Fragen und Antworten zu Bi+-Sexualität
Sexuelles und romantisches Begehren unabhängig vom Geschlecht
Inhaltsverzeichnis
- Was ist Bi+-Sexualität?
- Wie viele bi+-sexuelle Menschen gibt es?
- Wie ist die Geschichte der Bi+-Sexualität in Deutschland?
- Welche Diskriminierungen erfahren bi+-sexuelle Menschen?
- Was bedeutet „Bisexual Erasure“?
- Wie sieht die Flagge für Bi+-Sexualität aus?
- Welche queerpolitischen Forderungen betreffen bi+-sexuelle Menschen?
Weiterlesen und Quellen
1. Was ist Bi+-Sexualität?
“I call myself bisexual because I acknowledge that I have in myself the potential to be attracted – romantically and/or sexually – to people of more than one gender, not necessarily at the same time, not necessarily in the same way, and not necessarily to the same degree.” (Robyn Ochs)
"Ich bezeichne mich als bisexuell, weil ich anerkenne, dass ich in mir das Potenzial trage, mich - romantisch und/oder sexuell - zu Menschen von mehr als einem Geschlecht hingezogen zu fühlen, nicht unbedingt zur gleichen Zeit, nicht unbedingt auf die gleiche Art und Weise und nicht unbedingt im gleichen Maße." [Übersetzung C.L.]
Diese Definition von „Bisexualität“ wird häufig von Bi+-Selbstorganisationen wie den Bi & Friends HH der Hamburger Bi+Pride, BiBerlin e.V. oder Bine e.V. verwendet und viel zitiert. Das US-amerikanische Bisexual Resource Center versteht Bi+-Sexualität/Bi+ als einen „Oberbegriff, der alle Menschen umfasst, die sich in irgendeiner Form zu mehr als einem Geschlecht hingezogen fühlen“ [Übersetzung C.L.]. Auch Julia Shaw (2022, S. 37) dient „bisexuell“ oder „bi“ als Oberbegriff, „der alle einschließt, die sich als bisexuell, pansexuell, plurisexuell, polysexuell, sexuell fluide und bi-neugierig identifizieren oder eine fragende Haltung dazu einnehmen“ (ebd.). (1)
Der Begriff bi+-sexuell im Wandel der Zeit
Der Begriff bisexuell entstammt ursprünglich der naturwissenschaftlichen Forschung im 19. Jahrhundert, bevor er Eingang in die Beschreibung menschlicher Sexualität fand (vgl. Shaw 2022, S. 20). Ursprünglich verwies die lateinische Vorsilbe bi- auf ein binäres, zweigeschlechtliches System. Darüber hinaus lenkt der Begriff den Fokus auf die sexuelle Ebene und verdeckt dabei etwa die emotionale oder romantische Seite von Beziehungen.
Auch in der Bi+-Community selbst wird von Bi+-Sexualität in einem weiten und inklusiven Sinn gesprochen, der alle einlädt, ihn sich selbst zu eigen zu machen und explizit auch trans* und nicht-binäre Menschen inkludiert. Dieses Verständnis, eine binäres Geschlechtssystem (Mann vs. Frau) hinter sich zu lassen, liegt auch diesem Text zu Grunde. Hier wird Bi+-Sexualität als weiter, offener Überbegriff verstanden. Bi+ Menschen lieben und begehren andere Menschen unabhängig von deren Geschlecht. (2)
All die Menschen, welche die Bi+-Community mit ihrer je individuellen Erfahrung und Auslegung von Bi+-Sexualität bereichern und sie fortlaufend verändern, sind divers. Deswegen ist dieser Begriff nicht abschließend und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. (3) Diese Diversität in den Vorstellungen symbolisiert auch das eingefügte ‘+’, das in aktivistischen und wissenschaftlichen Kreisen als Schreibweise verbreitet ist (vgl. bipride.de/biregenschirm). Dadurch wird bi+-sexuell auch zu einem Überbegriff für pansexuell (Menschen, die andere unabhängig von deren Geschlechtsidentität romantisch/& sexuell anziehend finden) und omnisexuell (Menschen, die sich zu allen Geschlechtern sexuell und/oder emotional hingezogen fühlen).
