Die rechtlichen Vorgaben für den Sexualkundeunterricht
Zusammenfassung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Verwaltungsgerichte
Der Streit über den Sexualkundeunterricht hat die Gerichte immer wieder beschäftigt. Die einschlägigen Gerichtsentscheidungen vor allem des Bundesverfassungsgerichts zum Sexualkundeunterricht haben wir an anderer Stelle dokumentiert. In diesem Artikel fassen wir die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Verwaltungsgerichte zusammen.
1. Das Erziehungsrecht der Eltern
Im Grundgesetz garantiert Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG den Eltern das Recht zur Erziehung ihrer Kinder. Zusammen mit der in Art. 4 Abs. 1 GG verbürgten Glaubens- und Gewissensfreiheit gewährt er den Eltern auch das Recht zur Kindererziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht. Danach ist es Sache der Eltern, ihren Kindern Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu vermitteln und nicht geteilte Ansichten von ihnen fernzuhalten.
2. Die Rechte des Kindes
Auch die Rechte des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG können durch die schulische Sexualerziehung betroffen sein. Seine Intimsphäre kann durch die Art und Weise, in der die Sexualerziehung in der Schule durchgeführt wird, wesentlich berührt werden. Der Jugendliche ist nicht nur Objekt der elterlichen und staatlichen Erziehung. Er ist vielmehr von vornherein und mit zunehmendem Alter in immer stärkerem Maße eine eigene geschützte Persönlichkeit.
3. Der Erziehungsauftrag des Staates
Diese Grundrechte sind aber Einschränkungen zugänglich, die sich aus dem Erziehungsauftrag des Staates in Art. 7 Abs. 1 Grundgesetz ergeben.
Der Staat kann in der Schule grundsätzlich unabhängig von den Eltern eigene Erziehungsziele verfolgen. Der allgemeine Auftrag der Schule zur Bildung und Erziehung der Kinder ist dem Elternrecht nicht nach-, sondern gleichgeordnet. Weder dem Elternrecht noch dem Erziehungsauftrag des Staates kommt ein absoluter Vorrang zu.
Der Lehr- und Erziehungsauftrag der Schule ist auch nicht darauf beschränkt, nur Wissensstoff zu vermitteln. Der Auftrag des Staates, den Art. 7 Abs. 1 GG voraussetzt, hat vielmehr auch zum Inhalt, das einzelne Kind zu einem selbstverantwortlichen Mitglied der Gesellschaft heranzubilden. Die Aufgaben der Schule liegen daher auch auf erzieherischem Gebiet.
Der staatliche Erziehungsauftrag richtet sich nicht nur auf die Vermittlung von Wissen und die Erziehung zu einer selbstverantwortlichen Persönlichkeit. Er richtet sich auch auf die Heranbildung verantwortlicher Staatsbürger, die gleichberechtigt und verantwortungsbewusst an den demokratischen Prozessen in einer pluralistischen Gesellschaft teilhaben. Soziale Kompetenz im Umgang auch mit Andersdenkenden, gelebte Toleranz, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung einer von der Mehrheit abweichenden Überzeugung können effektiver eingeübt werden, wenn Kontakte mit der Gesellschaft und den in ihr vertretenen unterschiedlichen Auffassungen nicht nur gelegentlich stattfinden, sondern Teil einer mit dem regelmäßigen Schulbesuch verbundenen Alltagserfahrung sind.
Dabei muss der Staat aber Neutralität und Toleranz gegenüber den erzieherischen Vorstellungen der Eltern aufbringen. Der Staat darf keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung betreiben; er darf sich auch nicht durch von ihm ausgehende oder ihm zuzurechnende Maßnahmen ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung identifizieren und dadurch den religiösen Frieden in der Gesellschaft von sich aus gefährden. Diese Verpflichtung stellt bei strikter Beachtung sicher, dass unzumutbare Glaubens- und Gewissenskonflikte nicht entstehen und eine Indoktrination der Schüler etwa auf dem Gebiet der Sexualerziehung unterbleibt.
