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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Rehabilitierung ist eine politische Frage

Auszug aus der Stellungnahme von Günter Grau zur Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestages, 15. Mai 2013

Vorbemerkungen

Die Diskussion um die Zulässigkeit einer Aufhebung der o.g. Urteile – und davon

abhängig um Rehabilitierung und Entschädigung der Verurteilten – wird bereits länger als ein Jahrzehnt geführt. Bestimmt wird sie durch das Gegeneinander-Abwägen rechtswissen- schaftlicher  Argumente.  Oder  mit  anderen  Worten:  Die  Frage  soll juristisch entschieden werden. Eine Einigung unter den Kontrahenten zeichnet sich bislang nicht ab. Das sollte eigentlich nicht verwundern, denn zu entscheiden ist eine politische Frage. Und politische Fragen haben sich noch nie ausschließlich juristisch beantworten lassen. Insofern greift auch die bisherige Erörterung zu kurz, die die Entscheidung an eine Voraussetzung binden will: an die Möglichkeit zur Korrektur bzw. Aufhebung eines Urteils des BVerfG aus dem Jahr 1957.

Die zeitgeschichtliche Forschung – und für sie spreche ich – geht von einem anderen Ansatzpunkt aus. Sie nimmt die historischen Kontextbedingungen in Blick und stellt die Frage nach den Ursachen, die – in unserem Fall – dazu geführt haben, dass nicht nur  eine  seit  ihrer  Kodifizierung  1871  höchst  umstrittene  Strafnorm  erneut  für geltendes Recht erklärt werden konnte, sondern darüber hinaus auch jahrzehntelang unverändert  blieb,  obwohl  wiederholt  ihre  Reform  gefordert  wurde.  Genau  das geschah in den ersten zwei Jahrzehnten der Bundesrepublik. Nachdem bei ihrer Gründung  1949  pauschal  festgestellt  worden  war,  die  Pönalisierung  der Homosexualität stehe nicht im Widerspruch zu den Grundsätzen der freiheitlich demokratischen Rechtsordnung (Art. 123 GG) und zwei Jahre später der BGH geurteilt hatte, der §§ 175f könne nicht als nationalsozialistisches Unrecht bewertet werden, vermochte der Gesetzgeber unter Berufung auf beide Voten, bis zum Jahr 1969 erfolgreich alle Reformversuche abzuwehren. Zugleich sah er seine Entscheidung legitimiert, die vom Kabinett der Reichsregierung Hitler 1935 erheblich verschärfte Homosexuellenstrafe ohne jede Einschränkung übernommen zu haben.

Eine wesentliche Ursache für dieses aus heutiger Sicht unverständliche Festhalten an einer vom Kabinett der Reichsregierung Hitler verabschiedeten, verschärften Fassung liegt im Umgang mit der NS-Diktatur. in den frühen Jahrzehnten der Bundesrepublik. Nach 1945 bestand – wie Joachim Perels herausgearbeitet hat – ein vitales Interesse der Politiker, im Rahmen der Rekonstruktion der bürgerlichen Gesellschaft das NS- Regime in  einen    tendenziell  „normalen Staat“ umzudenken  (Perels  1999:  11)  In diesem  Prozess  besaß  die  Justiz  das  Interpretationsmonopol  im  Hinblick  auf  die rechtliche Bewertung nationalsozialistischer Herrschaftstechniken. Ihre Haltung zu den §§ 175f StGB habe sich eingeordnet in das Interesse, ihre „einstige Rolle im Hitler- Regime durch den Rückgriff auf ein scheinbar unpolitisches, in Wahrheit aber grundrechtsfeindliches, die Würde des Menschen negierendes Normensystem zu immunisieren“ (ebd. 33).