Ein Überbegriff wie z.B. Bi+-Sexualität kann innerhalb der Community weitere Gemeinschaft zu erzeugen und integrierend wirken. Manche Menschen bevorzugen allerdings auch kein Label.
2. Wie viele bi+-sexuelle Menschen gibt es?
Die Forschungslage über LSBTIQ* hat sich in den letzten Jahren verbessert, dennoch sind bi+-sexuelle Menschen nach wie vor unterrepräsentiert. Auch innerhalb der LSBTIQ*-Community gibt es deutliche Unterschiede bei statistischer wie lebensweltlicher Erfassung durch die Wissenschaft, so auch bei Bi+-sexuellen. Für eine statistische Erfassung braucht es sowohl einen passenden Begriff als auch Identifikation damit und gesellschaftliche Akzeptanz. Zudem ist die angewandte Methodik der Erhebung entscheidend. Mitte des 20. Jahrhunderts erforschte Alfred Kinsey mittels der von ihm entwickelten Kinsey-Skala das Kontinuum zwischen Hetero- und Homosexualität (1949, 1953). Laut dieser Skala sind bis zu 50 Prozent der Menschen einer bi+-sexuellen Sphäre zuzuordnen (vgl. Kinsey 1949, S. 656).
In elf internationalen Studien (Australien, Norwegen, Kanada, UK und vorwiegend USA) aus den Jahren 2004 bis 2010 zeigte sich, dass sich zwischen 0,5 – 3,1 Prozent der Befragten als bisexuell identifizierten (Gates 2011, S.3). Neuere Erhebungen zeigen dagegen einen deutlich höheren Anteil an bi+-sexuellen Personen: So kam bereits eine repräsentative Erhebung von YouGov (2015) in Deutschland zu dem Ergebnis, dass sich bei einer Selbsteinstufung 21 Prozent aller Befragten im bisexuellen Bereich verorteten, während es bei den jungen Menschen (18 – 24 Jahre) sogar bis zu 39 Prozent waren (vgl. BiNe 2015). Letzte Zahlen der internationalen Ipsos Pride Studie (2024) zufolge gaben in Deutschland vier Prozent aller Befragten an, bi+-sexuell zu sein, ein weiteres Prozent pan- oder omnisexuell.
Es lässt sich bei den jüngeren Generationen ein veränderter Umgang mit ihrem sexuellen, geschlechtlichen und romantischen Selbstverständnis feststellen. Allein sechs Prozent der ab 1995 bis 2012 geborenen Volljährigen (Gen Z) gaben in der Erhebung von Statista (2024) an, bi+-sexuell zu sein, weitere zwei Prozent definieren sich als pansexuell. Dagegen gab es innerhalb der befragten Angehörigen der sog. Boomer-Generation (1946 - 1964 Geborene) keinen festzustellenden Wert hinsichtlich einer bi+-sexuellen Orientierung (vgl. Statista 2024).
Es lässt sich festhalten: Eine zunehmende Zahl an Menschen identifiziert sich als bi+-sexuell. Besonders für junge Menschen nimmt Bi+-Sexualität als Selbstdefinition und -identifikation an Bedeutung zu. Immer mehr Menschen verorten sich selbstbestimmt, fernab eines starren binären Modells von Geschlechtlichkeit und Sexualität. Sie empfinden und verstehen ihre sexuelle und/oder romantische Identität häufig als dynamisch und fluide.
3. Wie ist die Geschichte der Bi+-Sexualität in Deutschland?
Gemeinhin gilt es als erwiesen, dass es bi+-sexuelle Vorstellungen, Neigungen und Interaktionen bereits in der Antike gab. (4) Dennoch fehlte bis ins 19. Jahrhundert hinein ein sprachlicher Ausdruck hierfür. Auch ein individuelles, gesellschaftliches und identitätsstiftendes Bewusstsein für bi+-sexuelle Menschen war kaum vorhanden. In der allgemeinen Bevölkerung war zwar bekannt, dass es ein Begehren über die verbreiteten Konventionen hinaus gab (vgl. Gammerl 2023, S. 35, Pretzel/ Steinle 2024, S.3). Aber die kirchliche Moral, staatliche Repression und gesellschaftliche Stigmatisierungen verunmöglichten viele Jahre jegliches Aufkeimen einer positiven Besetzung einer nicht hetero- und monosexuellen Orientierung oder Identität.
