3. Für eine geschlechter- und diversitätsgerechte Gesundheitsversorgung
Empfehlungen 53 und 54: Geschlechtersensibilität und Chancengleichheit im Bereich Gesundheit – Art. 12 CEDAW
Heteronormativität ist eine Grundannahme in der Gesundheitspolitik. Ein Gesundheitssystem, das Heterosexualität als soziale Norm postuliert und damit ein binäres Geschlechtssystem impliziert, verhindert zwangsläufig eine angemessene Gesundheitsversorgung und medizinische Forschung für alle, die sich nicht in dieses Schema einordnen lassen: LBTI. Die Kluft zwischen ihrem Bedarf und ihrer tatsächlichen gesundheitlichen Versorgung verstärkt sich durch weitere Kategorien der sozialen Differenz (Mehrfachdiskriminierung).
Die gesundheitliche Versorgung und medizinische Leistungen (der gesetzlichen Krankenkassen) sind nicht an den Bedürfnissen von LBTI ausgerichtet. Spezifische Gesundheitsberichte fehlen. Häufig gibt es keine Ärzt*innen und /oder medizinisches Personal mit ausreichendem Wissen, Erfahrung und Sensibilität im Umgang mit LBTI. Gleiches gilt für den spezifischen Bereich der Pflege. Es fehlen gendersensible Angebote bzw. sind nicht für alle LBTI zugänglich.
Arzneimittel werden an überwiegend an jungen, weißen, cis-männlichen Menschen getestet, Unterschiede bezüglich Stoffwechsel und Hormonstatus werden übergangen. Folgen sind Überdosierung von Medikamenten bzw. fehlendes Wissen um geschlechtsspezifische Symptome von Krankheiten bzw. Risiken und Nebenwirkungen von Frauen*. Bei intergeschlechtlich geborenen Menschen werden schwere Schädigungen aufgrund von Arzneimitteltherapien billigend in Kauf genommen.
Im Fall von Trans*Personen wird das Erreichen bestmöglicher physischer und seelischer Gesundheit durch folgende Barrieren verhindert:
- das in der Praxis unzulässigerweise mit der Psychopathologisierung von Transidentität verknüpfte Transsexuellengesetz (inkl. der Zwangsbegutachtung)
- starre unzugängliche und am Bedarf vorbeigehende Richtlinien der medizinischen Behandlung und Begutachtung (inkl. Zwangspsychotherapien)
- die verspätete oder Nichtgewährung notwendiger Gesundheitsleistungen durch Krankenkassen
- belastende und zum Teil diskriminierend und fachlich fehlerhaft durchgeführtePflichtbegutachtungen durch den Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDK)
- das Fehlen einer flächendeckenden Versorgungsstruktur
- unzureichende Fachkenntnisse oder diskriminierendes Verhalten auf Seiten der Gesundheitsdienstleistenden
- Für geflüchtete Transfrauen* gibt es keinen Zugang zu Hormontherapien.
Intergeschlechtliche Menschen sind bis heute Verletzungen ihres Rechts auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung ausgesetzt, wie irreversiblen, kosmetischen chirurgischen und hormonellen Eingriffen ohne medizinische Notwendigkeit und ohne die vorherige freie und vollständig informierte Einwilligung der intergeschlechtlichen Person selbst. Kosmetische Operationen an Genitalien zur geschlechtlichen Vereindeutigung im Säuglingsalter finden nach wie vor statt. Diese verursachen regelmäßig Fortpflanzungsunfähigkeit, lebenslange Erkrankungen und Traumata.
Ausgehend vom sogenannten Minority-Stress-Modell (Ilan H. Meyer) haben vorherrschende heteronormative Diskriminierung zusätzliche Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit von LBTI. Direkte Auswirkungen können psychische Schäden sein wie Angststörungen, Burn-out, Depressionen oder gar physische Schäden und/oder bleibende körperliche Beeinträchtigungen durch körperliche Gewalt. Gesellschaftliche Stigmatisierung hat auch indirekte Auswirkungen auf Gesundheit, indem sie von Betroffenen verinnerlicht wird und zu fehlendem Selbstwert führen kann. Die Folge kann ein verstärktes (selbstschädigendes) Risikoverhalten sein, das eine höhere Prävalenz von Sucht, Essstörungen und Suiziden/Suizidraten von LBTI erklärt.
