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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz und seine erweiterte Geschlechterperspektive

Sechstes Faktenpapier zu Intergeschlechtlichkeit

Das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz bewirkt umfangreiche Änderungen im Achten Buch Sozialgesetzgebung, dem ehemaligen Kinder- und Jugendhilfegesetz. Jugendhilfe soll auch Lebenslagen von transidenten, nichtbinären und intergeschlechtlichen jungen Menschen berücksichtigen.

Screenshot vom Cover des 6. Faktenpapiers zu Intergeschlechtlichkeit mit dem Titel "Das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz und seine erweiterte Geschlechterperspektive"

Hier dokumentieren wir das sechste Faktenpapier "Inklusiv und differenziert: Das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz und seine erweiterte Geschlechterperspektive" des Vereins Intergeschlechtliche Menschen. Die Broschüren "Fakten zu Intergeschlechtlichkeit" entstehen seit 2020 im Rahmen des Kompetenznetzwerkes "Selbst.verständlich Vielfalt" und können dort auf der Webseite auch als pdf kostenlos heruntergeladen werden.

Für das Kompetenznetzwerk hat der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) gemeinsam mit dem Bundesverband Trans* und der Akademie Waldschlösschen die "Demokratie leben!" Förderung erlangt. Der Verein Intergeschlechtliche Menschen e.V. bereichert das LSVD-Projekt mit seiner Expertise zu den Varianten der geschlechtlichen Entwicklung.

Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (KJSG)

Das Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (KJSG) ist seit dem 10. Juni 2021 in Kraft. Es verankert im Achten Buch Sozialgesetzgebung (SGB VIII) Selbstbestimmung und Teilhabegerechtigkeit im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention. 

Das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz bewirkt umfangreiche Änderungen im Achten Buch Sozialgesetzgebung, dem ehemaligen Kinder- und Jugendhilfegesetz. Grundgedanken aus der UN-Kinderrechtskonvention wie Selbstbestimmung und Teilhabegerechtigkeit sind jetzt auch im SGB VIII fest verankert: Kinder und junge Menschen bis 27 haben das verbriefte
Recht „auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“.

Die Jugendhilfe selbst hat den gesetzlichen Auftrag, ihnen zu „ermöglichen oder erleichtern, entsprechend ihrem Alter und ihrer individuellen higkeiten in allen sie betreffenden Lebensbereichen selbstbestimmt zu interagieren und damit gleichberechtigt am Leben in der Gesellschaft teilhaben zu können“ (Paragraf 1). 

Eine Neuregelung in Paragraf 4 legt fest, dass die öffentliche Jugendhilfe bei der Förderung der freien Jugendhilfe „die Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Eltern stärken“ soll. Der neu geschaffene Paragraf 4a stärkt die Rolle von selbstorganisierten Zusammenschlüssen und Selbstvertretungen, z. B. Selbsthilfekontaktstellen oder Organisationen von Ehrenamtlichen bzw. Kindern und Jugendlichen selbst. Gemäß dem sozialen Modell von Behinderungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention definiert Paragraf 7 Behinderungen im Kontext von individuellen Beeinträchtigungen „in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren“.

Erweiterte Geschlechterperspektive: transident, nichtbinär und intergeschlechtlich als neue Rechtsbegriffe

Mit Blick auf die Lebenswelten von queeren Kindern und Jugendlichen ist die Neufassung des Paragrafen 9 von besonderer Bedeutung. Er behandelt die Gleichberechtigung von jungen Menschen - in der früheren Fassung lautete die Formulierung noch „Gleichberechtigung von Jungen und Mädchen“. Der neu formulierte Gesetzestext lässt die bisher gewohnte binäre Sprechweise hinter sich und erweitert die Geschlechterperspektive explizit: Bei der Erfüllung ihres gesetzlichen Auftrages haben öffentliche und freie Jugendhilfe nunmehr „die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen, Jungen sowie transidenten, nichtbinären und intergeschlechtlichen jungen Menschen zu berücksichtigen, Benachteiligungen
abzubauen und die Gleichberechtigung der Geschlechter zu fördern“.

Dies ist bislang der einzige bundesdeutsche Gesetzestext, der von nichtbinären Personen spricht. In den bestehenden Gesetzen, die transgeschlechtliche und intergeschlechtliche Menschen unmittelbar betreffen, wurden die Begriffe transident und intergeschlechtlich noch nicht verwendet. Mit der Änderung des SGB VIII sind die Bezeichnungen transident, nichtbinär und intergeschlechtlich nun zu gesetzlich verankerten Rechtsbegriffen geworden.

