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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Sexualpädagogik der Vielfalt und Gewaltprävention in der Jugendarbeit

Strategien und Handlungsempfehlungen: Was hat (sexuelle) Bildung mit Gewaltprävention zu tun?

Wie kann es gelingen, mit einer Sexualpädagogik der Vielfalt Ressentiments und Anfeindungen entgegenzuwirken und welche Methoden aus der Praxis der Gewaltprävention können Fachkräfte konkret umsetzen?

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(Lesedauer: 5 Minuten)

Queere Jugendliche haben die gleichen Herausforderungen und Konflikte zu bewältigen, wie andere Jugendliche auch. Zugleich müssen sie sich aber auch mit einer heteronormativ geprägten Gesellschaft auseinandersetzen.

Diskriminierung und Anfeindungen gehören für junge Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans*, intergeschlechtliche und queere Menschen (LSBTIQ*) immer noch zum Alltag. Laut der Studie des Deutschen Jugendinstituts "Coming-out und dann" zur Lebenssituation von lesbischen, schwulen, bisexuellen und trans* Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben 82 % aller queeren Jugendlichen und sogar 96 % der trans* Befragten Diskriminierung erlebt. Nicht selten finden Diskriminierungen und Anfeindungen auch in der Kinder- und Jugendhilfe statt.

Wie kann es gelingen, mit einer Sexualpädagogik der Vielfalt Ressentiments und Anfeindungen gegen LSBTIQ* entgegenzuwirken? Welche Methoden aus der Praxis der Gewaltprävention können Fachkräfte konkret umsetzen?

Darüber diskutierten im Rahmen des 5. Regenbogen-Parlaments 2021, Prof. Dr. Uwe Sielert (Emeritus / Institut für Pädagogik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel) und Ann-Kathrin Lorenzen (PETZE-Institut für Gewaltprävention). 

Videoaufzeichnung des Talks "Sexuelle Bildung und Gewaltprävention in der Jugendarbeit. Was hat Bildung mit Gewaltprävention zu tun?"

Inhaltsverzeichnis

  1. „Sexuelle Bildung als Schlüssel für eine gewaltarme Sexualkultur“
  2. „Heute schon ein Kompliment gemacht?“ – Was Anerkennung und Selbstwert mit der Prävention von sexualisierter Gewalt zu tun haben
  3. Weitere Impulse aus dem Fachgespräch

1. „Sexuelle Bildung als Schlüssel für eine gewaltarme Sexualkultur“

In seinem Impulsvortrag erläuterte Prof. Dr. Sielert den Zusammenhang von sexueller Bildung und Gewaltprävention. Sexuelle Bildung kann präventiv gegen Gewalt wirken. Das zeigen einige Studien deutlich.

So leben junge Menschen, die im Vergleich zu Gleichaltrigen eine egalitäre Einstellung zu Geschlechte-Rrollen haben, seltener in Beziehungen, die von Gewalt geprägt sind. Auch konnte nachgewiesen werden, dass Bildungsprogramme die Gender- und Machtthemen in den Mittelpunkt stellen, Partner*innengewalt reduzieren können.

Weitere Studienergebnisse aus den USA belegen, dass ein hoher Bildungsgrad sowie geringe Religiosität vor LSBTIQ*-feindlichen Haltungen schützen können. Konkret bedeutet das, je wörtlicher die Religionen ausgelegt werden, desto LSBTIQ*-feindlicher wirken sie.

In einer EU-Studie "LGBT-Erhebung in der EU Erhebung unter Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen in der Europäischen Union" berichteten in Schweden 35%, in Deutschland 45% und in Polen 60% der LSBTIQ*-Jugendlichen von Diskriminierung in der Schule. Das hat sich bis heute nicht wesentlich verändert. Prof. Sielert ging davon aus, dass die Sensibilisierung der Gesellschaft die Sichtbarkeit von Diskriminierungen und auch das Anzeigeverhalten bei Gewalt erhöhen könnten.

Sexuelle Bildung und Politik

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Sexualität und Gender sind Struktur-Prinzipien moderner Gesellschaften und fungieren als Achse sozialer Inklusion und Exklusion, nicht nur von LSBTIQ*. Damit sind Themen wie das Ausleben von Intimität, Familien-Formen und die Gestaltung sozialer Beziehungen politisch hoch aufgeladen. Religion, Wirtschaft, Politik und Medien geben kulturelle, politische und religiöse Muster vor, die auch Einfluss auf unsere Sexualkultur haben und Diskriminierung befördern können.

