Queer, migrantisch, widerstandsfähig
Herausforderungen und Perspektiven zwischen Isolation, Intersektionalität und Selbstorganisation.

Chantal Müller (Projektleiterin IQGMS) hat mit Ann über Integration, Selbstorganisationen, migrantische Communitys und Geflüchtetenunterkünfte in Brandenburg gesprochen. Das Interview wurde ursprünglich auf Englisch geführt und ins Deutsche übersetzt.
Chantal Müller: Was heißt Integration/Inklusion für dich?
Ann: Für mich als Asylanwärterin aus dem globalen Süden heißt es, Orte herzustellen, an denen Menschen wie ich sich sicher und respektiert fühlen. Es ist mehr als sich nur an die deutsche Gesellschaft anzupassen, mehr als nur eine allgemeine Unterkunft zu haben oder die Sprache zu lernen. Für mich bedeutet es auch, systematische Hürden anzusprechen. Und die diversen Identitäten anzuerkennen, die sich im Asylsystem befinden und bewegen und wie diese Identitäten von den verschiedenen Gesetzgebungen und Regelungen betroffen sind.
In der Regel kriege ich etwas Angst, wenn ich das Wort „Integration“ höre. Weil es häufig bedeutet, dass wir uns in Räumen und Gruppen bewegen, in denen wir eine Quote erfüllen – also als Token fungieren, das heißt, als symbolische Repräsentation für Vielfalt dienen, ohne tatsächlich gleichberechtigt einbezogen zu werden –, um ein Häkchen machen zu können. Das ist nicht wirklich nachhaltig oder weitreichend.
Für mich heißt Inklusion, diese Räume zu haben, aber gleichzeitig sicher zu stellen, dass sie wirklich sinnstiftend sind und Beteiligung in Gesellschaft, Politik und den Gruppen selbst ermöglichen.
CM: Sprechen wir also lieber von Inklusion. Was ist in deinen Augen grundlegend wichtig dafür?
A: Erst einmal ist es wichtig anzuerkennen, dass viele queere Geflüchtete oder queere Migrant*innen sich am Schnittpunkt verschiedener Marginalisierungen bewegen. Es ist wichtig, das zu sehen und aus verschiedenen Blickwinkeln anzugehen: Im Unterbringungssystem zum Beispiel, aber auch im Bereich mentale Gesundheit, berufliche Entwicklung, aber auch schlicht in der Asylpolitik als Ganzes.
Im Allgemeinen würde ich sagen, dass Deutschland nicht gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen ist. Aber in Wahrheit, wenn es dann um die spezifischen Richtlinien geht, dann werden solche Intersektionalitäten einfach nicht mitgedacht. Klassismus spielt zum Beispiel auch eine Rolle.
Es gibt in diesem System gute Geflüchtete und schlechte Geflüchtete und eben auch zufällig queere Geflüchtete und diese werden da auch irgendwo einsortiert. Als Beispiel füge ich gerne an, dass von uns erwartet wird, dass wir unsere Sexualität oder unsere Queerness beweisen müssen. Wir haben die Last, beweisen zu müssen, dass wir wirklich queer sind und einen Anspruch auf queere Räume haben. Und selbst, wenn wir diese Beweise erbringen und Raum zugesprochen bekommen, kann es sein, dass wir nicht hineinpassen, dass wir zwar anwesend sind, aber nicht inkludiert werden, dass uns nicht zugehört wird, wir nicht unterstützt werden.
Das heißt zum Beispiel auch, selbst wenn wir psychosoziale Unterstützung erhalten, dann kann es sein, dass diese wiederum nicht kultursensibel ist. Diese Überschneidungen werden nicht bedacht oder nicht als Prioritäten wahrgenommen. Therapieplätze zu finden ist ja schon so eine Herausforderung, aber für queere Menschen mit Flucht- oder Migrationshintergrund manchmal sogar noch herausfordernder.
CM: International Women* Space ist eine sogenannte migrantische Selbstorganisation. Warum sind Organisationen wie eure wichtig?
A: Eine Sache, die wir in unserem Projekt „Break Isolation Group“ besonders gerne ansprechen ist, dass wir für uns selbst sprechen wollen. Historisch gesehen gibt es häufig Unterdrückende, die die Narrative kontrollieren. Was wir anstreben und was in unseren Augen wichtig ist, ist, dass wir in der Lage sind Räume zu schaffen, in denen niemand über uns spricht, niemand Entscheidungen für uns trifft. Erst dann können wir authentisch über unsere gelebten Erfahrungen sprechen und Wege der Unterstützung erarbeiten. Unterstützung, die tatsächliche Bedarfe anspricht und nicht nur generalisierte Annahmen darüber trifft, womit sich queere Migrant*innen auseinandersetzen.
