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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD⁺)

Queering Jugendarbeit : Wie offen ist die Jugendarbeit für geschlechtliche und sexuellen Vielfalt?

Sichtbarkeit, Empowerment und Diskriminierungsschutz für eine demokratische Gesellschaft

Unter dem Titel "Queering Jugendarbeit" hielt Prof. Dr. Melanie Groß (Professur für Erziehung und Bildung mit dem Schwerpunkt Jugendarbeit an der Fachhochschule FH Kiel) die Keynote beim 3. Regenbogen-Parlament "Akzeptanz für LSBTI* in Jugendarbeit und Bildung" in Hamburg. Die Kurzfassung dokumentieren wir hier.

Thema des 3. bundesweiten Regenbogen-Parlaments „Akzeptanz von LSBTI* in Jugendarbeit und Bildung“ war die Frage, wie Regenbogen-Kompetenz in der Kinder- und Jugendarbeit erhöht werden kann. Regenbogen-Kompetenz meint dabei die Fähigkeit von Fachkräften, mit den Themen der sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität professionell und möglichst diskriminierungsfrei umzugehen.

Unter dem Titel "Queering Jugendarbeit" hielt Prof. Dr. Melanie Groß (Professur für Erziehung und Bildung mit dem Schwerpunkt Jugendarbeit an der Fachhochschule FH Kiel) den Einführungsvortrag. Hier dokumentieren wir die Kurzfassung.

Inhaltsverzeichnis

  1. Schulen und Jugendarbeit gelten als homosexualitäts-, inter* und trans*feindliche Orte
  2. Jugendarbeit muss sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als selbstverständlichen Bestandteil ihrer Arbeit etablieren
  3. Coming-outs wohlwollend begleiten und Unterschiede anerkennen
  4. Ergebnisse der Forschung zu Geschlechter-Rollen und Rechtsextremismus bzw. gruppenbezogener Menschen-Feindlichkeit
  5. Leitfragen für Fachkräfte der Sozialen Arbeit, Jugendarbeit und Jugendhilfe
  6. Sichtbarkeit, Empowerment und Diskriminierungs-Schutz: Aufgaben für eine queerfreundliche Jugendarbeit
  7. Quellen

1. Schulen und Jugendarbeit gelten als homosexualitäts-, inter* und trans*feindliche Orte

Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt ist Alltag in unserer Gesellschaft, und dennoch sind Jugendliche, die der heterosexuellen Norm nicht entsprechen, immer noch - und in Zeiten wachsenden Rechtspopulismus auch zunehmend - mit zahlreichen Diskriminierungen oder sogar Gewalt konfrontiert.

Dies gilt auch für Einrichtungen, die Jugendliche eigentlich in ihrem Aufwachsen unterstützen sollen: Schulen und Jugendarbeit gelten als homosexualitäts-, inter* und trans*feindliche Orte. Für eine demokratische Gesellschaft auf der einen und für starke, selbstbewusste und selbstbestimmte Jugendliche auf der anderen Seite muss Jugendarbeit ihre Rolle kritisch reflektieren und Vielfalt umfassend unterstützen.

2. Jugendarbeit muss sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als selbstverständlichen Bestandteil ihrer Arbeit etablieren

Prof. Melanie Groß (FH Kiel) beim Vortrag Queering Jugendarbeit : Wie offen ist die Jugendarbeit für geschlechtliche und sexuellen Vielfalt?

Eine grundlegende Schwierigkeit, mit der die Kinder- und Jugendarbeit zu kämpfen hat, ist die fortschreitende Unterfinanzierung derselben. In den letzten Jahren wurden die für die freien Träger zur Verfügung stehenden Mittel um ein Drittel gekürzt. Gründe dafür sind u.a. der Kita-Ausbau sowie der Ausbau der Betreuung in Ganztagsschulen, deren Angebote mehr und mehr die Angebote von Jugendzentren und Abenteuer-Spielplätzen zu ersetzen drohen.

Gleichzeitig steht die Kinder- und Jugendarbeit vor der Herausforderung, ihre Angebote für alle Kinder und Jugendlichen zu öffnen und sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als selbstverständlichen Bestandteil ihrer Arbeit zu etablieren.

Das Hinterfragen von Heteronormativität begründet sich aus der Aufgabe der Kinder- und Jugendarbeit, die Entwicklung einer kritischen Distanz zu gesellschaftlichen Normalitäts-Anforderungen im Sinne eines selbstreflexiven Bildungsprozesses zu unterstützen.