Die bezahlte und unbezahlte Care-Arbeit für Kinder, Menschen mit Behinderungen sowie alte und kranke Menschen wird hauptsächlich von Frauen* geleistet. Die physischen und psychischen Gesundheitsrisiken im Care-System sind wenig erforscht, aber die vorliegenden Erkenntnisse verweisen auf sehr hohe Gefährdungen. Die Gesundheit der verschiedenen Care-Arbeit Leistenden ist in mehrfacher Weise betroffen. Auch für LBTI*-Pflegebedürftige gilt das Gesundheitsziel der Ottawa-Charta in seinen physischen, psychischen und sozialen Dimensionen. Hieran gemessen sind Pflegebedürftige – bei den Hochbetagten sind es doppelt bis dreimal so viele Frauen* wie Männer* – eklatant unterversorgt. Je länger sie pflegebedürftig sind, umso prekärer werden ihre Lebensumstände hinsichtlich Selbstbestimmung und sozialer Teilhabe. Zudem sind pflegebedürftige Frauen* besonders von Armut betroffen und haben keine eigenen Ressourcen, die sie für ihre Gesundheit mit einsetzen könnten.
Zudem ist der Zugang zu medizinisch assistierter Reproduktion ist in Deutschland lediglich durch Richtlinien der Ärztekammern geregelt und damit allein von der individuellen Entscheidung der behandelnden Ärzt*innen bzw. der zuständigen Ethikkommission abhängig. Die Kosten werden nur unter engen Voraussetzungen und nur für Ehepaare übernommen. Gleichgeschlechtliche Paare und alleinstehende Frauen haben keinen Zugang zu diesen Verfahren.
Notwendig sind unseren Erachtens:
- die Gewährleistung eines diskriminierungsfreien Zugangs zu gesundheitlicher Versorgung, d.h. eine geschlechtergerechte und diversitätsgerechteGesundheitsversorgung, orientiert und ausgerichtetan den Bedürfnissen von (LBTI)-Patient*innen
- der Ausbau einer qualitativ hochwertigen Pflegeinfrastruktur sowie von Dienstleistungenzur Unterstützung der individuellen Eigenständigkeit und Selbstbestimmung, der Teilhabe am sozialen Leben und Entlastung pflegender Angehörige. Dabei ist eine geschlechts- und kultursensible Pflege sicherzustellen und der Zugang zu diesen Angeboten muss gewährleistet werden.
- Erkenntnisse der Gender-Gesundheitsforschung und -Praxis für eine geschlechtersensible Weiterentwicklung von Politik und Gesetzgebung aufzugreifen und die für die Entwicklung von Gesundheitszielen formulierten Leitfragen zur Stärkung der Querschnittsanforderung Gesundheitliche Chancengleichheit zu nutzen
- nicht lebensnotwendige medizinische Behandlungen von Inter*Personen ohne ihre vorherige freie und vollständig informierte Einwilligung zu verbieten
- eine Gesundheitsversorgung von Inter*- und Trans*Menschen mit Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen, die sich nicht am Personenstandsgeschlecht, sondern den biologischen Gegebenheiten der Körper und den Bedürfnissen der Menschen orientiert
- eine öffentliche Aufklärung über die Gefährlichkeit sogenannter „Konversionstherapien“, die vor allem von religiös-fundamentalistischen Organisationen angeboten werden und auf eine Änderung von Sexualverhalten, sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität bzw. -ausdruck abzielen. Ein gesetzliches Verbot solcher Pseudo-„Therapien“ an Kindern und Jugendlichen ist auf den Weg zu bringen.
- sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als verpflichtender Aus- und Fortbildungsinhalt für Pflege- und Gesundheitsfachberufe – einschließlich Hebammen, Krankenkassenbeschäftigte, Ärzt*innen, Psychotherapeut*innen und Pflegepersonal
- ein ausreichendes und leicht zugängliches Angebot an Wissen und Beratung durch die Einrichtung nationaler Kompetenzzentren zu Trans- und Intergeschlechtlichkeit
- die Erstellung eines gruppenspezifischen Berichts zur gesundheitlichen Lage von LBTI in Deutschland durch das Bundesgesundheitsministerium
- eine Aufarbeitung der Pathologisierungsgeschichte von Homosexualität, Inter- und Transgeschlechtlichkeit sowie die gesellschaftliche Rehabilitierung und finanzielleEntschädigung der Opfer.
- Maßnahmen zum Aufbau einer barrierefreien gesundheitlichen Versorgung für wohnungslose und geflüchtete LBTIQ* als besonders vulnerable Gruppen
- eine LBTI*-inklusive Aufklärungsarbeit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
- die Verabschiedung eines Fortpflanzungsmedizingesetzes, mit dem Frauen* unabhängig von ihrer sexuellen Identität, ihrem Partnerschaftsstatus und ihren finanziellen Möglichkeiten Zugang zu reproduktiven Verfahren erhalten.
- eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der professionellen Pflege durch eine verbesserte Personalbemessung, präventionsorientierten Arbeitsschutz und effektives betriebliches Gesundheitsmanagement, sowie durch mehr Mitbestimmung