Aus dem globalen Süden zu kommen ist eine Ebene oder Lage, trans* zu sein zum Beispiel ist eine weitere Ebene und so kommen mehrere Ebenen zusammen. Jede Ebene fügt weitere Herausforderungen hinzu, mit denen angemessen und individuell umgegangen werden sollte und nicht in Form von Standardstrategien. Ich habe das Gefühl, das ist der Grund, warum selbstorganisierte Gruppen so wichtig sind, denn jede*r kann etwas aus den eigenen Erfahrungen beitragen und somit können wir gemeinsam etwas kreieren, zum Beispiel Lösungsansätze für spezifische Bedürfnisse finden und sicher stellen, dass Regelungen und Unterstützungsangebote tatsächlich die Lebensrealität der queeren Geflüchteten und Migrant*innen reflektieren.
In manchen bekannten queeren Organisationen scheint es, als ob queere Geflüchtete und Migrant*innen als Symbole verwendet werden, aber nicht wirklich Raum in Gremien oder Organen erhalten. So gerne wir auch Teil der Gesellschaft und integriert sein wollen, muss es daher weiterhin selbstorganisierte Gruppen geben mit Menschen, die tatsächlich die gleichen Erfahrungen teilen.
CM: Für manche ist genau das schwer zu verstehen. Sie befürchten, dass der Wille zur Integration gemindert wird, wenn es zu viele isolierte Gruppen gibt. Wie siehst du das?
A: Ich kann den Gedanken verstehen. Und sich zu isolieren und nicht mit anderen Organisationen zu interagieren kann tatsächlich zu Zersplitterungen führen. Das passiert häufig! Kleine Gruppen, die alle ihre eigene Arbeit machen und nicht miteinander reden. Aber ich glaube fest daran, dass wir eine gemeinsame Basis finden können, wenn wir uns über Wege und Strategien Gedanken machen und zusammenarbeiten. Zum Beispiel in Form gemeinsamer Aktivitäten, wie Workshops. Es ist schwierig, Konversationen über das unterdrückende System zu führen, wenn die unterdrückenden Parteien nicht anwesend sind.
Queer und aus dem globalen Süden zu sein bringt mehrere Arten der Marginalisierung mit sich. Wir können Rassismus nicht von z. B. Homosexuellenfeindlichkeit trennen. Manche sind vielleicht auch Trans*feindlichkeit ausgesetzt, vielleicht auch Klassismus, Sexismus usw. Alle dieses Ebenen können von verschiedenen Organisationen und Initiativen adressiert werden. Aber wir müssen uns die Verflechtungen dieser Ebenen vergegenwärtigen und ansprechen, denn sie können nicht immer voneinander getrennt betrachtet werden.
Wenn wir beispielsweise über Asylpolitik und Prozesse sprechen, dann im besten Fall aus verschiedenen Blickwinkeln und durch verschiedene Organisationen – queere und nicht-queere.
Es gibt Gesetze und Maßnahmen, die uns auf lange Sicht beeinflussen. Allein das Unterbringungssystem (Lagersystem) ist ein großes Problem und zwar für alle Geflüchtete, nicht nur für queere. Wenn du aber queer bist, dann erlebst du doppelte Isolation. Zum einen isoliert das Lagersystem an sich. Dazu gibt es häufig keine Schutzunterkünfte, was viele queere Personen in eine riskante Situation bringt. Das heißt, sie verstecken sich. Diese Problematik wird zu wenig mitbedacht. So sind sie innerhalb des bereits isolierten Raums noch einmal isoliert: Rassismus und Ausgrenzung auf der einen Seite (von außerhalb) und Diskriminierung und Gewalt innerhalb der Lager auf der anderen Seite.
Aber es gibt so viele andere Punkte, die Menschen ausmachen und beeinflussen. (Noch mehr) Sensibilisierung zu queeren Themen wäre sehr wichtig, denn dann brauchten wir uns damit nicht so viel auseinandersetzen und könnten noch mehr über die systemischen Probleme und Gesetze reden und gemeinsam daran arbeiten.
CM: Das wäre sicher schön. Sensibilisierung von Fachkräften ist auch ein großes Thema. Aber auch Sensibilisierung migrantischer Communitys, oder?
A: Ja, wir hatten schon einige Herausforderungen in dem Zusammenhang. Es gibt eine verwandte Organisation, die ähnliche Arbeit macht wie wir, aber ohne queere Aspekte. Und wir hatten ein paar Mitglieder, die zu dieser anderen Organisation gewechselt sind, eben weil wir so offen queer sind, vor allem religiöse Asylbewerber*innen auf der Suche nach Unterstützung. Wir hatten bei einer Veranstaltung Informationsflyer des LSVD⁺ – Verband Queere Vielfalt im Büro liegen und eine Person fühlte sich dadurch gestört und wollte die Flyer noch nicht einmal anfassen. Das ist eine Herausforderung für uns.
Innerhalb der Unterkünfte selbst gibt es verschiedene kulturelle und religiöse Hintergründe. Wie schon erwähnt, kann das zu Isolation führen. Denn wenn man beispielsweise irgendwo in Brandenburg untergebracht ist, ist man gezwungen, sich in die Gemeinschaft derjenigen, mit denen man zusammenlebt, einzufügen. Und das bedeutet mit den ganzen unterschiedlichen Hintergründen auch sich selbst gegebenenfalls zu verstecken.
