Gegen den Rechtsruck: Frei_heit! A_za_di! Free Afghan LGBT!
Artikel von Jörg Hutter
Zur Abschiebe- und Asylpraxis der Bundesregierung
Derzeit soll das Abschieben von Menschen, die hier Schutz vor Verfolgung suchen, vereinfacht werden. Denn: Die hiervon Betroffenen haben es immer schwerer, sich gegen ungerechtfertigte "Rückführungen" in ihre Heimatländer rechtlich zu wehren. Für LSBTIQ*-Personen sind diese Maßnahmen besonders gefährlich. Sie werden wohl in Zukunft oftmals tragisch enden, weil diese Abschiebungen in ihre ehemalige Heimat sie oftmals unmittelbar einer erheblichen und unausweichliche Lebensgefahr aussetzen. Hintergrund dieser Entwicklung ist die auf EU-Ebene beschlossene Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), die festlegt, wie die an den EU-Außengrenzen ankommenden Geflüchteten registriert und ihr möglicher Anspruch auf einen Schutzstatus geprüft werden sollen. Dadurch werden rechtsstaatliche Grundsätze aufgegeben, weil Anhörungen mit anwaltlicher Vertretung und Rechtsschutz nicht mehr garantiert sind. Das kritisiert der LSVD⁺ scharf.
Das im Januar 2024 beschlossene Gesetz zur Rückführung von Geflüchteten (Rückführungsverbesserungsgesetz) reiht sich in diese restriktive Handhabung von Asylverfahren ein. Die Entwicklungen der letzten Wochen haben unsere Befürchtungen leider bestätigt. Die besonders hohe Vulnerabilität von LSBTIQ*-Personen findet hier keine Berücksichtigung. So wurde erst vor Kurzem ein schwuler Iraker abgeschoben, ohne dass seine Homosexualität im Asylverfahren als Fluchtgrund berücksichtigt wurde. Abschiebungshaft ist grundsätzlich unabhängig von gestellten Asylverfahren immer möglich und Abschiebungen müssen nicht mehr angekündigt werden. Unter diesen Bedingungen lassen sich Rechtsmittel von Behördenseite leicht aushebeln. In diesem Fall hat die Anwältin der Anhörung nicht beigewohnt, der Partner des Irakers wurde nicht als Zeuge zugelassen und auch der Ablehnungsbescheid war vor der Abschiebung nicht zugestellt. (Schwulem Iraker Ali droht Abschiebung in den LSBTIQ*-Verfolgerstaat Irak)
Es steht außer Frage, dass die immer restriktiveren Regelungen LSBTIQ*-Personen besonders hart treffen werden, denn auch ihre besonderen Schutzbedarfe lassen sich leichter ignorieren. Dies liegt daran, dass die Betroffenenverbände nicht wirklich an den Reformen beteiligt waren und dass es kein Monitoring der Verfahren gibt. Somit liegt es einzig in der Hand der jeweiligen Entscheider*innen, ob abgeschoben wird oder nicht. In diesem Fall hat sich der schwule Mann aus dem Irak dann am Flughafen mit Händen und Füßen gewehrt, in das Flugzeug verfrachtet zu werden und war nach einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit der Polizei nicht mehr transportfähig. Seine Abschiebung hat er somit in letzter Minute erst einmal selbst abwenden können.
Migration als problemorientiertes Politikfeld?
Mit dem Thema Migration sei heute parteipolitisch kein Blumentopf mehr zu gewinnen, meinte neulich ein Politiker der Linken zu mir. Über das Bundesaufnahmeprogramm der Bundesregierung wollen selbst wohlgesonnene Politiker*innen kaum noch sprechen, weil es eher unangenehm ist, für dieses Programm zu werben. Das könne noch mehr Wählerstimmen kosten. Ähnliche Äußerungen ließen sich wohl mühelos weiter aufzählen. Sie alle machen deutlich, dass beim Thema Migration mittlerweile ein gewisses Unwohlsein mitschwingt, als ob der Einwanderung generell und immer etwas Problematisches anhaftet. Niemals aber etwas Vorteilhaftes, etwas, dass auch unserer Gesellschaft und unseren privaten Beziehungen von Nutzen sein könnte.