Teilhabegerechtigkeit und Barriereabbau als gesetzlicher Auftrag der Jugendhilfe

Derselbe Paragraf legt fest, dass die Jugendhilfe ganz im Sinne der Kinderrechts- und der Behindertenrechtskonvention „die gleichberechtigte Teilhabe von jungen Menschen mit und ohne Behinderungen umzusetzen und vorhandene Barrieren abzubauen“ hat (Paragraf 9, 4). Durch diesen neu hinzugekommenen Unterpunkt sind Teilhabegerechtigkeit und Barriereabbau explizite Gesetzesaufträge der Jugendhilfe im Sinne eines erweiterten Inklusionsverständnisses geworden.

Unabhängige Ombudsstellen und Rechtsanspruch auf Beratung

Mit dem neu geschaffenen Paragrafen 9a werden unabhängige und fachlich nicht weisungsgebundene Ombudsstellen zur Vermittlung und Konfliktklärung für junge Menschen und ihre Familien eingeführt.

Der ebenfalls neue Paragraf 10a formuliert einen Rechtsanspruch auf Beratung, die in einer „verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form“ angeboten werden muss. Dieser Rechtsanspruch besteht für junge Menschen, Mütter, Väter, Personensorgeund Erziehungsberechtigte.

Aufwertung von Schulsozialarbeit und Stärkung von Teilhabe bei der Erziehungsförderung

Mit dem gleichfalls neuen Paragraf 13a wird die Schulsozialarbeit im SGB VIII verankert und der bereits dort aufgeführten Jugendsozialarbeit gleichgestellt.

Auch bei der Förderung der Erziehung in der Familie (Paragraf 16) wird der Grundsatz der Teilhabe gestärkt: die Leistungen für Erziehungsberechtigte und junge Menschen sollen dazu beitragen, „dass Familien sich die für ihre jeweilige Erziehungs- und Familiensituation erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten insbesondere in Fragen von Erziehung, Beziehung und Konfliktbewältigung, von Gesundheit, Bildung, Medienkompetenz, Hauswirtschaft sowie der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit aneignen können und in ihren Fähigkeiten zur aktiven Teilhabe und Partizipation gestärkt werden“.

Gestärkte Rechte – auch für queere Kinder, Jugendliche und junge Menschen bis 27

Für Kinder und Jugendliche insgesamt bedeutet die neue Gesetzeslage eine deutliche Stärkung ihrer Rechte, vor allem was Selbstbestimmung, Teilhabegerechtigkeit und den staatlichen Auftrag zum Barriereabbau betrifft. Bereits vor den Änderungen des SGB VIII durch das KJSG ließ sich ein Schutz von queeren Kindern und Jugendlichen aus den umfangreichen Bestimmungen des Gesetzes herleiten. Die gesetzlichen Aufträge galten grundsätzlich und schlossen auch nicht-heteronormative Lebensweisen ein, ohne sie beim Namen zu nennen.

Anknüpfungspunkte waren und bleiben insbesondere die Bestimmungen aus Paragraf 1,3, individuelle Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen, Benachteiligungen abzubauen, vor Gefahren zu schützen und positive Lebensbedingungen zu schaffen. Auf diese Grundsätze können sich lesbische, schwule und bisexuelle Kinder und Jugendliche, ihre Familien und die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe weiter berufen, wenn es um Kinderrecht in Bezug auf die sexuelle Orientierung geht.

In Bezug auf Geschlechtsidentität, Geschlechtsausdruck und Geschlechtsmerkmale bedeutet die erweiterte Geschlechterperspektive aus Paragraf 9 nicht nur eine rechtliche Anerkennung von transidenten, nichtbinären und intergeschlechtlichen Jugendlichen. Die neue Bestimmung zur Gleichberechtigung der Geschlechter zeigt vielmehr, dass für die Kinder- und Jugendhilfe des 21. Jahrhunderts (von der Kita über die Jugendsozialarbeit bis hin zu den Hilfen zur Erziehung) Geschlecht insgesamt inklusiver gedacht und differenzierter definiert wird.

Weitere Hintergrundinformationen zu rechtlichen Rahmenbedingungen

Hintergrund

Der Bundesrat hat am 7. Mai 2021 dem vom Bundestag am 22. April 2021 verabschiedeten Kinderund Jugendstärkungsgesetz (KJSG) zugestimmt, dieser hatte im Vorfeld umfassende Änderungen am Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) beschlossen. Das Gesetz ist seit dem 10. Juni 2021 in Kraft. Damit ist die Reform nach rund acht Jahren und zwei Anläufen in zwei Legislaturperioden vor erst abgeschlossen. Die Reform der Kinder- und Jugendhilfe soll Kinder, Jugendliche und junge Menschen bis 27 besser schützen und ihnen mehr Chancen auf Teilhabe geben.

Autor: Thomas Kugler, QUEERFORMAT Fachstelle Queere Bildung, Berlin

Dieses Faktenpapier entstand in Kooperation mit QUEERFORMAT Fachstelle Queere Bildung Berlin.