CM: Inklusion ist für alle geflüchteten Menschen und Menschen mit Migrationshintergrund ein Thema. Was macht das Thema für queere Geflüchtete und Migrant*innen in deinen Augen besonders?
A: Ich glaube, die meisten sind sich schon bewusst, dass es queere Menschen mit Flucht-/Migrationshintergrund gibt, aber nicht der diversen intersektionalen Herausforderungen, die damit einher gehen.
Das System ist ohnehin schon undurchsichtig und zerstückelt. Das Erstarken rechter Kräfte und die Veränderungen in der globalen Politik betreffen uns ebenfalls. Es wird immer wichtiger, dass wir repräsentiert sind. Es gibt Repräsentation, die aber stark von Stereotypen geprägt ist. Und: nicht alle haben das gleiche Erleben von Queer- und Schwarz-Sein.
Es gibt noch nicht genug Plattformen, Räume und Gruppen. Manche werden auch noch nicht ausreichend genutzt. Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Organisationen ist auch wichtig. Wir sollten in der Lage sein, ins Gespräch zu kommen, zu sehen woran andere Projekte arbeiten. Informationen sind wichtig und wir (Organisationen) sind nicht vernetzt genug. Nur so können wir eigene Erfahrungen aus unserer Arbeit einbringen und auch Rückmeldungen daraus formulieren. Diese Informationen zu verteilen und mehr Menschen aufmerksam zu machen, hilft auch dabei, weitere Kooperationen zu bilden und mehr Unterstützung zu finden.
Viele von uns sind jetzt schon sehr erschöpft. Es braucht immer neue Strategien, neue Wege der Zusammenarbeit, um der Zersplitterung der verschiedenen Interessensvertretungen entgegenzuwirken. Wir können Wege der Verbundenheit finden, Wege solidarische Netzwerke zu bilden, gemeinschaftliche Unterstützungsstrukturen – auch über die verschiedenen Interessensfelder hinaus.
Darüber hinaus, und ich bin nicht ganz sicher, woran das liegt, gibt es immer noch starke kulturelle Missverständnisse, wenn es um Queerness geht. In meiner Heimat bzw. in afrikanischen Communitys meinen selbst diejenigen, die sich für sehr tolerant halten, häufig, Queerness sei eine „westliche“ Geschichte. Wenn man aber in den „Westen“ kommt, wird die eigene Queerness auf einmal von außen hinterfragt. Man wird gefragt, ob man sicher ist, dass man queer ist. Und man bekommt gesagt, dass Queerness eigentlich anders aussieht. Man steckt also irgendwo zwischen den Welten fest.
CM: Du hast Brandenburg schon häufiger erwähnt. Dort lebst und arbeitest du. Welche speziellen Herausforderungen für queere Geflüchtete und Migrant*innen sieht du außerhalb der großen Städte und in eher ländlichen Räumen?
A: Ein Problem ist, dass die meisten von uns keine Wahl haben. Dadurch fühlt man sich, als ob man feststeckt. Je nachdem was die Gesetze vorgeben, leben die meisten von uns in Sammelunterkünften und haben einfach keine Wahl – noch nicht mal darüber, mit wem wir uns ein Zimmer teilen. Als Kenianerin zum Beispiel wird man höchst wahrscheinlich mit einer weiteren Kenianerin zusammen untergebracht und es wird davon ausgegangen, dass das in Ordnung ist.
Es gibt nicht ausreichend Schutzunterkünfte für queere Geflüchtete. Folglich gibt es eine Menge Retraumatisierung von queeren Geflüchteten. In ländlicheren Gebieten kommt dann noch dazu, dass es vielleicht kaum Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln gibt, eventuell keinen erreichbaren Supermarkt, keine*n Ärzt*in. Das macht es alles noch schwieriger. Es gibt Orte, an denen du einfach nicht allein und /unabhängig leben kannst. Du wirst einfach in eine Lebenssituation hineingeworfen und musst dich anpassen – und ggf. Teile von dir dafür unterdrücken. Wir alle sind soziale Wesen und brauchen Gemeinschaft, andere Menschen zum gemeinsamen Lachen, zum gemeinsamen Essen usw.
Aber das bedeutet eben auch, dass man häufig nicht laut über die eigene Sexualität reden kann, weil man Diskriminierung befürchten muss. Und fernab der großen Städte ist das häufig noch schlimmer, weil es ohnehin weniger Unterstützung für queere Menschen gibt. Die Bevölkerung in der Umgebung ist häufig auch eher konservativ. Das ist eine große Herausforderung. Daher kann man beobachten, dass viele queere Geflüchtete in die Städte ziehen, sobald sie dürfen.
Dann erst kommt die Problematik hinzu, dass man selbst in den queeren Räumen in Berlin zum Beispiel nicht immer wirklich reinpasst. Oder es kommt vor, dass du in eine Stadt kommst, wie zum Beispiel Berlin, und dich auf einmal trotzdem in Communitys deines Herkunftslandes wiederfindest und weniger in queeren Communitys.
Chantal Müller
Projektleitung "Integration von queeren Geflüchteten und Migrant*innen stärken"