Bei der Überprüfung der Frage, ob und inwieweit an dieser Umdeutung der NS- Regelung zur Homosexuellenstrafe auch Personen beteiligt waren, die als NSDAP- Mitglieder oder in anderer Funktion die Nazi-Ideologie verinnerlicht hatten, stoßen wir auf ein Phänomen, das bereits aus anderen Zusammenhängen (beispielsweise aus der Aufarbeitung einschlägiger Urteilsakten) bekannt ist: Bei der Durchsetzung der Strafnorm haben in erheblichem Maße Staatsanwälte und Richter mitgewirkt, die in der Nazi-Zeit in gleichen Positionen tätig waren. Nach ihrer „Entnazifizierung“ – im Volksmund auch Persilschein-Aktion genannt – hatten sie ihre Karriere fortsetzen können. Vergleichbares ist aus Einrichtungen der Legislative bislang kaum bekannt. Doch auch hier haben in Institutionen der Strafrechtspflege Alt-Nazis Führungspositionen innegehabt, wie die Personalie des Strafrechtlers Eduard Dreher (1907−1996), langjähriger Leiter des Referats für das Strafgesetzbuch im Bundesministerium der Justiz (BMJ) belegt (vgl. Kramer 2004: S. 101ff, auch Weinke 2002: S. 303).

Die  braunen  Wurzeln  des  BMJ  –  Alt-Nazi  in  Führungsposition  torpediert Versuche zur Liberalisierung des Homosexuellenstrafrechts

Im  Jahr  1951  wird  der  Strafrechtler  Dreher,  in  der  Zeit  des  Nationalsozialismus Mitglied der NSDAP und ab 1943 Erster Staatsanwalt des Sondergerichts Innsbruck, in das BMJ übernommen. Zu diesem Zeitpunkt ist noch nicht bekannt, dass er während seiner Tätigkeit am Sondergericht bei Bagatelle-Delikten die Todesstrafe gefordert hatte (die genaue Zahl der verhängten und vollstreckten Todesstrafen ist strittig). Und als Details 1956 publik werden, schaden sie seiner Karriere nicht. Die Enthüllung erfolgte durch das DDR-Braunbuch. In der Adenauer-Ära wurde es als Machwerk kommunistischer Propaganda abgetan.

Außerhalb des BMJ wurde Dreher bekannt als Kommentator des Strafgesetzbuches für die junge Bundesrepublik – offizieller Titel  „Strafgesetzbuch vom 15. Mai 1871 in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. August 1953“ (BGBl I: 1053). Das zusammen mit einem BMJ-Kollegen, dem Regierungsdirektor Hermann Maassen, verfasste Werk wird in der Folgezeit jährlich neu herausgegeben. Die Auflage überschreitet bald die Millionengrenze. Für das Gros der in der Strafrechtspflege tätigen Juristen avanciert „der Dreher“ rasch zu „dem“ Standardwerk, prägt ihre Vorstellungen von Recht und Unrecht in strafrechtlich relevanten Fragestellungen. (Der Kommentar erscheint in revidierten Fassungen bis heute, wobei in den zurückliegenden Jahren die Co- Herausgeber wechselten).

Im   BMJ   machte   Dreher   rasch   Karriere.   Der   Oberregierungsrat,   bei   seinem Ausscheiden 1969 war er Ministerialdirigent, besetzte einflussreiche Positionen. Zwischen 1951 und 1966 war er Leiter des Referats für Sachliches Strafrecht, ab 1954 zuständig für die Strafrechtsreform. Zusätzlich war er von 1954 bis 1961 Leiter des Referats für das Strafgesetzbuch, Allgemeiner Teil; ab 1966 leitete er die Unterabteilung II A (für Strafrecht und Verfahren). Auf Grund seiner Funktionen gehörte Dreher verschiedenen zentralen Parlamentsausschüssen an. In der „Großen Strafrechtskommission“   war   er   Koordinierungsreferent   und   Berichterstatter   für mehrere Themen, also jemand, der heute „opinion leader“ genannt würde. Allein die Aufzählung seiner Positionen im BMJ macht deutlich, dass sie ihm zahlreiche Einwirkungsmöglichkeiten auf die Ausgestaltung der Strafrechtspflege boten. In der „Großen Strafrechtskommission“ galt er als „die“ Schlüsselfigur bei der Bewertung der Normen des Sexualstrafrechts. Nicht einem Vorstoß zu ihrer Liberalisierung, auch wenn er noch so zaghaft daher gekommen war, wurde stattgegeben.

