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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

"Das hätten wir sein können. Dieser Anschlag galt uns. Uns allen. "

Rede von Alfonso Pantisano (LSVD-Bundesvorstand) im Gedenken an die queeren Opfer des Terroranschlages in Oslo

Rede von Alfonso Pantisano (LSVD-Bundesvorstand) im Gedenken an die queeren Opfer des Terroranschlages in Oslo. Gedenken am Brandenburger-Tor am 26. Juni 2022

Ich muss gestehen, dass ich mich auf dem Weg hierher tatsächlich ein wenig geärgert habe. Eine meiner ersten Demonstrationen, auf die ich je gesprochen habe, war 2013. Und heute habe ich auf meinem Laptop nochmal nachgeschaut, da habe ich nämlich alle Reden gespeichert, die ich zu allen möglichen Themen gehalten habe: Seit 2013, wenn man durchblättert, durch alle verschiedenen Reden: Es ist immer das Gleiche, was wir sagen!

Seitdem sind fast 10 Jahre vergangen und es hat sich nicht so wahnsinnig viel geändert. Errungenschaften, klar! Aber der Hass, die Gewalt, die Ablehnung, die Diskriminierung, das Mobbing – es ist hartnäckig, es bleibt, es ist da, es geht nicht weg. Und es bringt mich ein wenig zur Verzweiflung, denn ich werden heute vielleicht wieder mit ein paar klugen Sätzen um die Ecke kommen, die ich niedergeschrieben habe, aber, ob es wirklich was bringt, ich muss gestehen, ich weiß es wirklich nicht.

Und dennoch: Es ist unser Job stark zu bleiben und dennoch zu versuchen, die Worte zu finden, dennoch zu versuchen gerade zu stehen und uns darum zu kümmern, dass sich die Situation ändert. Hier und anderswo.

Unsere Community ist erneut Ziel eines grausamen Terroranschlags geworden. Wir alle sind entsetzt und erschüttert, dass wieder unsere Community Ziel eines grausamen Anschlags wurde. In Gedanken bin ich bei den Toten - einer war um die 50, der andere war um die 60 Jahre alt. In Gedanken bin ich bei den Verletzten. In Gedanken bin ich bei allen Angehörigen und Freund*innen. In Gedanken bin ich bei unserer queeren Community. Und es fällt mir sehr schwer, meinen Schmerz, unseren Schmerz tatsächlich in Worte zu fassen.

In der letzten Nacht gab ein Mann viele Schüsse vor dem London Pub in Oslo ab, das ist Norwegens größter queerer Club. Zwei Menschen sind gestorben. Und es gibt über 20 Verletzte – die letzten Infos, die ich der Berichterstattung entnehmen konnte, sagen, dass 10 Menschen schwer verletzt sind. Der Anschlag wurde als ein islamistischer Terroranschlag eingestuft. Der für heute geplante Oslo Pride wurde abgesagt.

Ja, genau. Heute hätte der CSD in Oslo stattgefunden. Die Community hatte jeden Grund zu feiern, denn im April 1972, als vor 50 Jahren, wurde Homosexualität in Norwegen endlich entkriminalisiert, sprich Homosexualität wurde nicht mehr als Straftat gewertet.

Doch heute wurde nicht gefeiert. Heute wurde, gerade wird in Oslo, wird in unserer weltweiten Community getrauert.

Und jetzt kommt der Satz, den wir immer wieder sagen: Das hätten wir sein können. Dieser Anschlag galt uns. Uns allen.

Und die furchtbaren Angriffe auf queere Menschen nehmen weiter zu. Nicht nur in anderen Teilen Europas und der Welt, sondern auch bei uns hier in Deutschland. Allein im letzten Jahr wurden über 1000 Übergriffe auf queere Menschen registriert. Das sind nur die Zahlen, die zu Anzeige gebracht werden. Die Dunkelziffer liegt irgendwo bei 90% - so schätzen das die Fachleute ein.

Jeden Tag werden irgendwo in Deutschland statistisch gesehen 3 Menschen angegriffen, nur weil jemand ein Problem mit Lesben und Schwulen, bisexuellen, trans*, intergeschlechtlichen und nicht-binären Menschen hat und diese Personen ihre Aggressionen nicht im Griff haben – und uns beleidigen, anspucken, angreifen, schlagen, krankenhausreif schlagen. Jeden Tag werden wir irgendwo in Deutschland angegriffen.

Allein in Berlin waren es im letzten Jahr über 500 Übergriffe. Diese homo- und trans* feindlichen Angriffe ereignen sich an jedem Tag der Woche, unabhängig ob es morgens, mittags, abends oder nachts ist. Und diese Angriffe finden überall statt – auf belebten Straßen und ruhigen Gassen, auf öffentlichen Plätzen, im Bus und in der Bahn, in Schöneberg, in Mitte, in Marzahn und überall sonst in Berlin. Jeden Tag.

