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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Verfolgung in Deutschland

Rehabilitierung der Opfer von § 175 StGB

Ein wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaates ist die Rechtssicherheit und damit auch das Vertrauen in den Bestand rechtskräftiger Urteile. Aber müssen Urteile, die Menschenrechte verletzen, bis in alle Zeiten Bestand haben? Hat ein demokratischer Staat nicht auch die Pflicht, seine Fehler zu korrigieren? Seit Jahren fordert der LSVD Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer der menschenrechtswidrigen Strafverfolgung in West und Ost. Wir meinen, der Gesetzgeber muss sich seiner Verantwortung dafür stellen, dass er die strafrechtliche Verfolgung und Ungleichbehandlung Homosexueller jahrzehntelang geschehen ließ. In den vergangenen Jahren haben Bündnis 90/Die Grünen und die Linke diese Forderungen mehrfach in den Bundestag getragen, aber bislang vergeblich. Am 17.05.2011 hat die Berliner Landes-Anti-Diskriminierungsstelle dazu eine „Gutachterbefragung“ durchgeführt, bei der ich mich auch geäußert habe.

Verstoß gegen die Menschenrechte

Juristinnen und Juristen beschäftigt die Frage, wie das Prinzip des Rechtsfriedens mit dem Gebot der materiellen Rechtsicherheit in Einklang gebracht wird. Dass der § 175, wie er in Deutschland bis 1994 in Kraft war, ein Verstoß gegen die Menschenrechte war, ist heute keine Frage mehr. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Strafbarkeit von Homosexualität längst ausdrücklich als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention eingestuft, ebenso unterschiedliche Schutzaltergrenzen für Homo- und Heterosexualität. Dennoch argumentieren die Juristinnen und Juristen der Bundesregierung, etwa aus den Reihen der FDP und auch die damalige Berliner Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD), man könne die Urteile nicht korrigieren, ohne zugleich das Prinzip der Rechtssicherheit zu gefährden. Gegen diesen Einwand habe ich in meinem Vortrag Stellung bezogen.

Die Rechtskraft stellt keine unüberwindliche Hürde dar, das zeigt schon die Möglichkeit der Wiederaufnahme, die für das Strafrecht in den §§ 359 ff. Strafprozessordnung geregelt ist. Wenn es einen Widerstreit zwischen materieller Gerechtigkeit (dem Prinzip des Schutzes der Menschenrechte) und dem Prinzip der Rechtssicherheit gibt, ist der Gesetzgeber verpflichtet, diesen zu entscheiden. Zwar würde es dem Gedanken der Rechtssicherheit widersprechen, wenn rechtskräftige Urteile nur wegen eines Wandels der Rechtsauffassung aufgehoben würden, dem Prinzip der Geltung der Menschenrechte sind aber die Bundesrepublik Deutschland und das Grundgesetz von Anfang an verpflichtet. Hier handelt es sich also nicht um eine Korrektur auf Grund veränderter Rechtsauffassung, sondern auf Grund menschenrechtswidriger Rechtsanwendung. Deshalb sieht § 359 StPO vor, dass ein Strafverfahren zugunsten des Verurteilten wiederaufgenommen werden kann, wenn sich aus einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergibt, dass die Verurteilung gegen die Menschenrechte verstößt. Der Gesetzgeber ist natürlich befugt, diese „Wiederaufnahme“ auch kollektiv zu regeln, wenn sich herausstellt, dass zahlreiche Verurteilun-gen betroffen sind.

Verfassungsgericht korrigierte Unrechtsurteil

Die Juristinnen und Juristen der Regierungskoalition vertraten zudem die Auffassung, dass eine Aufhebung der nachkonstitutionellen Verurteilungen nach §§ 175, 175a Nr. 4 StGB aus Gründen der Gewaltenteilung nicht zulässig sei. Sie verwiesen dabei auf das Unrechtsurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1957. Diese Argumentation ist nicht nachvollziehbar. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts beruht auf der Auffassung, dass „die §§ 175 f. StGB nicht gegen das Grundrecht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG)“ verstoßen, „da homosexuelle Betätigung gegen das Sittengesetz verstößt und nicht eindeutig festgestellt werden kann, dass jedes öffentliche Interesse an ihrer Bestrafung fehlt“. An dieser Rechtsprechung hält das Bundesverfassungsgericht nicht mehr fest. Es hat in seinem Urteil vom 18.07.2001, durch den es einen vorläufigen Stopp des Lebenspartnerschaftsgesetzes abgelehnt hat, ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die mit einem Stopp des Gesetzes „verbundene Belastung jedes einzelnen Partners und ihrer Partnerschaft mit möglicher-weise irreparablen Folgen für das Zusammenleben .…. auch im Lichte des Persönlichkeitsschutzes von Art. 2 Abs. 1 GG hoch zu gewichten“ sei. Damit hat es zugleich die in seinem Urteil von 1957 vertretene gegenteilige Auffassung aufgegeben. Infolgedessen ist der Bundestag an dieses alte Urteil nicht mehr gebunden.

Gnadenlos hohe Strafen auch nach 1945

Die junge Bundesrepublik hat die nationalsozialistische Verfolgung der Homosexuellen bruchlos fortgesetzt. Die von den Nazis verschärften Strafvorschriften wurden beibehalten und ebenso exzessiv angewandt. Homosexuelle, die die nationalsozialistischen Konzentrationslager überlebt hatten, wurden zur Fortsetzung der Strafverbüßung wieder eingesperrt. Man setzte — wie zu Zeiten der Nationalsozialisten — alles daran, die Homosexuellen aufzuspüren und „unschädlich“ zu machen. Wenn jemand auffiel, durchkämmte man seinen gesamten Bekanntenkreis. Die Strafen für überführte Homosexuelle waren gnadenlos hoch. Die Verurteilung bedeutete für sie zugleich den sozialen Tod. Nicht wenige Homosexuelle, die die Verfolgung der Nazis überlebt hatten, sind in den fünfziger Jahren aus Verzweiflung über diese Verfolgungspraxis „freiwillig“ aus dem Leben geschieden.

Für diese „schweren Verfolgungen“ hat sich der Bundestag bei den Betroffen zu Recht entschuldigt. Er kann dieses Unrecht zusätzlich durch Aufhebung der Urteile korrigieren. Das sollte getan werden, solange die Betroffenen noch leben. Im Januar 2012 hat die Fraktion DIE LINKE im Berliner Abgeordnetenhaus einen Antrag eingebracht, der eine Bundesratsinitiative Berlins für die Rehabilitierung und Entschädigung aller nach §175 Verurteilten fordert.

Manfred Bruns
LSVD-Bundesvorstand

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