Die Begleitung im Prozess des Coming-out kann als Förderung von Selbstermächtigungs-Prozessen verstanden werden. Die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen Differenzen anzuerkennen ist nicht nur ein Kennzeichen von gesellschaftlicher Vielfalt, sondern auch ein Wesenszug der Demokratie. Um solche Bildungs-Prozesse begleiten zu können, bedarf es einer permanenten Reflexion und De-Chiffrierung gesellschaftlicher Verhältnisse durch die Fachkräfte. (1)

3. Coming-outs wohlwollend begleiten und Unterschiede anerkennen

Dagegen steht die Erfahrung aus der alltäglichen Praxis, dass Diskriminierungen häufig erst bei persönlicher Betroffenheit thematisiert werden. So ist es kaum verwunderlich, dass Schule und Jugendarbeit als LSBTI*-feindliche Orte anzusehen sind.(2)

Aus Sorge vor Ablehnung und aus Angst vor negativen Folgen zögern Jugendliche ihr Coming Out hinaus, bis sie aus dem Alter der Bildungs- und Jugend-Einrichtungen „herausgewachsen“ sind. Die neueste Studie zum Freizeitverhalten von LSBTI*-Jugendlichen hat ergeben, dass nahezu die Hälfte der Jugendlichen das Angebot eines Jugendzentrums bzw. einer Jugendgruppe nicht interessiert. Rund ein Drittel hat angegeben, dass sie nicht nahe genug an speziellen Angeboten für LSBTI* wohnen, was die Unterversorgung des ländlichen Raums kennzeichnet.(3)

„Die Jugendarbeit muss ihren Auftrag, Angebote für alle Jugendlichen zu entwickeln und umzusetzen, ernst nehmen und Konzeptionen und Kompetenzen der Fachkräfte so erweitern, dass sie einen wichtigen Beitrag für die Demokratisierung und Anerkennung von Differenz leisten.“ – Melanie Groß

4. Ergebnisse der Forschung zu Geschlechter-Rollen und Rechtsextremismus bzw. gruppenbezogener Menschen-Feindlichkeit

Die Forschung kann an dieser Stelle Erklärungen aus zweierlei Richtungen bieten: Die Geschlechter-Forschung lieferte die theoretischen Grundlagen, um die Fachdiskurse für das Bewusstsein über Abweichungen von der heteronormativen Matrix zu öffnen.(4) Und die Rechtsextremismus-Forschung fundierte die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung, die sich mit der Normalisierung der Diskursverschiebung nach rechts beschäftigt.

Beide Forschungszweige werden von aktuellen Studien bestätigt, nach denen in der Allgemein-Bevölkerung die Abwertung von Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen zunimmt.(5) Diese gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist ein eindeutiges Indiz dafür, dass die Abwehr gegenüber einer vielfältigen und offenen Gesellschaft zunimmt.

Ein zentrales Ergebnis der aktuellen Forschung ist, dass es bedeutsame Zusammenhänge gibt: Zum ersten in der Abwertung von homosexuellen Menschen mit der Abwertung von trans* Menschen, zum zweiten von Rassismus mit der Abwertung von homosexuellen Menschen und zum dritten von Sexismus mit der Abwertung von trans* Menschen.

Diese Zusammenhänge werden anhand des öffentlichen Auftretens der sogenannten „Besorgten Eltern“ praktisch erlebbar: Die Feindlichkeit gegenüber LSBTI* wird als Eintreten für die sogenannte „Normalität“ deklariert. Aufklärung über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt wird als „Indoktrination“ gebrandmarkt. Kinder und Jugendliche müssen angeblich vor einer sogenannten „Umerziehung beschützt“ werden.(6)

An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass Inter* zwar in der Auseinandersetzung von Rechts angegriffen werden, jedoch (noch) nicht in den Fokus der Forschung zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit gelangt sind.

5. Leitfragen für Fachkräfte der Sozialen Arbeit, Jugendarbeit und Jugendhilfe

Die Kinder- und Jugendarbeit muss angesichts dieser Herausforderungen mehrere Leitfragen zur Haltung ihrer Fachkräfte beantworten (7):

  • Welche Identitäts-Konstruktionen werden in den Einrichtungen und durch das Handeln oder Nicht-Handeln der Fachkräfte ermöglicht oder ausgeschlossen?
  • Welche symbolischen Repräsentationen werden in den Einrichtungen und durch die Fachkräfte (intendiert oder nicht intendiert) eingesetzt und reproduziert?
  • Welche sozialen Strukturen werden in der Einrichtung reproduziert und welche Strukturen werden eingesetzt, um Subjektbildungs-Prozesse zu unterstützen?