Seine rechtstheoretischen Auffassungen durchzieht wie ein roter Faden die Grundüberzeugung, Strafrecht habe durch und durch mit Moral zu tun. Insofern ist es kein Zufall, dass alle in seine Amtszeit fallenden Bestrebungen zur Reform der einschlägigen Bestimmungen scheiterten. Sie zielten u.a. darauf ab, die im Sexualstrafrecht der Homosexualität bislang unterstellte globale Behauptung von ihrer zerstörenden Wirkung auf Sitte und Moral abzuschwächen, indem einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen volljährigen erwachsenen Männern straffrei gestellt werden sollten. Bis Ende der 1960er Jahre verteidigte Dreher in allen Ausgaben seines Strafrechtskommentars die Behauptung, Homosexualität sei mit dem Sittengesetz unvereinbar (Dreher-Maassen 1956: 139).

Drehers Möglichkeiten zur Einflussnahme auf die Strafrechtsausgestaltung illustriert noch ein weiterer Vorgang. Er berührt zwar nicht das Sexualstrafrecht, vielmehr die Verjährung bei Beihilfe zu Mord, ist aber für sich betrachtet äußerst aufschlussreich.

1968 war Dreher federführend beteiligt an der Reform des „Einführungsgesetzes zum Ordnungswidrigkeitsgesetz“ (EGOWiG). In dessen Artikel 167 fand sich eine unscheinbare Änderung des § 50 StGB (Strafe nach eigner Schuld): eingefügt wurde ein Absatz 2. Er sah eine Verkürzung der Verjährungsfristen bei Beihilfe zu Mord vor. Das mutet zunächst harmlos an. In der Folge führte diese Veränderung allerdings zur Verjährung der Mordgehilfenschaft und damit de facto zur Amnestie von NS-Tätern. So musste ein Jahr später gemäß Urteil des BGH (BGH NJW 1969: 1181) ein beim LG Berlin anhängiges Verfahren gegen einst hochrangige Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptsamtes wegen Beihilfe zu Mord eingestellt werden. Die Taten waren verjährt. Kein anderes Gesetz oder Amnestiegebot in der Nachkriegszeit hat „so weitreichende Folgen für die Straffreiheit von hochrangigen NS-Tätern gehabt wie dieses“, stellte im Nachhinein der Historiker Ulrich Herbert fest (Herbert 1996: 510). Vermutet wurden (und werden) alte Seilschaften des einstigen PG und Staatsanwalts am NS-Sondergericht Innsbruck.

Noch sind diese und andere „Drehereien“ aus der Tätigkeit jenes Mannes unbekannt, der qua Amt über Einflussmöglichkeiten verfügte, eine Liberalisierung des Homosexuellenstrafrechts bis gegen Ende der 1960er Jahre zu verhindern. Erst im Dezember 2012 gab die amtierende Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger ein Projekt in Auftrag, in dem sich eine Historikerkommission mit der frühen Phase des BMJ beschäftigen wird. Manfrau muss über keine hellseherischen Fähigkeiten verfügen, um vorauszusagen, dass die Recherchen in den Amts- und Personalakten zahlreiche, bislang unbekannte Details zur zeitgenössischen Gestaltung der Strafrechtspflege ans Licht befördern werden. Insofern ist diese Aufarbeitung so sinnvoll wie notwendig. Für die Lösung der hier und heute in Rede stehenden Frage kommt sie zu spät.  Männer, die nicht nur unter ihrer Verurteilung gelitten haben, sondern in öffentlich geführten, juristischen Debatten die Rechtmäßigkeit ihrer Verurteilung testiert bekamen und dadurch zusätzlich auch noch gedemütigt wurden, werden erfahren, dass sie nicht nur Opfer einer strafrechtlichen Konstruktion wurden, die 1935 unter dem NS-Regime verschärft wurde, diese vielmehr auch noch nach dessen Ende von einem in der Bundesrepublik hoch geehrten Mann mit tiefbraunen Flecken auf der Weste verteidigt wurde.