Die patriarchalen, heteronormativen, monosexuellen und binären Vorstellungen führten mit dem Paragrafen 175 bereits ab 1872 zu drastischer Strafverfolgung von Männern, die sexuell mit anderen als Männer verstanden Personen aktiv waren (vgl. Gammerl 2023, S.31). Somit betraf dieser schändliche Paragraf auch trans* Personen und bi+-sexuelle Männer. Frauen hingegen wurde damals zumeist gänzlich abgesprochen, Zuneigung oder Lust ohne einen Mann empfinden zu können. Sie wurden nicht strafrechtlich bedroht, dennoch führte auch ihre gleichgeschlechtliche Liebe zu gesellschaftlicher Ausgrenzung (vgl. ebd., S. 29ff).
Weiterlesen: Gedenken für die verfolgten Lesben* der NS-Diktatur (lsvd.de)
Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs gab es neben dem Militarismus, der Ausbeutung und Prüderie auch gegensätzliche Bestrebungen: Arbeiter*innen- und Frauenbewegung, demokratische Aufbrüche, homosexuelle Emanzipation wie etwa durch die Gründung der weltweit ersten Homosexuellengruppe im Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK) im Jahr 1897 in Berlin (Pretzel/ Steinle 2024, S.3). Nicht zuletzt geht die Gründung des WhK auch auf Magnus Hirschfeld zurück, der u. a. auch zu Bi+-Sexualität forschte. Mit seinen Arbeiten zu sexuellen Zwischenstufen und dem von ihm im Jahr 1919 gegründeten Institut für Sexualwissenschaft trug Hirschfeld maßgeblich zur Erforschung und Verbreitung zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt bei (vgl. Gammerl 2023, S.38 ff).
Nach dem Kriegsende galten die Jahre der Weimarer Republik gerade auch in Berlin als eine Zeit demokratischen und gesellschaftlichen Aufbruchs. Tatsächlich gab es eine gewisse Blüte queerer Sichtbarkeit, v. a. in Film, Kunst, Literatur, Musik und Theater. Viele Lokalitäten zogen queeres, auch internationales Publikum an. Ebenso wurde die Strafverfolgung gemäßigter (vgl. ebd., S. 63ff).
Diese kurze Phase gesellschaftlicher Liberalisierung nahm mit der Machtübertragung an die Nationalsozialist*innen ab 1933 ein jähes Ende. Die systematische Unterdrückung, Verfolgung und Ermordung homosexuellen Lebens nahmen ihren Lauf. Zuvor aufgebaute erste queere Lebenswelten wurden geächtet und vernichtet.
Auch nach 1945 setzte sich sowohl in der BRD als auch der DDR die strafrechtliche Verfolgung und gesellschaftliche Ächtung queeren Lebens in unterschiedlicher Weise fort. Die queeren Szenen mussten oftmals von neuem beginnen, sich zu organisieren. Noch bis in die 1960er Jahre hinein wirkte eine während der NS-Zeit verbreitete Strategie bei Personen, die durch den Paragrafen 175 verfolgt wurden, fort: bei Ermittlungen konnte eine Person unter der Angabe, die gleichgeschlechtliche Interaktion sei ein „Ausrutscher“ gewesen, nicht selten eine Strafmilderung oder gar einen Freispruch erwirken. Unklar bleibt daher, für wie viele Menschen dies eine Strategie war, manche gar eine sogenannte Schutzheirat eingingen oder aber wie viele Personen tatsächlich bi+-sexuell liebten (vgl. Pretzel/ Steinle 2024, S.3).
Mit den Liberalisierungen in den 1960er und 1970er Jahren kamen Schwule und Lesben wieder vermehrt in organisierten Gruppen zusammen. Nicht erst in dieser Zeit waren darunter auch stets Bi+-sexuelle. Bereits seit den ersten homophilen Bewegungen wie der Gründung des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK) im Jahr 1897 waren sie stets auch aktiv vertreten. Nur sichtbar wurden sie lange Zeit nicht. Inwiefern Bi+-sexuelle bei ihrem politischen Engagement explizit bi+-sexuelle Perspektiven einbrachten, ist bis dato wenig erforscht (vgl. ebd.).