Dabei will ich nicht bestreiten, dass Deutschland nicht die halbe Menschheit bei sich einwandern lassen kann und dass Migration auch eine Menge Arbeit und Probleme verursacht. Einwanderung verursacht zuerst einmal Kosten, die beglichen werden müssen und Einwanderung bringt auch Probleme mit sich, wenn die Eingliederung und Integration der ankommenden Menschen nicht gelingt. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn potenzielle Gewalttäter*innen mit einreisen, die hier Attentate begehen und Menschen verletzen oder gar ermorden. Der Sicherheitsaspekt ist hier ein wesentlicher und ich weiß es zu schätzen, wenn Sicherheitsbehörden gut arbeiten und Gewalttäter*innen rechtzeitig erkennen oder besser noch, wenn sie diese gleich an einer Einreise hindern. Denn im Ernstfall zählen gerade LSBTIQ*-Personen mit zu den ersten Gewalt-Opfern in Deutschland.
Die entscheidende Frage kann meiner Meinung nach allerdings nicht sein, ob wir Migration insgesamt öffnen oder völlig verhindern sollten, sondern es ist die Frage nach dem "wie": Wie können wir die Migration nach Deutschland steuern und gestalten: von der Menge her genauso wie von den Menschen, die wir aufnehmen wollen, etwa weil sie besonders qualifiziert oder besonders gefährdet sind. Und hierbei versucht Deutschland derzeit einen neuen Ansatz, der es wert ist, genauer beleuchtet zu werden. Ich spreche hier von dem Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan, das in seiner Konzeption durchaus gut durchdacht ist.
Zum ersten handelt es sich hier nicht um das Gewähren von Asyl. Asyl greift ja erst dann, wenn die Menschen an unsere Tür klopfen und einreisen wollen. Über Aufnahmen wird hingegen nicht an unserer Grenze oder im Inland entschieden, sondern die Betreffenden leben noch in ihren Heimatländern oder in so genannten Drittstaaten, in welche die Menschen bereits geflohen sind. Dieses Vorgehen eröffnet ganz andere Möglichkeiten: denn jetzt können zuerst einmal die Kriterien festgelegt werden, die über eine Aufnahme entscheiden sollen, etwa homosexuelle/queere Menschen oder Frauen aus Ländern, in denen ihnen Haft, Folter und/oder die Todesstrafe drohen, so wie für Afghanistan geschehen. Zudem lassen sich Aufnahmezahlen vorab festlegen nach den Kriterien, die das Empfängerland vorgibt: etwa anhand der vorhandenen Kapazitäten in den Kommunen, die am Ende die Erstversorgung sicherstellen müssen. Beim Bundesaufnahmeprogramm von Afghanistan ist eine Aufnahme von monatlich 1.000 Personen anvisiert.
Zum anderen findet die Versorgung und Erstbetreuung im Falle von Afghanistan in seinem Nachbarland Pakistan statt. Dort kann die Prüfung und Visavergabe stattfinden, alles das, was bei einem Asylverfahren innerhalb Deutschlands angesiedelt ist.
Und drittens können Nichtregierungsorganisationen mit ihrem fachlichen Wissen leichter eingebunden werden, weil sie eine Vorauswahl nach den vorab festgelegten Kriterien treffen können. Hiermit lässt sich eine neue Qualitätsstufe einbauen. Der LSVD⁺ – Verband Queere Vielfalt hat hierbei als eingabeberechtigte Stelle zusammen mit afghanischen LSBTIQ*-Aktivisten*innen das beste Fachwissen gebündelt, um festzustellen, ob diejenigen, die behaupten lesbisch, schwul oder eine trans* Person zu sein, es auch tatsächlich sind.
Und schließlich viertens können Sicherheitsüberprüfungen vor der Einreise durchgeführt werden. Wenn die Überprüfungen funktionieren, dann können sie potenzielle Gewalttäter*innen vor der Einreise identifizieren und Gewalttaten verhindern helfen.