Prof. Melanie Groß auf dem 3. Regenbogen-Parlament. Dort stellte sie Prof. Melanie Groß (FH Kiel) stellte Sichtbarkeit, Empowerment und Diskriminierungs-Schutz als Aufgaben für eine queerfreundliche Jugendarbeit vor..Die grundlegende Voraussetzung für professionelles Handeln bildet die Sichtbarkeit, Anerkennung und Akzeptanz von Differenz und Vielfalt für eine subjektbildungs- und anerkennungstheoretisch basierte demokratische und an Menschenrechten orientierte Struktur im sozialpädagogischen und sozialarbeiterischen Verhältnis zwischen Fachkraft und Adressat*in.

Offenheit für die Erfahrung anderer ist dabei besonders wichtig, um die unterschiedliche Betroffenheit von Macht- und Herrschafts-Verhältnissen und deren Auswirkungen deutlicher werden zu lassen. Als Ideal und Auftrag der Sozialen Arbeit bleibt es notwendig, den Anspruch der Selbst-Reflexivität zu verfolgen und als Bedingung für Professionalität permanent gesellschaftliche Verhältnisse sowie die eigene Positionierung innerhalb der Gesellschaft zu reflektieren und zu de-chiffrieren. (8)

6. Sichtbarkeit, Empowerment und Diskriminierungs-Schutz: Aufgaben für eine queerfreundliche Jugendarbeit

Demokratisierung von Differenz für Sichtbarkeit, Empowerment und Diskriminierungsschutz für eine demokratische Gesellschaft (9):

  1. Jugendarbeit macht deutlich, dass Gesellschaft vielfältig ist und dass diese Vielfalt auch in Bezug auf Geschlecht und Sexualität positiv und normal ist.
  2. Jugendarbeit macht deutlich, dass Ausgrenzungen und Diskriminierungen vulnerable Menschen verletzen und stigmatisieren.
  3. Jugendarbeit zeigt, dass sie offen und ansprechbar für Jugendliche ist, die besondere Bedarfe haben, wenn sie beispielsweise Befürchtungen haben, sich zu outen oder wenn sie bereits mit Diskriminierungen konfrontiert sind. Mit den Leitprinzipien der Sichtbarkeit, Anerkennung und Akzeptanz zeigt sie sich auch ansprechbar für Sorgen rund um Themen wie Verliebt-Sein, Körper und Zukunfts-Entwürfe; und das eben nicht nur für gendernorm-konforme Jugendliche.

(Kurzfassung eines Vortrags, den die Referentin in freier Rede gehalten hat)

Die Broschüre mit den Ergebnissen und Handlungs-Empfehlungen des 3. Regenbogen-Parlaments "Akzeptanz für LSBTI* in Jugendarbeit und Bildung" kann als pdf heruntergeladen werden oder aber so lange der Vorrat reicht per Mail an presse@lsvd.de kostenfrei bestellt werden.

7. Quellen

1 Vgl. u.a.: Hafeneger, Benno; Henkenborg, Peter; Scherr, Albert (2007): Pädagogik der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder. Und: Scherr, Albert (1997): Subjektorientierte Jugendarbeit. Eine Einführung in die Grundlagen emanzipatorischer Jugendpädagogik.
2 Krell, Claudia (2013): Lebenssituationen und Diskriminierungserfahrungen von homosexuellen Jugendlichen in Deutschland.
3 Krell, Claudia; Oldemeier, Kerstin (2018): Queere Freizeit. Inklusions- und Exklusionserfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und *diversen Jugendlichen in Freizeit und Sport.
4 Vgl. dazu: Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter.
5 Zick, Andreas; Küpper, Beate; Berghan, Wilhelm (2019): Verlorene Mitte Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland.
6 Vgl. Schmincke, Imke (2015): Das Kind als Chiffre politischer Auseinandersetzung am Beispiel neuer konservativer Protestbewegungen in Frankreich und Deutschland. In: Hark, Sabine; Villa, Paula-Irene (Hg): Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen. 
7 Vgl. Groß, Melanie (2014): Intersektionalität. Reflexionen über theoretische und konzeptionelle Perspektiven für die Jugendarbeit. In: von Langsdorff, Nicole (Hg): Intersektionalität und Jugendhilfe.
8 Vgl. Groß, Melanie (2019): Zur Reflexivität von Fachkräften: Rassismuskritik als Bedingung professioneller Sozialer Arbeit. In: Nowacki, Katja; Remiorz, Silke (Hg): Junge Geflüchtete in der Jugendhilfe. Chancen und Herausforderungen der Integration.
9 Vgl. Groß, Melanie (2020): Queer und Jugendarbeit. In: Deinet, Ulrich; Sturzenhecker, Benedikt; v. Schwanenflügel, Larissa; Schwerthelm, Moritz (Hg.): Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit.

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