Trans* und der Akademie Waldschlösschen die "Demokratie leben!" Förderung erlangt. Der Verein Intergeschlechtliche Menschen e.V. bereichert das LSVD-Projekt mit seiner Expertise zu den Varianten der geschlechtlichen Entwicklung.
Begriffsklärung
Variante der Geschlechtsentwicklung
Bezeichnung für Geschlechtsmerkmale bei Menschen, die nicht den Geschlechtsnormen von Mann und Frau entsprechen.
Intergeschlechtlich
(Selbst-)Bezeichnung für eine Person, deren genetische, anatomische und/oder hormonelle Geschlechtsmerkmale von Geburt an nicht den Geschlechternormen von Mann und Frau entsprechen. Der Begriff entstand aus der Menschenrechtsbewegung.
Variante der Geschlechtsentwicklung
Jeder Mensch wird mit einer individuellen Geschlechtsentwicklung geboren. Für eine bestimmte Gruppe von Menschen ergibt sich daraus allerdings eine Sonderstellung. In Deutschland leben schätzungsweise bis zu 120.000 Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung (VdG). Diese Menschen werden mit körperlichen Geschlechtsmerkmalen geboren, die zwischen den gängigen Kategorien von Mann und Frau liegen oder eine Mischung von beiden sind. Die Zuschreibung zu einem Geschlecht erfolgt über die Chromosomen, die äußeren und inneren Geschlechtsorgane oder den Hormonspiegel.
Ob eine Person intergeschlechtlich ist, lässt sich oft nicht auf den ersten Blick erkennen. Einige Babys bekommen direkt bei Geburt eine medizinische Diagnose. Bei anderen Menschen dauert es bis zur Pubertät oder noch länger, bis sie erfahren, dass sie intergeschlechtlich geboren wurden. Es gibt sehr viele unterschiedliche Varianten der Geschlechtsentwicklung. Jeder Mensch hat seine eigene, ganz individuelle Körperlichkeit – so weit, so normal. Alle Menschen sind verschieden und ihre Körper sind es ebenso.
Eine Variante der Geschlechtsentwicklung ist keine Krankheit. Viele intergeschlechtliche Menschen wurden und werden dennoch im Kindesalter ohne ihre Zustimmung operiert und/oder mit Hormonen behandelt. Diese Behandlungen sind oft nicht notwendig, aber sie können Spätfolgen haben. Personen mit VdG brauchen deshalb kompetente ärztliche Unterstützung und Zugang zu Gesundheitsleistungen. In Deutschland gibt es noch kein Gesetz, das intergeschlechtlich geborene Kinder vor Operationen an den äußeren und inneren Genitalien und Keimdrüsen schützt. Mehrere Ausschüsse der Vereinten Nationen haben diese Praxis als Verletzung der Menschenrechte klassifiziert und die Bundesrepublik Deutschland aufgefordert, dies zu ändern. (1)
Individuelle Geschlechtsidentität und Personenstand
Intergeschlechtlich geborene Menschen entwickeln sich sehr unterschiedlich. Dies bezieht sich sowohl auf die Entwicklung ihrer Geschlechtsidentität als auch darauf, wie sie sich selbst wahrnehmen. Zudem entscheiden sich die einzelnen Personen, in welcher sozialen Rolle sie leben und wie sie von anderen wahrgenommen werden möchten. Darin unterscheiden sich intergeschlechtlich geborene Menschen nicht von anderen Männern und Frauen. Die individuelle Geschlechtsidentität einer Person kann sich von der biologischen Ausprägung des Geschlechts unterscheiden. Mit der Angabe ihrer Geschlechtsidentität drückt eine Person aus, ob sie sich selbst als Mann, Frau, dazwischen oder etwas Eigenes sieht. Die geschlechtliche Identität ist durch das Grundgesetz besonders geschützt. (2) Eine Person mit VdG kann sich, wie alle anderen Menschen auch, als eher männlich, eher weiblich oder nicht-binär fühlen.