Natürlich ist mir klar, dass auch dieses Instrument seine Grenzen hat. Bei riesigen Naturkatastrophen oder Krieg und Verwüstung wird auch ein Aufnahmeverfahren überfordert sein. Allerdings ließen sich durch Aufnahmeverfahren in mehreren Ländern die Migrationsströme etwas steuern und den Außendruck an den Grenzen von Europa etwas mindern. Zumal dann auch immer auf diese legalen Möglichkeiten der Einwanderung verwiesen werden kann.
Wichtig ist insgesamt gesehen aber der folgende Aspekt: Migration löst auch Probleme. Etwa die Überalterung unserer Gesellschaft. Denn schließlich zahlen eingewanderte, überwiegend junge Menschen, wenn sie denn fest in die Gesellschaft integriert sind, in unsere Sozialsysteme ein. Und sie bringen Know-how mit: Sachverstand, Fähigkeiten und Kompetenzen, die uns wettbewerbsfähiger machen, beispielsweise bei den Sprachen. Multi-linguistisch gebildete Menschen bereichern jedes Arbeitsteam. Sie erschließen in Unternehmen neue Arbeitsfelder und erweitern Lieferanten- und Kundenkreise. Und schließlich bereichern eingewanderte Menschen unseren Alltag und unsere Kultur.
Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan: Vorbild oder ein Beispiel des Scheiterns?
Medial wird derzeit viel über das Bundesaufnahmeprogramm berichtet und dieses in Frage gestellt. Verschiedene Medien sehen schwerwiegende Sicherheitslücken und berichten z.B. über sogenannte "Scharia-Richter" [1], die von Deutschland aufgenommen worden seien. Tatsächlich hat die Bundesregierung diese Vorwürfe durch Staatsanwaltschaft und Sicherheitsbehörden überprüfen lassen und konnte bereits am 5.04.2023 Entwarnung geben.
"Nach derzeitigem Kenntnisstand gehen wir lediglich in einem einzelnen Fall davon aus, dass es sich hier um einen Gefährder handelte. Ich möchte aber noch einmal betonen: Hier haben unsere bereits etablierten Prüfmechanismen funktioniert. Diese Person ist nicht eingereist, und das Verfahren wurde vor seinem Abschluss gestoppt." (Regierungspressekonferenz vom 5.04.2023, https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/regierungspressekonferenz-vom-5-april-2023-2183456).
Trotzdem haben etwa Focus und Cicero den Vorwurf, dass die Außenministerin Annalena Baerbock ohne Prüfung alle Menschen und damit auch potenzielle Gefährder*innen einreisen hätte lassen, im Sommer 2024 erneut wiederholt [2]. Auch wenn die Fakten nicht stimmen, verfängt das Narrativ. Dadurch werden aus unserer Sicht menschenrechtliche Errungenschaften diskreditiert.
Hinzu kommen Vorwürfe, es seien in großem Stil Menschen ohne oder mit falschen Pässen eingereist (ebd.). Wir sollten aber erst einmal abwarten, zu welchen Ergebnissen hier die zuständigen Ermittler*innen und Staatsanwaltschaften selbst kommen.
Auffällig ist zudem, dass die Beschreibungen ungenau und nicht präzise sind, denn alles firmiert hier unter dem Schlagwort "Bundesaufnahmeprogramm". Dabei handelt es sich seit Sommer 2021 um vier verschiedene Programme: Neben dem Ortskräfteprogramm gibt es die so genannte Menschenrechtsliste aus 2021/2022, danach das so genannte Überbrückungsprogramm 2022 und erst seit Dezember 2022 existiert das Bundesaufnahmeprogramm, von dem Ortskräfte explizit ausgeschlossen sind. Daher ist die Aussage, "34.000 Flüchtlinge aus dem Bundesaufnahmeprogramm besaßen keine oder nur primitiv gefälschte Dokumente" [3] falsch, denn es gab bis Sommer 2024 nur insgesamt 540 Einreisen nach dem Bundesaufnahmeprogramm. Falsch ist dann auch die Aussage, dass das deutsche Aufnahmeprogramm durch islamische Ortskräfte unterwandert sei, wie der Bundesnachrichtendienst festgestellt haben soll (ebd.). Denn durch das Bundesaufnahmeprogramm ist keine einzige Ortskraft aufgenommen worden. Dann heißt es weiter, der liberale Einreisemodus sei im März 2023 ausgesetzt worden, um zusätzliche Sicherheitsinterviews durchzuführen. Auch diese Aussage ist falsch, weil es bis zu diesem Zeitpunkt noch keine einzige Ausreise nach dem Bundesaufnahmeprogramm gegeben hat. Die ersten Ausreisen nach dem Bundesaufnahmeprogramm konnten erst am 26.09.2023 mit zwei Linienflügen nach München und Bremen realisiert werden. Und falsch ist auch die immer wieder vorgetragene Behauptung, die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) entschieden hier über die Aufnahmen. Die NGOs schlagen hingegen Personen nur vor, die Aufnahmeentscheidungen liegen dagegen in der hoheitlichen Kompetenz des Innenministeriums.
