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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Europarechtswidrige „Diskretionsprognosen“ des BAMF bei queeren Geflüchteten

Kritik von Verwaltungsgerichten sowie aus den Regierungsfraktionen wächst

Pressemitteilung vom 08.08.2022

Berlin. 08. August 2022. Die beiden Verwaltungsgerichte Würzburg und Bremen haben nach Klagen von zwei bisexuellen Asylsuchenden die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) angestellten Diskretionsprognosen über eine „diskrete“ Lebensweise im Herkunftsland für unzulässig erklärt. Damit haben nunmehr vier Verwaltungsgerichte klargestellt, dass die Diskretionsprognosen des BAMF über eine „diskrete“ Lebensweise LSBTI-Geflüchteter bei Rückkehr in das Herkunftsland unzulässig sind. Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag die Überarbeitung dieser Beurteilungspraxis bei queeren Verfolgten versprochen, aber noch nicht umgesetzt. Auch aus den drei Regierungsfraktionen wird zunehmend Kritik an der Bescheidungspraxis des BAMF bei LSBTI-Geflüchteten laut. Hierzu erklärt Patrick Dörr, Mitglied im Bundesvorstand des Lesben- und Schwulenverbandes (LSVD):

Der LSVD freut sich, dass die Verwaltungsgerichte im Sinne der beiden Asylsuchenden entschieden haben. In ihren Herkunftsländern Nigeria und Iran sind für bisexuelle und schwule Männer Strafen bis hin zur Todesstrafe vorgesehen. Im Falle einer Abschiebung wären sie gezwungen gewesen, ein lebenslanges Doppelleben zu führen, um sich vor der massiven staatlichen und nichtstaatlichen Gewalt zu schützen.

Wir sind jedoch entsetzt, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bis heute das europarechts- und verfassungswidrige „Diskretionsgebot“ anwendet und immer wieder Geflüchteten unterstellt, sie würden aus eigenem, freiem Willen ein lebenslanges Doppelleben führen wollen. Sind Personen, die aus den schlimmsten Verfolgerstaaten stammen, nach ihrer Flucht in Deutschland nicht in kürzester Zeit „out and proud“, wird ihnen schnell das innere Bedürfnis nach einem öffentlichen Umgang mit ihrer sexuellen bzw. geschlechtlichen Identität abgesprochen und ihr Asylgesuch abgelehnt. Dass Asylsuchende zum Zeitpunkt der Anhörung noch meist in Sammelunterkünften leben müssen, in denen ein Outing schlimmste Konsequenzen haben kann, wird dabei oft ausgeblendet. Zuletzt sahen wir sogar vermehrt Fälle, in denen das BAMF gleichgeschlechtlich verheirateten Personen bzw. Personen mit konkreten Heiratsplänen den Wunsch nach einem offenen Leben aberkannte.

Die beiden aktuellen Urteile benennen diese Praxis nicht nur klar als mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs von 2013 unvereinbar. Sie sind auch deshalb eine deutliche Mahnung an das BAMF, weil es sich um bisexuelle Antragsteller handelt. In der Vergangenheit hatte das BAMF Anträge bisexueller Asylsuchender teilweise mit der Begründung abgelehnt, dass diese ihre „homosexuelle Seite“ unterdrücken und sich so vor Verfolgung schützen könnten. Auch dieser Argumentation erteilen die Gerichte mit Verweis auf Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von 2020 eine erneute Absage.

In den vergangenen zwölf Monaten haben vier Verwaltungsgerichte ausdrücklich die Anwendung der „Diskretionsprognosen“, die in der Dienstanweisung Asyl des BAMF derzeit noch erlaubt sind, für unzulässig erklärt. LSBTI-Geflüchtete dürfen nicht in ein Land zurückgeschickt werden, in dem ihnen staatliche oder nicht-staatliche Verfolgung droht, wenn sie in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben.

In einem Artikel der WELT haben inzwischen Bundestagsabgeordnete aus allen drei Regierungsfraktionen ihre Kritik an der aus unserer Sicht menschenverachtenden Praxis des BAMF geäußert.

Der LSVD fordert Bundesinnenministerin Faeser erneut auf, den Koalitionsvertrag umzusetzen und die Dienstanweisung Asyl des BAMF endlich anzupassen, um die hanebüchenen und rechtswidrigen Diskretionsprognosen ersatzlos und ohne Hintertürchen zu streichen.

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