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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

"Wo wir unsichtbar bleiben, fehlen unsere Stimmen"

Rede von Alva Träbert (LSVD-Bundesvorstand) auf der Bi+ Pride 2022 in Hamburg

Rede von Alva Träbert (LSVD-Bundesvorstand) auf der Bi+ Pride 2022 in Hamburg

Am 24. September 2022 fand die Bi+Pride 2022 in Hamburg statt. Auf der Abschlusskundgebung sprach Alva Träbert aus dem LSVD-Bundesvorstand. Wir dokumentieren hier die Rede.

Vor wenigen Tagen hat das Innenministerium hat eine wichtige und weitreichende Änderung bei der Entscheidung in Asylverfahren für queere Geflüchtete bekannt gegeben: das Diskretionsgebot ist endgültig gefallen.

Lange Zeit wurden queere Geflüchtete abgewiesen und in Herkunftsländer abgeschoben, in denen sie Verfolgung und Gewalt erfahren hatten – und aufgefordert, ihre Sexualität diskret zu leben, effektiv für den Rest ihres Lebens zu unterdrücken und geheim zu halten. Bisexuelle Asylsuchende wurden immer wieder darauf verwiesen, dass sie “die Hälfte” ihrer Identität unterdrücken sollten, während sie die “andere Hälfte” entsprechend den Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft sicher ausleben könnten.

Die Bedingung für Sicherheit dort sollte also eine lebenslange Unsichtbarkeit sein, während die Bedingung für eine Chance auf Schutz in Deutschland ist, sich im Asylsystem bedingungslos sichtbar zu machen, und trotz Angst, Sprachbarrieren und Traumafolgen auf Kommando intimste Details preiszugeben um die eigene sexuelle Orientierung zu “beweisen”. Beides basiert auf der Annahme, dass bisexuelle Menschen in der Lage sind, Teile ihres romantischen und sexuellen Begehrens je nach Bedarf an- und auszuschalten. Beides wird der Menschenwürde bisexueller Menschen nicht gerecht.

Diese Annahme ist aber auch in vielen Lebenssituationen für diejenigen von uns spürbar, die in Deutschland leben, ob mit oder ohne deutschen Pass. Wie steht es um unsere Sichtbarkeit, unsere Unsichtbarkeit, und den Preis, den wir für beides zahlen?

Wo wir unsichtbar bleiben, werden unsere Lebenssituationen, Perspektiven und Bedarfe nicht mitgedacht: sie fehlen in der Jugendarbeit, in der Gleichstellungsarbeit, in der Aufklärung über Sexualität und sexuell übertragbare Krankheiten, in der physischen und psychischen Gesundheitsversorgung. Sie fehlen als Vorbilder valider und vielfältiger Beziehungsbiografien.

Wo wir unsichtbar bleiben, fehlen unsere Stimmen aber auch bei wichtigen politischen Schulterschlüssen mit anderen Teilen des LSBTIQ-Spektrums, das viele unserer Diskriminierungserfahrungen und Forderungen teilt.

Wo wir aber sichtbar werden, werden wir noch immer viel zu oft mit denselben Vorurteilen konfrontiert. Vorurteile verletzen, und sie ebnen den Weg für Ausgrenzung, Gewalt. Manche von uns sind weiterhin davon ausgeschlossen, Blut zu spenden. Manche von uns von meiden aufgrund von Diskriminierungserfahrungen gesundheitliche Versorgung, so dass beispielsweise unsere Krebserkrankungen später erkannt werden und öfter tödlich enden. Wir sind einem höheren Risiko von häuslicher und sexualisierter Gewalt ausgesetzt, die oft auf unsere Identität abzielt.

Uns geht es deshalb heute nicht um die Frage, wie häufig oder wie wandelbar bi+, pan, queere Sexualitäten sind. Sie sind ein fester Bestandteil sexueller Vielfalt und es gibt darauf so viele richtige Antworten wie Menschen in unseren Communities. Uns geht es darum, dass unsere Lebensqualität, unsere Chancen, unsere Sicherheit und unsere soziale Teilhabe nicht von diesen Antworten abhängen dürfen.

Wir fordern, dass das Abstammungs- und Familienrecht an die gelebte Vielfalt unserer Lebensentwürfe angepasst wird.

Wir fordern, dass das Selbstbestimmungsgesetz zügig und konsequent umgesetzt wird.

Wir fordern, dass queerfeindliche Hassgewalt endlich ernst genommen, erfasst und bekämpft wird.

Und wir fordern, dass Artikel 3 des Grundgesetzes ergänzt wird, um Menschen aller sexuellen und geschlechtlichen Identitäten zu schützen.“

Alva Träbert
LSVD-Bundesvorstand
(Es gilt das gesprochene Wort)

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