Gleichzeitig wurden bi+-sexuelle Menschen gerade auch innerhalb der Community immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, sie seien entweder unentschlossen oder wollten sich nur aus „beiden Welten“, also der hetero- und homosexuellen, das Beste heraussuchen (vgl. Shaw 2022, S. 67f). Gepaart mit der Ablehnung der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft wird in diesem Zusammenhang auch von der sogenannten „doppelten Diskriminierung“ (ebd. S. 47) gesprochen. → Mehr: Siehe Frage 5
Schließlich sollten die 1980er Jahre zu einer Zeit von Angst und Stigma werden, gerade für bi+-sexuelle Männer. Die AIDS-Krise führte in der Bi+-Community mitunter zu einer Trennung entlang der Geschlechtergrenzen. Dabei standen besonders bi+-sexuelle Männer durch die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft in Verdacht, das Virus in die gesamte Gesellschaft zu tragen. Diese erstmalige, ungewollte Sichtbarkeit von Bi+-sexualität in der Öffentlichkeit war jedoch eine stigmatisierende (vgl. Shaw 2022, S. 70; Pretzel/ Steinle 2024, S.7f). Aber auch bi+-sexuelle Frauen waren von AIDS betroffen. Zusätzlich sahen sie sich in den 80er Jahren erneuten Angriffen etwa durch feministische Strömungen ausgesetzt. Gerade diese wiederholten und heftigen Ausgrenzungserfahrungen sorgten zunehmend dafür, dass bi+-sexuelle Menschen begannen, sich verstärkt zu vernetzen und zu organisieren. Es galt, etwa durch Unterstützung der AIDS-Hilfen, Präventionsarbeit zu leisten und sichere Räume herzustellen (vgl. ebd.). Für den Zeitraum noch bis in die 1980er Jahre hin gibt es bis heute keine Belege über öffentliche bi+-sexuelle Organisationen, Vereine, bi+-sexuelle Zeitschriften oder eigene Treffpunkte in Deutschland. Zu den ersten organisierten Veranstaltungen zählten mit Stammtischen und Gesprächskreisen vor allem in Berlin der seit 1988 im Ost-Berliner Sonntags-Club stattfindende „Gesprächskreis Bisexualität“. Insbesondere die Gründung des Bisexuellen Netzwerks (BiNe e.V.) 1992 in Potsdam stellt bis heute eine wichtige Entwicklung für die Selbstorganisation von bi+-sexuellen Menschen in Deutschland dar.
4. Welche Diskriminierungen erfahren bi+-sexuelle Menschen?
Wie im vorherigen Abschnitt bereits angeklungen, erfahren bi+-sexuelle Menschen auf verschiedensten Ebenen Diskriminierung:
4.1 Gesellschaft:
- Bi+-sexuelle Frauen erfahren laut Daten aus den USA häufiger Gewalt (61 Prozent) als lesbische (44 Prozent) und fast doppelt so häufig Gewalt wie heterosexuelle Frauen (35 Prozent) (National Centre for Injury Prevention) (vgl. Thies/ Striewski 2023).
- Bi+-sexuelle Männer (12 Prozent) erfahren nach neuesten Daten aus der EU dagegen häufiger Gewalt als bi+-sexuelle Frauen (9 Prozent), jedoch weniger als schwule Männer (16 Prozent) bzw. gleich viel wie lesbische Frauen (12 Prozent) (vgl. FRA 2024, S. 56).
- Bi+-sexuelle Menschen outen sich seltener und deutlich später als etwa Homosexuelle (vgl. Timmermanns/ Graf/ Merz/ Stöver (2022, S.39ff).
- Bi+-sexuelle Geflüchtete werden/wurden häufiger abgeschoben, weil ihre Sexualität nicht als notwendiger Fluchtgrund gewertet wird/wurde (vgl. Thies/ Striewski 2023).