4. Aufgabe des Gesetzgebers
Die Grenzen zwischen dem staatlichen Erziehungsauftrag (Art. 7 Abs. 1 GG) und dem Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) sowie den Persönlichkeitsrechten des Kindes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) sind oft flüssig und nur schwer auszumachen. Ihre Markierung ist für die Ausübung dieser Grundrechte vielfach von maßgebender Bedeutung. Sie ist daher Aufgabe des Gesetzgebers
Dem Vorbehalt des Gesetzes unterliegt aber nur, was für die Ausübung der Grundrechte in dem dargelegten unvermeidlichen Spannungsverhältnis wesentlich ist. Dazu gehören jedenfalls: die Festlegung der Erziehungsziele in den Grundzügen ("Groblernziele"), die Frage, ob Sexualerziehung als fächerübergreifendes Unterrichtsprinzip oder als besonderes Unterrichtsfach mit etwaigen Wahl- oder Befreiungsmöglichkeiten durchgeführt werden soll, das Gebot der Zurückhaltung und Toleranz sowie der Offenheit für die vielfachen im sexuellen Bereich möglichen Wertungen und das Verbot der Indoktrinierung der Schüler*innen, ferner die Pflicht, die Eltern zu informieren.
5. Bloße Wissensvermittlung
Der Vorbehalt des Gesetzes gilt aber nicht, wenn die Schule nur Wissen über biologischen Fakten auf dem Gebiet der menschlichen Sexualität in sachlicher, altersgemäßer Art und Weise vermittelt, ohne dass dabei bestimmte Normen aufgestellt oder Empfehlungen für das sexuelle Verhalten der Kinder gegeben werden. Die Schule handelt insoweit im Rahmen ihres einheitlichen Unterrichts- und Bildungsauftrages. Sie greift dadurch nicht in das durch Art. 6 Abs. 2 GG geschützte Elternrecht ein. Ebenso wenig kann darin ein Verstoß gegen Art. 4 GG liegen.
Deshalb ist nichts dagegen einzuwenden, wenn die Schule z.B. im Rahmen des Biologieunterrichts die Evolutionstheorie vermittelt und die Behandlung der Schöpfungsgeschichte auf den Religionsunterricht beschränkt oder im Rahmen des Sexualkundeunterrichts Kenntnisse über geschlechtlich übertragbare Krankheiten und über Methoden der Empfängnisverhütung vermittelt, obgleich Letzteres nach den Grundsätzen einzelner Religionsgemeinschaften eher als nicht oder wenig erwünscht erscheinen mag. Dasselbe gilt für die Sensibilisierung der Kinder für etwaigen sexuellen Missbrauch und dem Aufzeigen von Möglichkeiten, sich dem zu entziehen. Dadurch wird das den Schulen obliegende Neutralitätsgebot nicht verletzt.
6. Konflikte zwischen dem Erziehungsrecht der Eltern, den Rechten der Kinder und dem Erziehungsauftrag des Staates
Konflikte zwischen dem Erziehungsrecht der Eltern, den Rechten der Kinder und dem Erziehungsauftrag des Staates sind nach den Grundsätzen der praktischen Konkordanz zu lösen.
Die Allgemeinheit hat ein berechtigtes Interesse daran, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten "Parallelgesellschaften" entgegenzuwirken und Minderheiten zu integrieren. Integration setzt dabei nicht nur voraus, dass die Mehrheit der Bevölkerung religiöse oder weltanschauliche Minderheiten nicht ausgrenzt; sie verlangt auch, dass diese sich selbst nicht abgrenzen und sich einem Dialog mit Andersdenkenden und -gläubigen nicht verschließen. Für eine offene pluralistische Gesellschaft bedeutet der Dialog mit solchen Minderheiten eine Bereicherung. Dies im Sinne gelebter Toleranz einzuüben und zu praktizieren, ist eine wichtige Aufgabe der öffentlichen Schule.
Das Vorhandensein eines breiten Spektrums von religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen in einer Schulklasse kann die Fähigkeit aller Schüler zu Toleranz und Dialog als einer Grundvoraussetzung demokratischer Willensbildungsprozesse nachhaltig fördern.
