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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD⁺)

Bundesregierung will faktischer Aushebelung des Asylsystems zustimmen

LSVD gegen Grenzverfahren und Abschiebungen in für LSBTIQ* unsichere Drittstaaten

Pressemitteilung vom 06.06.2023

Berlin, 06. Juni 2023. Am 8./9. Juni wollen die EU-Mitgliedstaaten auf dem EU-Rat für Inneres eine Reform des Asyl-Systems beschließen. Unter anderem sollen Geflüchtete in vermeintlich sichere Drittstaaten abgeschoben werden können, es sollen systematisch Asylgrenzverfahren unter Haftbedingungen durchgeführt werden und das Dublin-System soll verschärft werden. Innenministerin Faeser (SPD), Außenministerin Baerbock (Grüne), Vizekanzler Habeck (Grüne) und Familienministerin Paus (Grüne) haben signalisiert, den Plänen zustimmen zu wollen, und fordern lediglich, dass insbesondere Familien und Kinder aus den Grenzverfahren ausgenommen werden sollen. Das Vorhaben soll dann im nächsten Schritt im EU-Gesetzgebungstrilog bis Anfang 2024 verhandelt werden. Gelingt dies, würden auch lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, intergeschlechtliche und queere (LSBTIQ*) Asylsuchende, die über eine EU-Außengrenze einreisen, zu Asylverfahren an den EU-Außengrenzen unter Haftbedingungen gezwungen. Auch sie laufen dann Gefahr, in zukünftig als "sichere Drittstaaten" deklarierte Länder abgeschoben zu werden. Patrick Dörr kommentiert dies für den Bundesvorstand des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland (LSVD):

Für Geflüchtete ganz allgemein, ganz besonders aber auch für LSBTIQ* Schutzsuchende, ist die geplante Reform ein Horrorszenario. Die Unterbringung in Haftlagern wird den Zugang zu medizinischer und psychosozialer Versorgung unmöglich machen und die Gewaltgefahr für ohnehin besonders schutzbedürftige LSBTIQ* potenzieren. Die jahrelange Erfahrung zeigt zudem: LSBTIQ* outen sich oft erst sehr spät im Asylverfahren, oft erst im Rahmen eines Klageverfahrens oder noch später. Grund hierfür sind die oft ein Leben lang gelernte Angst und Scham, das fehlende Wissen um die Schutzrechte für verfolgte LSBTIQ*, aber auch die auch in Deutschland noch mangelhafte Schutzbedarfserkennung. Wenn entsprechend den Vorschlägen dann Asylsuchende aus Ländern mit relativ niedrigen Schutzquoten in Grenzverfahren kommen, wird dies ganz besonders auch LSBTIQ* Geflüchtete treffen, da unter diesen Staaten auch viele LSBTIQ*-Verfolgerstaaten sind. Outet sich zum Beispiel ein schwuler Iraker oder eine lesbische Senegalesin in der Grenzhaft nicht direkt, wird der Asylantrag direkt als unzulässig abgewiesen und die Person soll in für sie vermeintlich sichere Drittstaaten abgeschoben werden, also im Zweifelsfall ein Land, in dem die Person noch nie war. Es ist davon auszugehen, dass die Standards für die Einstufung solcher "sicherer Drittstaaten" soweit abgesenkt werden, dass auch regelmäßig LSBTIQ*-Verfolgerstaaten als "sicher" eingestuft werden.

Die Bundesregierung hat sich zum Inklusionskonzept für die Außen- und Entwicklungspolitik bekannt, Außenministerin Baerbock hat selbst die feministische Außenpolitik proklamiert. Die Bundesregierung hat überdies in ihrem Koalitionsvertrag versprochen, die Bedingungen für LSBTIQ* Geflüchtete zu verbessern. Innenministerin Faeser hat selbst betont, wie wichtig ihr ein besserer Schutz für LSBTIQ* Geflüchtete ist. All die Erfolge, die in dieser Legislatur für LSBTIQ* Schutzsuchende errungen wurden, würden durch die geplante Reform faktisch zunichte gemacht. Die geplante EU-Asylreform bedeutet eine schärfere Asylpolitik gegen LSBTIQ* Geflüchtete, als wir sie jemals unter dem CSU-Innenminister Seehofer gesehen haben. Dass dabei diese Verschärfung auch für LSBTIQ* Schutzsuchende nicht auf Druck anderer EU-Staaten passiert, sondern ein ureigenes Anliegen auch der Bundesregierung selbst ist, zeigt sich darin, dass sie parallel zu diesem Horrorszenario auch noch die Einstufung weiterer LSBTIQ*-feindlicher Länder als sogenannte "sichere Herkunftsstaaten" betreibt.

Der LSVD fordert die Bundesregierung auf, sich an ihre Wahlkampfversprechen zu erinnern und sich gegen die faktische Aushebelung des Asylrechts zu stellen. In Grenzverfahren ist ein ordentliches, faires Asylverfahren nicht möglich, weder für LSBTIQ* Geflüchtete noch für andere Schutzsuchende. Das geplante Reformvorhaben ist daher grundsätzlich abzulehnen. Sollte die Bundesregierung tatsächlich zustimmen, muss die Bundesregierung mindestens folgende Punkte zur Bedingung für ihre Zustimmung machen, um zumindest einen minimalen Standard beim Schutz von LSBTIQ* Asylsuchenden sicherzustellen:

  • Erstens müssen LSBTIQ* Geflüchtete regelmäßig aus den Grenzverfahren herausgenommen werden, da für ihr Schutzrecht die Schutzquoten der Länder überhaupt keine Aussagekraft haben. Um sich im Asylverfahren zu outen, brauchen sie Kontakt zur LSBTIQ* Zivilgesellschaft, zu spezialisierten Beratungsstellen.
  • Zweitens muss im Rahmen der Reform klargestellt werden, dass LSBTIQ* im Rahmen der Grenzverfahren überhaupt als "besonders schutzbedürftige"  Gruppe anerkannt werden. Dies ist derzeit EU-weit nicht geregelt. 
  • Drittens müssen in den geplanten Haftlagern an der EU-Außengrenze auch LSBTIQ*-Organisationen geförderte Stellen erhalten, um die Schutzbedarfserkennung vor Ort sicherzustellen und spezialisierte Beratung anzubieten. Hierbei muss vor allem auch klar geregelt sein, dass alle Asylsuchenden systematisch informiert werden, dass Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität ein anerkannter Asylgrund ist.
  • Viertens muss sichergestellt werden, dass die Haftlager für ein regelmäßiges unabhängiges Monitoring (speziell mit Blick auf besonders vulnerable Gruppen) durch Menschenrechtsorganisationen zugänglich sind.
  • Fünftens muss die Bundesregierung durchsetzen, dass EU-weit nur solche Staaten, in denen LSBTIQ* in allen Landesteilen sicher vor Verfolgung sind, als "sichere Drittstaaten" deklariert werden.

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