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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Das Eheverständnis der Verfassung unterliegt einem Wandel

Interview mit Dirk Siegfried, Rechtsanwalt Notar aus Berlin

Frage: In Artikel 6, Abs. 1 GG steht „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“. Welche Ehe ist damit gemeint? Die Sorte Ehe, die die Väter und Mütter des Grundgesetzes kannten oder das, was die Menschen heute leben?  Und gehört auch die Lebensform dazu, die der Volksmund „Homo-Ehe“ nennt?

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat noch 1993 in der Entscheidung zur “Aktion Standesamt” festgestellt: “Das BVerfG hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die Ehe nach Art. 6 I GG die Vereinigung von Mann und Frau zu einer Lebensgemeinschaft ist”. Allerdings hat das Gericht auch immer wieder betont, dass das Eheverständnis einem Wandel unterliegen und sich dies dann auch darauf auswirken kann, was unter Ehe im Sinne von Art. 6 I GG zu verstehen ist. Einen solchen Wandel hat es 1993 in Bezug auf die gleichgeschlechtliche Ehe noch nicht gesehen, aber für die Zukunft auch nicht ausgeschlossen. Mein Eindruck ist, dass das Gericht heute eine Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare mitmachen und dann auch den Schutz des Art. 6 I GG auf diese Ehen erstrecken würde.

Familie ist, wo Kinder sind“, schrieb der LSVD schon 2001. Was sagt das Bundesverfassungsgericht dazu? Gibt es Passagen in dem Urteil zur Sukzessivadoption*, die dem Slogan eine verfassungsrechtliche Relevanz geben?

Das Gericht hat dieser Entscheidung u.a. folgenden Leitsatz vorangestellt, also als aus seiner Sicht besonders wesentlich hervorgehoben:

Leben eingetragene Lebenspartner mit dem leiblichen oder angenommenen Kind eines Lebenspartners in sozial-familiärer Gemeinschaft, bilden sie mit diesem eine durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Familie im Sinne des Grundgesetzes.” Es hat diesen Satz aus dem Schutzzweck des Familiengrundrechts abgeleitet und erklärt, es würde diesem Zweck zuwiderlaufen, einer Familie, dies aus einem gleichgeschlechtlichen Paar und einem rechtlichen Kind eines Partners dauerhaft in einer faktischen Eltern-Kind-Beziehung zusammenlebt, den Schutz des Familiengrundrechts zu verweigern.

Welche Rechtsfolgen ergeben sich aus dem Urteil? Was bedeutet es für die Bürgerinnen und Bürger und was für den Gesetzgeber?

Das Gericht hat festgestellt, dass es gegen den Gleichheitssatz des Grundgesetzes verstößt, bei Lebenspartnerschaften die Adoption des adoptierten Kindes eines Partners durch den anderen Partner zu verbieten, sie aber bei Ehepartnern zu gestatten. Es hat den Gesetzgeber verpflichtet, diesen verfassungswidrigen Zustand bis zum 30. Juni 2014 zu beseitigen. Bis zum Inkrafttreten der Neuregelung hat das Gericht selbst aber die Sukzessivadoption auch bei Lebenspartnerschaften ermöglicht. Das Urteil hat also für die Bürgerinnen und Bürger bereits unmittelbare Wirkung.

Ich denke aber, dass das Urteil noch weitergehende Rechtsfolgen hat: Es enthält mehrere Passagen, die eigentlich zur Begründung überhaupt nicht erforderlich gewesen wären. Z.B. stützt das Gericht seine Entscheidung überhaupt nicht darauf, dass es den Familienbegriff des Art. 6 1 GG auf gleichgeschlechtliche Paare mit Kind erstreckt. Außerdem enthält es noch den ebenfalls äußerst interessanten weiteren Leitsatz: “Zwei Personen gleichen Geschlechts, die gesetzlich als Elternteile eines Kindes anerkannt sind, sind auch im verfassungsrechtlichen Sinne Eltern (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG).”

Auch dieser Satz ist für die Begründung des Urteils nicht erforderlich, wird aber vom Gericht offenbar für so wichtig gehalten, dass es ihn der Entscheidung als Leitsatz voranstellt. Von den drei wesentlichen Begriffen in Art.  6 GG, “Ehe”, “Familie” und “Eltern”, definiert das Gericht also zwei Begriffe, “Familie” und “Eltern”, neu, und zwar im Sinne einer Öffnung für gleichgeschlechtliche Paare. Ich sehe keinen Grund dafür, dass das Gericht dies bei der Definition des Begriffs “Ehe” anders beurteilen würde.

Gerade daraus,  dass das Gericht zur Begründung des Urteils eigentlich überhaupt nicht erforderliche Ausführungen zu Art. 6 GG macht, ist zu schließen, dass es die Öffnung der gleichgeschlechtlichen Ehe durch den Gesetzgeber mitmachen würde. Ich sehe dies sogar als deutliches Signal an diejenigen, die immer noch behaupten, dafür wäre eine Grundgesetzänderung erforderlich.

Im Urteil vom 19. Februar (1 BvL 1/11, 1 BvR 3247/09) heißt es ausdrücklich, die Entscheidung beträfe nicht die Frage der gemeinschaftlichen Adoption für Lesben und Schwule. Dennoch hat das Urteil eine breite öffentliche Debatte darüber ausgelöst. Wie ist das zu erklären?

Das Gericht hat zwar formal darauf hingewiesen, dass es in dem Urteil nicht um die Ermöglichung der gemeinschaftlichen Adoption geht. Allerdings wird in dem Urteil so oft gesagt,  wie wunderbar es für ein Kind ist, in einer Lebenspartnerschaft aufzuwachsen, dass die öffentliche Debatte nur konsequent ist.

Das Familiengericht (Amtsgericht) Berlin-Schöneberg hat dem Bundesverfassungsgericht zwei Richtervorlagen vorgelegt. Worum geht es in dem Fall und was bedeutet der Vorlagebeschluss für die rechtliche Seite der Debatte um das Adoptionsrecht?

Es geht dort um die gemeinschaftliche Adoption zweier volljähriger Frauen durch zwei Lebenspartnerinnen. In beiden Fällen war es so, dass die Frauen vor Ihrer Volljährigkeit Pflegekinder der Lebenspartnerinnen waren, und zwar beider Lebenspartnerinnen. Es ist also besonders schwer einzusehen, warum zwei Lebenspartnerinnen gemeinsam zwar Pflegeeltern von Minderjährigen sein dürfen bzw. der Staat dies offenbar als das Beste für die Kinder angesehen hat, dann aber die gemeinsame Adoption bei Erreichen der Volljährigkeit verboten sein soll. Absurd auch, dass das Gesetz den volljährig gewordenen Pflegekindern die Adoption durch eine der Pflegemütter ermöglicht, sie aber zwingt, sich dann für eine von beiden zu entscheiden.

Durch den von Dir erwirkten Vorlagebeschluss muss der Erste Senat sich nun ein zweites Mal mit dem Thema Adoption beschäftigen. Was würdest Du tun, wie würdest Du argumentieren, wenn Du der Richter wärest, der das Verfahren betreuen muss?

Nach dem Urteil vom 19.02.2013 zur Sukzessivadoption ist kaum vorstellbar, dass das Gericht das Verbot der gemeinsamen Adoption als verfassungsgemäß ansehen wird.

 

*(1 BvL 1/11, 1 BvR 3247/09 vom 19.02.2013)

Das Interview führte Renate Rampf
LSVD-Pressesprecherin