7. Sexualerziehung an Schulen
Die Sexualität weist vielfache gesellschaftliche Bezüge auf. Das Sexualverhalten ist ein Teil des Allgemeinverhaltens. Deshalb sind keine grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen zu erheben, wenn der Staat Themen der Sexualität des Menschen zum Unterrichtsgegenstand in der Schule macht. Das gilt zunächst, soweit es sich lediglich um die Vermittlung von Tatsachen und Vorgängen handelt, die wertneutral - d. h. losgelöst von jedem sexualethischen Bezug - dargeboten werden. Aber auch die eigentliche Sexualerziehung fällt grundsätzlich mit unter die Schulhoheit des Staates.
Die Sexualerziehung ist insofern ein Teil der Gesamterziehung, die in den schulischen Bereich fällt. Deshalb kann es dem Staat nicht verwehrt werden, Sexualerziehung als wichtigen Bestandteil der Gesamterziehung des jungen Menschen zu betrachten. Dazu gehört es auch, die Kinder vor sexuellen Gefahren zu warnen und zu bewahren.
In Bezug auf den Sexualkundeunterricht folgt daraus, dass die Eltern zwar kein Mitbestimmungsrecht bei der Ausgestaltung der schulischen Sexualerziehung haben, wohl aber insoweit Zurückhaltung und Toleranz verlangen können. Die Schule muss den Versuch einer Indoktrinierung der Schüler*innen mit dem Ziel unterlassen, ein bestimmtes Sexualverhalten zu befürworten oder abzulehnen. Sie hat das natürliche Schamgefühl der Kinder zu achten und muss allgemein Rücksicht nehmen auf die religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern, soweit sie sich auf dem Gebiet der Sexualität auswirken.
Der Staat darf keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung betreiben; er darf sich auch nicht durch von ihm ausgehende oder ihm zuzurechnende Maßnahmen ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung identifizieren und dadurch den Frieden in der Gesellschaft von sich aus gefährden. Diese Verpflichtung stellt bei strikter Beachtung sicher, dass unzumutbare Glaubens- und Gewissenskonflikte nicht entstehen und eine Indoktrination der Schüler*innen etwa auf dem Gebiet der Sexualerziehung unterbleibt.
8. Die Agitation gegen LSBTI-inklusive Bildungspläne und Richtlinien zur Sexualerziehung
Die Agitation gegen geplante oder geltende LSBTI-inklusive Bildungspläne und Richtlinien zur Sexualerziehung zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Inhalt der angegriffenen Dokumente falsch darstellt oder einzelnen Formulierungen einen Sinn gibt, der ihnen nicht zukommt.
Wenn man sich mit dieser Agitation auseinandersetzen will, muss man sich zunächst ein Bild davon machen, was in den Schulgesetzen, den Richtlinien zur Sexualerziehung oder ihren Entwürfen tatsächlich steht. Oft erweisen sich dann die Behauptungen der Agitator*innen als Lügen.
Sodann muss man in einer Zusammenschau der maßgebenden Dokumente prüfen, was mit den angegriffenen Formulierungen tatsächlich gemeint ist. Meist stellt sich dann heraus, dass die Agitatoren den Sinn der zitierten Formulierungen bewusst verdrehen. Dafür einige Beispiele für typische verdrehende Behauptungen der Gegner*innen:
- Die Sexualerziehung müsse darauf ausgerichtet sein, Ehe und Familie zu fördern. Dieses Ziel darf nicht dadurch unterlaufen werden, dass etwa Homosexualität oder Bisexualität als gleichwertig dargestellt werden und die Schüler*innen unterschiedslos Toleranz und Akzeptanz zeigen sollen.
- "Sexuelle Identität" sei kein wissenschaftlicher, klar definierter Begriff, sondern vielmehr ein ideologischer Begriff der "Gender-Lobby" oder der "Homosexuellen-Lobby" verwendet. Im Sexualunterricht solle daher auf den Begriff „sexuelle Identität“ ganz verzichtet werden.