Erfahrungswerte aus Selbsthilfegruppen zeigen, dass die individuelle Geschlechtsidentität bei Personen mit VdG oft nicht mit der offiziellen Eintragung im Personenstandsregister übereinstimmt. Im Jahr 2013 wurde eine neue Möglichkeit geschaffen: Bei Neugeborenen mit einer bestätigten, körperlichen Variante der Geschlechtsentwicklung hatte der Geschlechtseintrag jetzt offen zu bleiben. Intergeschlechtlich geborene Erwachsene konnten ihren „falschen“ männlichen oder weiblichen Eintrag auf Antrag löschen lassen und der Geschlechtseintrag blieb ebenfalls offen. (3)
Bundesverfassungsgericht: Positiver Eintrag muss möglich sein
Gegen diese Regelung hat eine intergeschlechtliche Person geklagt. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte am 10. Oktober 2017, dass ein positiver Eintrag für Personen ermöglicht werden muss, „die die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen“ (4). Das Urteil verdeutlicht, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht in Artikel 2, Absatz 1 des Grundgesetzes auch die geschlechtliche Identität schützt. Das umfasst die Möglichkeit eines positiven Eintrags im Personenstandsrecht. (5) Der rechtliche Rahmen für die Erfassung von Geschlecht musste neu geregelt werden.
Im Zuge des Gesetzgebungsprozesses fand eine Evaluierung der Meinung von intergeschlechtlichen Menschen zu den Möglichkeiten im Personenstandsregister statt. Eine Befragung von Menschen mit VdG in Deutschland aus dem Jahr 2018 zeigt, dass sich 17,4 Prozent der befragten Personen für einen offenen Geschlechtseintrag entschieden hatten, 56,5 Prozent waren als weiblich und 26,1 Prozent als männlich registriert. Die Mehrheit der Personen gab außerdem an, über eine Berichtigung des Personenstands nachzudenken. (6)
Seit dem 01. Januar 2019 gibt es für Menschen mit VdG mit „divers“ eine weitere, positive Möglichkeit im Personenstandsgesetz. Intergeschlechtliche Menschen können nun zwischen „divers“, männlich, weiblich oder einem offenen Personenstand wählen. Die Regelung erhöht die Sichtbarkeit von Menschen mit VdG in der Gesellschaft. Bei Stellenausschreibungen werden jetzt in der Regel drei Personenstände angegeben, nämlich m/w/d. Die Bedeutung dieser Abkürzung wurde allerdings bisher von der Politik nicht genau genug erklärt. Daher wird sie oft missverstanden. Menschen mit einem offenen Personenstand werden in Stellenausschreibungen weiterhin nicht berücksichtigt.
Wenn Menschen mit VdG ihren Eintrag im Personenstandsregister nicht in „divers“ ändern, kann das unterschiedliche Gründe haben:
- Weil eine diverse Geschlechtsidentität in der Breite der Gesellschaft nicht akzeptiert ist, befürchten Betroffene Nachteile und Ausgrenzung im Berufs- und Privatleben.
- Bei Menschen, die gerne reisen, besteht die Sorge, dass sie bei der Einreise in ein anderes Land Probleme bekommen, stigmatisiert werden oder gar nicht einreisen dürfen.
Die Änderung des Personenstandes ist mit Aufwand verbunden: Es muss eine ärztliche Bescheinigung ausgestellt und ein Antrag beim Standesamt gestellt werden.
Der Entschluss, seinen Geschlechtseintrag auf „divers“ zu ändern, ist eine sehr persönliche Entscheidung. Es ist allerdings auch nicht wichtig, wie viele Menschen in Deutschland einen Geschlechtseintrag haben, der nicht männlich oder weiblich ist. Wichtig ist, dass Menschen in Deutschland die Möglichkeit haben, sich selbst positiv zu bezeichnen, wenn sie eine diverse Geschlechtsidentität haben. Die staatliche und gesellschaftliche Herausforderung ist es nun, die verfassungsrechtlichen Feststellungen umzusetzen und die gleichberechtigte Teilhabe für Menschen mit VdG zu gewährleisten.
