"Ein sturmfestes Grundgesetz für eine demokratische Zukunft" - Rede des LSVD am Berliner CSD 2024
Bundesvorstand Andre Lehmann und Pressesprecher*in Kerstin Thost
Noch in diesem Jahr wird es in Deutschland endlich ein Selbstbestimmungsgesetz geben. Vor sieben Jahren wurde endlich die Ehe für alle Menschen geöffnet. Vor 30 Jahren wurde endlich der Unrechtsparagraf 175 abgeschafft, durch den homosexuelle Handlungen in der Bundesrepublik noch bis 1994 im Strafgesetzbuch standen.
Und seit 75 Jahren gilt das Grundgesetz. Ein Grundgesetz, das den Anspruch erhebt, die Lehren aus der Dunkelheit des Nationalsozialismus gezogen zu haben. Ein Grundgesetz, das den Anspruch erhebt, die Menschen zu schützen, die von den Nazis verfolgt wurden.
Und doch, dieses Grundgesetz vergisst seit 75 Jahren konsequent eine Gruppe. Und die steht Jahr für Jahr hier beim CSD auf der Straße des 17. Juni. Es ist jetzt endlich Zeit, Artikel 3 des Grundgesetzes um den wortwörtlichen Schutz queerer Menschen vor Diskriminierung zu ergänzen. Das ist überfällig!
Teile der Union erzählten uns aber kürzlich: Es gebe hier gar keine Schutzlücke. Queere Menschen seien bereits ausreichend geschützt. Aber das stimmt nicht! Sogar das Bundesverfassungsgericht hat bereits einmal geurteilt, dass Paragraf 175 im Einklang mit dem Grundgesetz gewesen ist.
Wer verspricht uns eigentlich, dass dieses Unrecht nicht wieder passieren kann? Wer verspricht uns, dass man uns unsere Rechte nicht wieder wegnimmt? Es geht darum, unser Grundgesetz sturmfest zu machen.
An jedem einzelnen Tag ohne unseren wortwörtlichen Schutz im Grundgesetz kann jedes Recht, das wir erkämpft haben, im Bundestag mit einfacher Mehrheit zur Diskussion stehen. An jedem einzelnen Tag ohne unseren wortwörtlichen Schutz im Grundgesetz stehen die Rechte von Millionen Menschen in Deutschland auf dem Spiel. Bereits jetzt sehen wir täglich mehr und mehr Angriffe auf uns. So kann es nicht weitergehen!
Liebe Union, gebt euch diesen Ruck. Wer das Grundgesetz liebt, der schützt die Menschen, die es jeden Tag in Vielfalt und Freiheit leben. Hebt für diese Abstimmung den Fraktionszwang im Bundestag auf und stimmt für die Ergänzung von Artikel 3.
Dort drüben im Parlament sitzen längst wieder die, die jeden einzelnen Tag das Klima in unserem Land vergiften. Die sind die einzigen, denen man durch die Ergänzung von Artikel 3 etwas wegnimmt: Nämlich die letzte Chance, queere Rechte wieder abzuschaffen!
Was aber passieren kann, wenn Faschist*innen an die Macht kommen und die Verfassung dafür nicht bereit ist; das sehen wir gerade in Italien, wo lesbischen Mütter ihre Kinder rechtlich wieder weggenommen werden.
Der Rechtsruck in der Gesellschaft, der ist auch für uns schon spürbar. Und gerade deshalb feiern wir heute hier unsere Freiheit und alles, was wir erreicht haben. Aber all das dürfen wir niemals – und das wird uns gerade sehr deutlich bewusst – niemals für selbstverständlich nehmen! Und das tun wir auch nicht!
Besonders wenn wir nach Thüringen, Sachsen und Brandenburg schauen. Drei Bundesländer, die im Herbst erneut kippen könnten. Das müssen, das werden und das können wir gemeinsam verhindern! Auch dafür gehen wir heute und in den kommenden Wochen im ganzen Land auf die Straße!
Denn auch der Diskurs in den demokratischen Parteien hat sich bereits beunruhigend weit verschoben. Das zeigt sich unter anderem bei der Situation in Afghanistan. Natürlich müssen verfolgte LSBTIQ* aus Afghanistan evakuiert werden. Menschenrechte sind unteilbar!
Populismus und Rechtsruck müssen das ganze Land wachrütteln. Angriffe auf LSBTIQ* gehen alle etwas an, die in einem demokratischen Land leben wollen. Sogenannte Minderheitenrechte sind nicht nur eine Randerscheinung, sondern der Kern jeder Demokratie!
Und ja, der Rechtsruck macht Angst. Aber wir dürfen jetzt nicht in einer Schockstarre verharren oder uns sogar von politischen Problemen ablenken. Wir müssen jetzt unseren Mut zusammennehmen, um kein Stück leiser, sondern umso lauter zu werden. Hunderttausende auf Berlins Straßen sagen „Nein“ zum Rechtsruck und „Ja“ zu “Demokratie und Vielfalt”: Nur gemeinsam sind wir stark!
Wir zeigen hier und heute auch, dass die LSBTIQ*-Bewegung sich in stürmischen Zeiten nicht auseinanderreißen lässt. Die Solidarität der Community war besonders deutlich beim Einsatz für das Selbstbestimmungsgesetz. Wir haben unmissverständlich gezeigt: Es gibt kein LSBTIQ* ohne trans*, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen! Wir lassen uns nicht in verschiedene starre Kategorien einteilen und dann gegeneinander ausspielen. Wir stehen hier gemeinsam.
Auch wir als Verband wollen diese Vielfalt in der Community feiern. In Zukunft heißen wir nicht mehr “Lesben- und Schwulenverband”, sondern “Verband Queere Vielfalt”.
Denn wie wir schon in der Vergangenheit bewiesen haben: Gemeinsam können wir noch so viel mehr erreichen. Vor uns haben sich unsere Vorreiter*innen für unsere Rechte eingesetzt. Jetzt ist es unsere Aufgabe, queere Freiheiten und Rechte auszubauen, zu verteidigen und langfristig abzusichern. Wenn wir es nicht tun, wer macht es dann?
Dafür brauchen wir jetzt jeden Einsatz: Zeigt nicht nur einmal im Jahr auf dem CSD eure Farben, sondern engagiert euch nach Möglichkeit auch im Alltag. Ob bei euch vor Ort, in der Nachbarschaft oder vielleicht bei einem bundesweiten Verband - werdet Teil einer queeren Gruppe. Unterschreibt Petitionen - wie die auf AllOut zur Ergänzung des Grundgesetzes.Fahrt auch ins Berliner Umland zu den CSDs. Zeigt auch dort Flagge und Gesicht. Wir sind eine Gemeinschaft und unsere Solidarität hört nicht an der Berliner Stadtgrenze auf!
Wir müssen jetzt sichtbar bleiben - denn uns wieder in die Unsichtbarkeit drängen ist genau das, was sie wollen! Wir werden das nicht zulassen!
Diese Sichtbarkeit braucht allerdings Sicherheit. Und die fordern wir auch im Grundgesetz. Wenn LSBTIQ* endlich denselben grundrechtlichen Schutz wie alle anderen bekommen, ist das ein Gewinn für die gesamte demokratische Gesellschaft! Wir wollen nichts weniger als Menschenrechte, Akzeptanz und Respekt für alle!
Die Rede kann auch auf Alex Berlin im Livestream nachgesehen werden; ungefähr ab 3h 15 min.