- Die Schulen sollen die Kinder zu selbstverantwortlichen Persönlichkeiten erziehen. Es sei dagegen nicht Aufgabe der Schule, dass die Schüler*innen ihre sexuelle Identität bzw. ihre sexuelle Orientierung finden und annehmen.
- Mit Schüler*innen über die Existenz von Lesben, Schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen zu sprechen und ihre Lebensweisen im unterricht zu behandeln verwirre die Kinder und würde sie "frühsexualisieren"
- Schulische Veranstaltungen durch LSBTI-Projekte seien rechtswidrig, weil die Sexualerziehung nur durch staatliche Lehrkräfte erfolgen darf.
Tatsächlich sollen die Kinder nicht zur Akzeptanz aller Formen praktizierter Sexualität erzogen werden, sondern zur Akzeptanz aller Menschen, gleichgültig ihrer sexuellen Orientierung. Der staatliche Erziehungsauftrag richtet sich nicht nur auf die Erziehung der Schüler*innen zu einer selbstverantwortlichen Persönlichkeit, sondern auch auf die Förderung von soziale Kompetenz im Umgang mit Andersdenkenden und -fühlenden und auf gelebte Toleranz.
Wenn die Schulen die Schüler*innrn über den Unterschied zwischen dem biologischen Geschlecht (sex), der geschlechtlichen Identität (gender) oder der sexuellen Orientierung aufklären, handelt es sich um Wissensvermittlung, die zulässig ist und nicht aus ideologischen Gründen eingeschränkt werden darf.
Die Behauptung, der Begriff "sexuelle Identität" sei kein wissenschaftlich klar definierter Begriff, trifft nicht zu. Streitig ist lediglich, wie es zur Herausbildung unterschiedlicher sexueller Prägungen kommt und ob diese lebenslang unabänderlich sind. Der Begriff der sexuellen Identität bzw. der sexuellen Orientierung wird im Übrigen inzwischen auch vom Gesetzgeber verwandt, so z.B. in der Europäischen Verfassung, in den europäischen Gleichstellungsrichtlinien, in mehreren Landesverfassungen und im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz.
Es trifft auch nicht zu, dass die Kinder im Sexualkundeunterricht ermutigt werden sollen, statt der heterosexuellen Ehe eine andere Lebensform zu wählen, sondern sie sollen ermutigt werden, ihre sexuelle Orientierung anzunehmen und auf dieser Grundlage ein verantwortungsvolles Leben zu führen. Dazu gehört auch die Wahl einer Lebensform, die ihrer sexuellen Orientierung entspricht. Es wäre sittlich verfehlt, junge Menschen, die nicht heterosexuell orientiert sind, in eine heterosexuelle Ehe zu drängen. Das Bundesverfassungsgericht hat betont, dass es auch Aufgabe der schulischen Erziehung ist, das Durchsetzungsvermögen der Schüler*innen und die Selbstbehauptung einer von der Mehrheit abweichenden Überzeugung zu fördern.
Veranstaltungen mit Antidiskriminierungsprojekten und LSBTI-Projekten sollen es den Schüler*innen ermöglichen, Menschen mit „anderer“ sexueller Orientierung und/oder Geschlechtsidentität kennenzulernen und zu erfahren, wie es ihnen etwa bei ihrem Coming-out ergangen ist und welche Erfahrungen sie als LSBTI im Alltag machen. Dadurch sollen den Kindern Vorurteile genommen und Kinder und Jugendliche mit nicht-heterosexueller Orientierung ermutigt werden, diese anzunehmen. Außerdem soll es den Kindern ermöglicht werden, sich mit ihren Fragen zur Sexualität oder Geschlecht an neutrale Personen zu wenden, wenn sie Schwierigkeiten haben, diese mit ihren Lehrkräften zu erörtern. Das ist zulässig, wenn sich die Lehrkräfte vorher vergewissert haben, wie die Veranstaltungen ablaufen, welchen Inhalt sie haben werden und ob die Vortragenden ausreichend kompetent sind. Außerdem müssen sie die Eltern vorher unterrichten, dass solche Veranstaltungen geplant sind, welchen Inhalt sie haben und wie sie ablaufen werden.
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