4.2 Wissenschaft:
Die nach wie vor ausbleibende umfängliche wissenschaftliche Beschäftigung mit bi+-sexuellen Lebensweisen und auch die Leerstelle bei vielen Historiker*innen im Hinblick auf bi+-sexuelle Biografien in der Vergangenheit führt zu einer weiteren Unsichtbarkeit dieser (vgl. Shaw 2022, S. 74f).
4.3 Arbeitswelt:
Neuere Zahlen aus den USA (2022) zeigen, dass bi+-sexuelle Arbeitnehmer*innen am Arbeitsplatz seltener offen über ihre sexuelle Orientierung sprechen als ihre homosexuellen Kolleg*innen. Nur etwa ein Drittel (36 %) der bi+-sexuellen Beschäftigten hat sich gegenüber ihren Vorgesetzten geoutet (in Vgl. zu drei Viertel bei homosexuellen Männern und Frauen!). Etwa einer von fünf (19 %) bi+ Arbeitnehmer*innen gab an, gegenüber allen ihren Kolleg*innen offen zu leben, im Vergleich zur Hälfte (50 %) bei Lesben und Schwulen. Sobald bi+-sexuelle Menschen geoutet sind, sind sie ähnlich oft von Diskriminierungen betroffen wie ihre homosexuellen Kolleg*innen. Die geringere Sichtbarkeit von bi+-sexuellen Menschen führt unter Umständen zu einer Verzerrung bei der quantitativen und qualitativen Erfassung ihrer Diskriminierungserfahrungen. Von denjenigen, die sich am Arbeitsplatz geoutet haben, waren schwule und bi+-sexuelle Männer häufiger von Diskriminierung am Arbeitsplatz betroffen als lesbische und bi+-sexuelle Frauen (46,4 % der bi+sex. und 42,7 % der schwulen Männer im Vergleich zu 27,2 % der bi+sex. und 25,0 % der lesbischen Frauen) (vgl. Mallory/ Sears/ Flores/ 2022, S. 1ff).
Es bleibt festzuhalten, dass Diskriminierung und Minderheitenstress krank machen können. Sie haben insbesondere Auswirkungen auf die psychische und mentale Gesundheit, das Selbstwertgefühl und damit auch auf ein etwaiges gesundheits-schädigendes Risikoverhalten.
Die wenig vorhandenen Studien deuten darauf hin, dass LSBTIQ* generell weniger Chancen auf ein gesundes Leben haben und häufiger von psychischen Erkrankungen wie Depression, Angst-, Schlaf und Essstörungen oder Burn-out betroffen sind. (5)
5. Was bedeutet „Bisexual Erasure“?
Wenn wir uns also die bis heute vorliegenden wissenschaftlichen Forschungen aus der Vergangenheit, aber auch aktuelle Untersuchungen ansehen, fällt eines immer wieder auf: Bi+-sexuelle Geschichten und Menschen sind kaum sichtbar! Diese Unsichtbarkeit resultiert zu einem Teil noch immer aus einer verbreiteten binären, monosexuellen Betrachtung der Welt. Das Unsichtbar-gemacht-werden geschieht dabei sowohl im Alltag durch die heteronormative Mehrheitsgesellschaft als auch in der Community und in der Wissenschaft. Dazu kommt die internalisierte (= durch die Gesellschaft erlernte und verinnerlichte) Bi+-Feindlichkeit, die das begünstigt.
In den letzten Jahren gibt es viele erfreuliche Entwicklungen, wie neu aufkommenden oder wachsende Bi+-Vereine und – Netzwerke, Bi+-Prides und eine neue Sichtbarkeit von Bi+-Personen in den sozialen Medien. Dies sind ermutigende Entwicklungen. Es bedarf noch einiges an Durchhaltevermögen derjenigen, die sich als bi+ identifizieren. Zusätzlich muss die Unterstützung ihrer Verbündeten (Allys) viel stärker werden, damit mehr bi+-sexuelle Geschichten sichtbarer und erzählt werden.
6. Wie sieht die Flagge für Bi+-sexualität aus?
Im Jahr 1988 entwarf Michael Page die Bi-Flag. Sie besteht aus horizontalen Streifen in den Farben, von oben nach unten: Pink, Lila, Blau. Dabei nehmen der obere, pinke, Streifen sowie der untere, blaue, Streifen je 40 Prozent der Gesamtfläche ein. Der mittlere, lila Streifen, bedeckt 20 Prozent der Fläche.