Auch in Institutionen (Bildungswesen, Gesundheitswesen, soziale Einrichtungen) finden Abwertungen statt und es kann eine unhinterfragte Sexualmoral vorherrschen - auch hier wirken politische und gesellschaftliche Rahmen-Bedingungen hinein. Wir sollten also im Blick haben, welche politischen Parteien eine positive sexuelle Bildung ermöglichen.

Queere sexuelle Bildung

Die emanzipatorische queere Bildung fördert das konstruktive „queere Scheitern“ an heteronormativen Leistungs-Normen und ermöglicht das Wohlbefinden des queeren Lebens. Der Begriff „queeres Scheitern“ meint, dass queere Personen de-stabilisierende Erfahrungen machen, da sie sich nicht mit heteronormativen Leistungs-Normen identifizieren können. Das heißt, es wird eine Einladung an alle ausgesprochen, anders, mehr und besser zu begehren. Eine emanzipatorische queere Bildung kann präventiv gegen gewaltbefördernde Muster wirken und eine humane Sexualkultur unterstützen.

Handlungs-Empfehlungen

  • Mit queeren Bildungs-Ansätzen können Schulen und die Jugendarbeit Diskriminierungs-Erfahrungen reduzieren und zu einem sicheren Klima für junge Menschen beitragen.
  • Umsetzung von Präventions-Zielen gewaltarmer Sexualkultur in sozialen Einrichtungen
    • durch ein Mitdenken von LSBTIQ* in der sexuellen Bildung,
    • durch die Reflexion der internen Sexualmoral,
    • Sex- und Gender-Sensibilisierung,
    • Empowerment vulnerabler Gruppen sowie
    • Identifikation toxischer Strukturen und Situationen die Missbrauch begünstigen.

Um eine gewaltarme Sexualkultur zu fördern, sollten außerdem Umgangsformen reflektiert werden. Fachkräfte können sich fragen, welche Stereotypen sie leben, welche Sprache gesprochen wird, ob es eine Fehler-Freundlichkeit und Streitkultur gibt und ob ein angstfreies Feedback und Intimitätsschutz in ihren Einrichtungen möglich sind.

2. „Heute schon ein Kompliment gemacht?“ – Was Anerkennung und Selbstwert mit der Prävention von sexualisierter Gewalt zu tun haben

Ann-Kathrin Lorenzen ging in ihrem Beitrag zuerst auf die Wichtigkeit von Peergroups für Jugendliche ein. Diese können nicht nur Vorbilder für das eigene Handeln sein, sondern auch Ursache für Stereotypisierungen.

Darüber hinaus ist es wichtig, dass Fachkräfte um die Bedarfe von queeren Jugendlichen wissen und sich entsprechend fortbilden. Junge Menschen brauchen Informationen zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Zwar bietet das Internet als wichtige Informations-Quelle für Jugendliche eine Vielzahl von Möglichkeiten, jedoch ohne jegliche sachliche Bewertung. Diese sollte dann in persönlichen Gesprächen mit den Fachkräften erfolgen. Dafür brauchen Fachkräfte aber auch Wissen in diesem Bereich.

Folgende Fragen sollten sich Fachkräfte stellen:

  • Kann ich Begriffe wie hetero-, homo- und bisexuell erklären? 
  • Habe ich Wissen über Bedarfe von trans* Personen?
  • Was bedeutet Coming-out?

Häufig ist es Fachkräften unangenehm, über solche Themen zu sprechen. Deshalb setzt Prävention vor allem bei Erwachsenen an. Denn Prävention bedeutet Wissens-Kompetenz über sexualisierte Gewalt und die Auseinandersetzung damit. Weiter braucht es Mut zur eigenen Positionierung und die Fähigkeit, kritische Rückmeldungen von Jugendlichen auszuhalten. Die Entwicklung von tatsächlicher Parteilichkeit für Betroffene, also Solidarität und Unterstützung sowie Strategien zum Umgang mit der Angst vor diesen Themen, ist für Fachkräfte wichtig, um nicht die eigenen Ängste auf die Jugendlichen zu projizieren.