Damit sind wir bei einem weiteren, bislang nicht oder nur wenig beachteten Aspekt der angesprochenen historischen Kontextbedingungen: den Auswirkungen der Diskussionen um die Strafwürdigkeit der Homosexualität auf soziale Bedingungen und mentale Befindlichkeiten der verurteilten wie nicht verurteilten Personen mit der Neigung, ihre Sexual- und/oder Lebenspartner in den Reihen des eigenen Geschlechts zu suchen.

Fortdauernde Demütigung der Betroffenen im Prozess der rechtspolitischen Auseinandersetzungen auch nach Streichung des Homosexuellenparagrafen

Bekanntlich sollte es – gerechnet von 1969 – noch 25 Jahre dauern bis zur Streichung der  §§ 175 im Jahre 1994. Noch weitere acht Jahre vergingen, bevor der Deutsche Bundestag 2002 ein Gesetz verabschiedete, dass einschlägige Urteile als nationalsozialistisches Unrecht qualifizierte (NS-AufhGÄndG: BGBI: 2714).

Dennoch gelten bis heute etwa 50 000 Männer als zu Recht verurteilt. Denn – wie bekannt – beinhaltet das genannte Gesetz jenen eklatanten Widerspruch, der schließlich auch Anlass für die hier zur Entscheidung anstehenden Fragen ist: Während unter dem Nationalsozialismus einschlägig gefällte Urteile als Unrechtsurteile qualifiziert und aufgehoben wurden, gelten bis heute in der Bundesrepublik nach dem gleichen Paragrafen gefällte Urteile weiterhin als zu Recht ergangenen. Die Begründung liefert die bereits anfangs erwähnte Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1957, womit sich der Kreis schließt und wir zum Ausgangspunkt unserer Erörterungen zurückgekehrt sind.

Und in der Tat scheinen sich die Diskussionen in einem  Kreis zu bewegen. Wer sie in den zurückliegenden Jahren verfolgte, hat feststellen müssen, dass im Pro und Contra über die Möglichkeiten einer Rehabilitierung und Entschädigung die Kontrahenten stets die gleichen Positionen behaupteten, wodurch bislang der Weg zu einer Einigung über die Urteilsaufhebung versperrt wurde.

Nicht gefragt – geschweige untersucht – wurden die Auswirkungen der Debatten (die sämtlich  öffentlich  geführt  wurden)  auf  die  Betroffenen.  Das  waren  nicht  nur einschlägig verurteilte Einzelpersonen, vielmehr die gesamte Bevölkerungsgruppe der homosexuell empfindenden Männer und Frauen. Sie alle traf das gesellschaftliche Unwert-Urteil des (verurteilten oder potentiellen) Sittenstrolches. Wie nachhaltig diese, auch als zweite Traumatisierung bekannt gewordene mentale Verletzung wirkte, lässt sich aus der Tatsache schließen, dass bislang nur wenige Personen – ihre Zahl lässt sich an einer Hand abzählen –  als Zeitzeugen bekannt sind. Die große Mehrheit scheint die Verurteilung als einen sie zutiefst stigmatisierenden Makel zu empfinden, zieht es deshalb vor, damit nicht an die Öffentlichkeit zu treten.

Angesichts der Tatsache, dass die Verurteilten die Lebensmitte bereits überschritten haben, sind Rehabilitierung sowie eine Entscheidung über Entschädigungen dringend geboten. Im Falle einer weiteren Verzögerung setzt sich der Gesetzgeber dem Verdacht aus, mit einer „biologischen“ Lösung zu spekulieren, mit dem Todesfall der teils bereits im letzten Lebensviertel stehenden Menschen.

 

Dr. Günter Grau, Historiker
(im Ruhestand, vorher tätig u.a. am Institut für
Geschichte der Medizin der Charité, Berlin)

www.guentergrau.de