Dabei steht der pinke Streifen „für die gleichgeschlechtliche Liebe, der blaue für die Liebe zu einem anderen Geschlecht und der lilane Streifen in der Mitte steht für die Liebe zu einem Menschen[,] egal wo dieser sich auf dem Geschlechterspektrum befindet“ (Queer Lexikon e.V.).
7. Welche queerpolitischen Forderungen betreffen bi+-sexuelle Menschen?
Viele der queerpolitischen Forderungen des LSVD⁺ betreffen die ganze LSBTIQ*-Community – so auch bi+-sexuelle Personen. Zum Beispiel ist der Kampf gegen Hasskriminalität, für ein verbessertes Antidiskriminierungsrecht, für Aufklärung in Schulen und Jugendarbeit sowie für ein gerechtes Asylrecht für alle LSBTIQ* wichtig.
Mit unserer Namensanpassung zu LSVD⁺ - Verband queere Vielfalt tragen wir nun auch nach außen den Belangen von allen queeren Personen besser Rechnung. Damit wollen wir unter anderem die Unsichtbarkeit bi+-sexueller Menschen in unserem Verbandsnamen hinter uns lassen. An unserem Einsatz für alle queeren Menschen ändert dies nichts. Aus unserem Programm sind einige Forderungen trotzdem besonders relevant für bi+-sexuelle Menschen:
Dazu gehören insbesondere:
a) Sichtbarkeit schaffen
Wir unterstützen den Kampf bi+-sexueller Menschen gegen Vorurteile und Nichtbeachtung. Dabei arbeiten wir auch weiterhin eng und konstruktiv mit verschiedensten Selbstvertretungen der Bi+-Community zusammen.
b) Bildung, Erziehung und Forschung
Angesichts stetig wachsender Zahlen von jungen Menschen, die sich als bi+-sexuell identifizieren, kommt den Institutionen der Kinder- und Jugendarbeit eine besondere Verantwortung zu. In Kita und Schule wird der Grundstein für die Aufklärung über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt und Regenbogenfamilien gelegt, damit sich alle Kinder und Jugendliche selbst akzeptierend und selbstbewusst entfalten können. Es ist eine Verpflichtung der Institutionen und des Fachpersonals, eine kinderrechtsbasierte und respektvolle Umgebung für alle zu schaffen.
Die diskriminierungsfreie Erforschung von bi+-sexuellen Biografien und Lebenswelten ist ein ebenso wichtiger Baustein zur Erlangung erhöhter Sichtbarkeit und dem Abbau von Bi+-Feindlichkeit, fernab von heteronormativen, monosexuellen und binären Vorstellungen. Hierzu kann insbesondere die Geschichtswissenschaft einen Beitrag leisten, um bi+-Persönlichkeiten aus der Vergangenheit ein Gesicht zu geben und eine bis dato unsichtbar gemachte Geschichte der Bi+-Sexualität nachvollziehen zu können. Aber auch viele andere Disziplinen wie Rechtswissenschaft, Sozialwissenschaften, Theologie, Psychologie, Medizin und insbesondere auch alle Sparten der Pädagogik müssen ihre Forschung, Lehre und Curricula so aufstellen, dass die Vielfalt sexueller Orientierungen und geschlechtlicher Identitäten angemessen Berücksichtigung finden.
c) Rechtlich
Nach wie vor ist die Frage von Sorgerecht für Kinder in Regenbogenfamilien auch für bi+-sexuelle Menschen von Bedeutung. Es braucht ein zeitgemäßes Abstammungsrecht und die Anerkennung von Mehrelternschaften. Nicht zu vergessen ist ferner die noch immer fehlende verfassungsrechtliche Anerkennung der Schutzbedürftigkeit von allen LSBTIQ* in Art. 3 GG.
Mehr in unserem vollständigen Programm nachlesen.