Welchen Geschlechtseintrag haben Menschen mit Variante der Geschlechtsentwicklung?
In Deutschland liegen keine aktuellen gesicherten Daten über die tatsächliche Häufigkeit und die Bedingungen für eine Personenstandsänderung und -Berichtigung vor. Somit werden sie für Politik und Verwaltung wenig sichtbar. Die Erkenntnisse der Selbstvertretung intergeschlechtlicher Menschen im Verein Intergeschlechtliche Menschen e. V. und der Beratung ergeben folgendes Bild:
Personenstandseinträge von intergeschlechtlich geborenen Menschen | offen | weiblich | männlich | divers | berichtigt | nach Änderung |
Kind, geboren vor 2013 | sehr selten | sehr häufig | häufig | selten | sehr selten | selten |
Kind, geboren nach 2013 | selten | sehr häufig | häufig | selten | selten | sehr selten |
Erwachsene:r, geboren vor 2013 | selten | sehr häufig | häufig | selten | selten | selten |
Erwachsene:r, geb. vor 2013 mit nicht eingewilligten Eingriffen an Genitalien und Keimdrüsen | selten | sehr häufig | selten | selten | selten | selten |
Tabelle: Möglichkeit des Personenstands bei inter* Personen, eigene Darstellung nach Erfahrungswerten aus der Selbsthilfe, zusammengetragen durch Intergeschlechtliche Menschen e.V.
Über Intergeschlechtliche Menschen e.V.
Intergeschlechtliche Menschen e. V. setzt sich ein für ein selbstbestimmtes, diskriminierungsfreies Leben aller Menschen. Intergeschlechtliche Menschen e. V. steht ein für die Verwirklichung der Menschenrechte und wendet sich gegen jede Art der Diskriminierung und Benachteiligung wegen des Geschlechtes auf nationaler und internationaler Ebene.
Intergeschlechtliche Menschen e. V. leistet für intergeschlechtlich geborene Menschen:
- Unterstützung, Finanzierung, Förderung und Ausbildung von Selbsthilfegruppen;
- Individuelle Beratung, Unterstützung und Hilfe zu Lebenssituation;
- Unterstützung der Selbsthilfe auch von Eltern mit intergeschlechtlichen Kindern;
- die Kooperation mit anderen Initiativen und Verbänden mit ähnlicher Zielsetzung;
- Beratung und Weiterbildung politischer, gesellschaftlicher und medizinischer Einrichtungen;
- den Aufbau eines Netzes landesspezifischer Selbsthilfe- und Beratungsstellen;
- Weitergabe der besonderen Expertisen, intergeschlechtliche Lebensentwürfe betreffend.
Kontakt
Intergeschlechtliche Menschen e. V.
Slebuschstieg 6
20537 Hamburg
Telefon: 0170-7090385
Homepage: www.im-ev.de
E-Mail: vorstand@im-ev.de
Quellenverzeichnis
(1) https://www.ohchr.org/Documents/Issues/Discrimination/LGBT/BackgroundNoteHumanRightsViolationsagainstIntersexPeople.pdf [abgerufen am 29.05.2020] und https://www.ohchr.org/en/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=21208&LangID=E [abgerufen am 29.05.2020]
(2) https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/10/rs20171010_1bvr201916.html [abgerufen am 29.05.2020]
(3) https://www.bundestag.de/resource/blob/565996/50dee81f312fc665923f7068f834a8dd/WD-7-098-18-pdf-data.pdf S. 6-7 [abgerufen am 29.05.2020]
(4) https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/10/rs20171010_1bvr201916.html [abgerufen am 29.05.2020]
(5) https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/10/rs20171010_1bvr201916.html [abgerufen am 29.05.2020]
(6) Intergeschlechtliche Menschen e.V. 2018 http://www.im-ev.de/pdf/2018_06_25_Auswertung_WEITERES_zum_Meinungsbild.pdf [abgerufen am 02.06.2020]
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