Lasst uns einfach unser Leben, unsere Liebe, unser Begehren in Frieden leben. Denn irgendwann mal reicht es auch. Und schützt uns endlich.

Die Bundesinnenministerin Nancy Faeser ist jetzt gefragt. Seit über 6 Monaten warten wir darauf, dass die von der Innenministerkonferenz geforderte Expertinnen-Kommission eingesetzt wird. Bisher ist nichts passiert. Denn die Innenministerkonferenz hat beschlossen, nach über 50 Jahren ihrer Existenz, dass sie sich endlich mit der Hasskriminalität gegen queere Menschen auseinandersetzen müssen. Und jetzt warten wir darauf, dass sich etwas tut. Wie gesagt, bis jetzt ist nichts passiert.

Im Hinblick auf die jahrzehntelange Verharmlosung und Ignoranz von Hasskriminalität gegen unsere Community darf also wirklich keine Zeit mehr verloren gehen. Und im Hinblick auf die Wunden, die uns jeden Tag zugefügt werden, ist die gegenwärtige Stille der Bundesinnenministerin nicht nur unerträglich – ich empfinde sie als höchst fahrlässig.
Denn neben der alltäglichen Gewalt gab es dieses Jahr bereits Übergriffe beim CSD in Karlsruhe und es gab Übergriffe beim CSD in Augsburg.

Und wir erinnern uns zurück: Letztes Jahr wurde nach dem CSD in Berlin Jan Luca so schlimm zusammengeschlagen, dass er sich einer Not-OP unterziehen musste. Diagnose: Doppelter Kieferbruch. Nach einem einzelnen Schlag. 18 Schrauben und 2 Titanplatten mussten in Jan Lucas Kiefer gesetzt werden. Und von den schweren seelischen Wunden und auch Verletzungen will ich ehrlich gesagt gar nicht erst sprechen.

Zum Tatzeitpunkt letztes Jahr war Jan Luca 21 Jahre alt. Es war sein erster CSD in Berlin. Er wurde brutal zusammengeschlagen, weil die Täter nicht damit klarkamen, dass aus Jan Lucas Rucksack eine kleine Regenbogenfahne herausguckte.

Wir haben schon mal hier gestanden und den Massenmord an Lesben und Schwulen, bisexuellen, trans und intergeschlechtlichen und nicht-binären Menschen beklagt. Das 2016 – als der 29-jährige Täter 49 Menschen erschoss und 53 weitere verletzte.

Wir erinnern uns an den Pulse Club in Orlando. Diese Gewalt gegen uns muss endlich aufhören.

Und ich weiß: Diese Gewalt lähmt uns. Sie lässt uns erstarren. Jedes Mal aufs Neue. Und so schwer es uns fällt: Das dürfen wir nicht zulassen! Wir müssen stark sein. Lasst uns gemeinsam stark sein, lasst uns gemeinsam stark bleiben.

Die USA haben uns gestern gezeigt, Errungenschaften einer vielfältigen, offenen, selbstbestimmten Gesellschaft dürfen nie, nie als Selbstverständlichkeit verstanden werden. Wenn wir das tun, gefährden wir alles, was bisher erreicht wurde und gefährden alles, was für uns erreicht wurden.

Die Ehe für Alle, die jetzt auf den Tag genau fast 5 Jahre alt wird, mag viele von uns hier in Deutschland an ihr Ziel geführt haben, doch es gibt keine Freiheit, das muss uns klar sein, es gibt keine Freiheit, keine Gleichstellung, keine Selbstbestimmung, wenn diese nicht für alle gelten.

Gerade in den letzten Jahren sind wir Menschen nicht unbedingt dafür bekannt gewesen, eine hohe Aufmerksamkeitsspanne für Themen gehabt zu haben. Zwei drei Tage lang ändern wir unser Profilbild, beklagen etwas, unterschreiben eine Petition, schreiben den einen oder anderen Kommentar - und drei vier Tage später ist es schon wieder vergessen, wir sind schon wieder beim nächsten Thema.

Und mein Appel an mich selbst und mein Appel an uns alle ist: Da müssen wir gerade jetzt dringend besser werden.

Lasst uns daher wachsam sein und wachsam bleiben. Lasst uns aufeinander aufpassen. Und lasst uns auch zusammenhalten. Auch wenn es uns manchmal schwerfällt: Lasst uns stark sein und lasst uns stark bleiben.

Für uns. Für die, die nach uns kommen. Und vor allem, für diejenigen, die in Oslo Opfer dieses Terroranschlages geworden sind.

Alfonso Pantisano
LSVD-Bundesvorstand
Gedenken an die queeren Opfer des Terroranschlages in Oslo.
Brandenburger-Tor am 26. Juni 2022