Fußnoten
(1) Zur Orientierung der vielfältigen Begrifflichkeiten im Spektrum von Bi+-sexualität sei auf das Glossar von BiBerlin e.V. verwiesen: https://biberlin.de/bi-glossar/
(2) Vgl.: LSVD⁺ Bundesverband Glossar (https://www.lsvd.de/de/ct/3385-Was-bedeutet-LSBTIQ-Glossar-der-sexuellen-und-geschlechtlichen-Vielfalt#bisexualitaet)
(3) Über die Schwierigkeit einer Begriffsdefinition auch: Shaw, J. (2022, S. 21f, 35ff)
(4) Zur Herausforderung einer kontinuierlichen Sexualitätsgeschichtsschreibung mit Konzepten der Moderne sei verwiesen auf: Navratil, Michael und Remele, Florian (Hg.) (2021): Unerlaubte Gleichheit. Ansätze einer komparativen Geschichtsschreibung mann-männlichen Begehrens. Bielefeld: Transcript
(5) Weiterlesen: https://www.lsvd.de/de/ct/2615-Gesundheit-von-LSBTIQ*
Weiterlesen und Quellen
- Baumgartner, Renate/ Maliepaard, Emiel (2021): Bisexuality in Europe: Sexual citizenship, romantic relationships, and Bi+ identities. Routledge. New York/ USA https://doi.org/10.4324/9780367809881
- BiBerlin e.V. (o.J.): https://biberlin.de/
- BiNe – Bisexuelles Netzwerk e. V. (2015): YouGov - Statistik: Die Bisexuellen in Deutschland. Verfügbar unter: https://www.bine.net/sites/default/files/bijou31yougov.pdf. Abgerufen am 18.07.2024/ 13:52 Uhr
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- Gates, Gary J. (2011): How many people are lesbian, gay, bisexual, and transgender?, The Williams Institute. Los Angeles/USA. Abgerufen am 17.07.2024/16.38h unter: How-Many-People-LGBT-Apr-2011.pdf (ucla.edu)
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- LSVD Bundesverband: Was bedeutet LSBTIQ*? Glossar der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt. Verfügbar unter: https://www.lsvd.de/de/ct/3385-Was-bedeutet-LSBTIQ-Glossar-der-sexuellen-und-geschlechtlichen-Vielfalt#bisexualitaet. Abgerufen am: 06.08.24/17.15Uhr
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- Navratil, Michael/ Remele, Florian (Hg.) (2021): Unerlaubte Gleichheit. Ansätze einer komparativen Geschichtsschreibung mann-männlichen Begehrens, S. 9 – 42. In: Ders.: Unerlaubte Gleichheit Homosexualität und mann-männliches Begehren in Kulturgeschichte und Kulturvergleich. Bielefeld: Transcript.
- Ochs, Robyn (o.J.): Bisexual. A Few Quotes from Robyn Ochs. Verfügbar unter: www.robynochs.com
- Pretzel, Andreas/ Steinle, Karl-Heinz (2024): Neuere Berliner Bi+ Geschichte: Vernetzungen und Netzwerke. Verfügbar unter: https://biberlin.de/neuere-berliner-bi-geschichte-vernetzungen-und-netzwerke/. Abgerufen am 07.08.24./17.45 Uhr
- Queer Lexikon e.V (o.J.): Bi*sexuell [sic!] Pride Flag. Verfügbar unter: Pride Flags | Queer Lexikon (queer-lexikon.net). Abgerufen am: 11.09.2024/15.38Uhr
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- Shaw, Julia (2022): Bi. Vielfältige Liebe entdecken. Hanser Verlag: München, 1. Aufl.
- Statista Consumer Insights (2024): Wer sich in Deutschland als LGBTQA+ identifiziert. Verfügbar unter: https://de.statista.com/infografik/27440/anteil-der-befragten-die-ihre-sexuelle-orientierung-wie-folgt-angeben-nach-geburtsjahr/. Abgerufen am: 18.07.2024 um 17.02 Uhr.
- Thies, Frank & Striewski, Samue/elle (2023): Was fordert die Bi+-Community?. In: respekt! – Zeitschrift des Lesben- und Schwulenverbandes (2023) (Hrsg.), S. 7.
- Timmermanns, Stefan/ Graf, Niels/ Merz, Simon/ Stöver, Heinz (2022): Wie geht´s euch? – Psychosoziale Gesundheit und Wohlbefinden von LSBTIQ*. Beltz Juventa: Weinheim/ Basel.