Handlungs-Empfehlungen

  • Queere Jugendliche in der Jugendarbeit mitdenken und adressieren.
  • Fachkräfte brauchen eine professionelle und klare Haltung im Umgang mit sexueller und rp4c2_mut_zur_positionierung.pnggeschlechtlicher Vielfalt und ebenfalls im Umgang mit Anfeindungen. Dazu gehören auch: undoing gender/difference, das Aufbrechen von Rollenverhältnissen, die Berücksichtigung von Ungleichheits- und Machtverhältnissen, das Aufbrechen von binären Geschlechter-Verständnissen, eine kritische Selbstreflexion sowie eine heteronormativitäts-kritische Soziale Arbeit und Empowerment.
  • Fachkräfte sollten sich auch rechtliches Wissen im Umgang mit Grenz-Überschreitungen und Gewaltprävention aneignen.
  • Kenntnisse über konkrete Präventions-Möglichkeiten, -materialien sowie über Schutzkonzepte und eine zielgruppenspezifische Umsetzung in die Praxis

3. Weitere Impulse aus dem Fachgespräch

Fachkräfte können sich selbst empowern, indem sie sich mit Kolleg*innen und anderen Expert*innen verbünden, die die gleiche fachliche Haltung haben. Das kann enorm hilfreich sein, um Veränderungs-Prozesse in der eigenen Einrichtung in Gang zu setzen. Auch kann mithilfe dieser kleinen Netzwerke der Umgang mit Diskriminierungen und Anfeindungen thematisiert werden.

Sollte die eigene Arbeit von Gleichstellungs-Gegner*innen angegriffen werden, können diese Netzwerke helfen, die Motive der Gegner*innen zu hinterfragen, Mythen aufzudecken und somit Vorurteilen und Ressentiments entgegenzuwirken.

Bei Nachragen und Ressentiments durch Eltern mit dem Leitbild der Einrichtung und ihrer Werte argumentierenLeitbilder und die darin verankerten Werte können Institutionen im Umgang mit Diskriminierungen helfen. Gleichfalls ist aber auch das Arbeiten mit Selbstverpflichtungs-Erklärungen seitens der Fachkräfte hilfreich.

Findet eine Ablehnung oder gar Diskriminierung durch Eltern der Jugendlichen statt, kann es die Auseinandersetzung mit den Themen befördern, wenn sie in die Erarbeitung von Schutz-Konzeptionen einbezogen werden. Leitbilder der Einrichtungen können auch hier ein wichtiges Signal an Eltern und Angehörige sein und eine klare Haltung zur Akzeptanz von Vielfalt deutlich machen.

Kritisch hinterfragt wurde aus dem Plenum die Trägerschaft von religiösen Verbänden in der Kinder- und Jugendarbeit. Hier sprach Prof. Dr. Sielert von erfolgreichen Erfahrungen durch interreligiöse Dialoge. Darüber hinaus kann es auch zielführend sein, Gespräche innerhalb der Glaubensgemeinschaften anzuregen und entsprechende Präventions-Beauftragte zu benennen.

Das Aufgreifen grundlegender Werte wie Menschenfreundlichkeit und Akzeptanz in Diskussionen kann ebenso die Perspektiven weiten und Brücken bauen. Auch über Debatten zur Aufklärung sexualisierter Gewalt in Institutionen konnten schon Angebote zur sexuellen Bildung als Thema gesetzt werden.

Eine weitere Frage in der Diskussion war das Thema Nachhaltigkeit von Gewalt-Prävention und sexueller Bildung. Kurz und knapp ergänzen sich beide Referent*innen damit: "Das eine geht nicht ohne das andere." Es braucht Wiederholungen, das Verstetigen und Verankern von Programmen, die ein bisschen mehr Freude und Lust implementieren, über den Gefahrendiskurs hinaus.

Das Regenbogen-Parlament 2021 war eine Veranstaltung im Rahmen des Kompetenznetzwerks "Selbst.verständlich Vielfalt". Das Kompetenznetzwerk "Selbst.verständlich Vielfalt" ist das Kompetenznetzwerk "Homosexuellen- und Trans*feindlichkeit" im Bundesprogramm "Demokratie leben!".

Ansprechpersonen für das LSVD-Projekt im Kompetenznetzwerk sind Jürgen Rausch / René Mertens: koordinierungsstelle@lsvd.de

Illustrationen: Sibylle Reichel www.sibylle-reichel.de

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