Mir scheint, dass das Bundesaufnahmeprogramm mehreren Medien von Anfang an ein Dorn im Auge war. Sie haben es von Beginn an attackiert, ihre Agitation war – so muss man leider feststellen – ziemlich erfolgreich. Drei Monate nach dem Start setzte die Regierung das Programm wegen Sicherheitsbedenken aus, obwohl die mit dem Aufnahmeprogramm gar nicht in Zusammenhang standen, sondern das Überbrückungsprogramm betrafen.
Kapitulationserklärung
Diese Berichterstattung hat die Bundesregierung tatsächlich beeindruckt und zu einem Kurswechsel in der Migrationspolitik veranlasst. Der politische Diskurs auch in den demokratischen Parteien hat sich stark verschoben. "Das Gerede von den Brandmauern gegen rechts ist völlig verfehlt. Denn das Problem liegt in der Mitte der Gesellschaft. Wenn die Mitte der Gesellschaft die Positionierung von rechts auch nur stillschweigend akzeptiert, dann leistet sie einer Machtübernahme von rechts geradezu Vorschub" (Carolin Emcke bei der einer Ehrung im Rahmen der Pride-Feierlichkeiten in Köln am 20. Juli 2024). Die Bundesregierung agiert gerade genau so, indem sie im Juli erklärt hat, kein weiteres Geld mehr für das Bundesaufnahmeprogramm ab 2025 zur Verfügung zu stellen. Sie hat so entschieden, obwohl das Programm laut Koalitionsvereinbarung und Regierungserklärung bis Ende 2025 laufen sollte.
Das ist nichts anderes als eine Kapitulationserklärung! Sie bedeutet im Extremfall, dass wir LSBTIQ*-Personen aus Afghanistan in Pakistan zurücklassen müssen, weil das Programm genauso chaotisch beendet wird wie 2021 der Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Es wird die Leben dieser Menschen kosten, denn die Taliban werden genau das tun, was sie angekündigt haben: die Betreffenden nach ihrer zwangsweisen Rückkehr internieren und töten: durch Folter, Steinigungen und lebendiges Begraben unter Mauern.
Was erwarten denn die Politiker*innen jetzt von ihrem Schachzug? Dass das Thema Migration damit vom Tisch ist? Der Diskurs ist bereits verschoben. Da wird doch nachgelegt werden, mit Sicherheit! Das Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan vorzeitig zu beenden, gleicht einer Steilvorlage für Rechts.
Jetzt kann die extreme Rechte das Thema Migration nach ihrem Credo erfolgreich neu besetzen. Die Parolen werden lauten: Aufnahmen nach Deutschland gescheitert, Einwanderung stoppen, Rückführungen und Abschiebungen intensivieren, gesellschaftliche Vielfalt einschränken, staatliche Leistungen nur für (biologisch) Deutsche etc.
Wir wollen und können allerdings dagegenhalten! Wir werden die Vorteile der Einwanderung sinnlich erlebbar machen: durch öffentliche Auftritte der befreiten afghanischen LSBTIQ* und ihrer Verbündeten, ihrer Allys. Wir wollen für das Thema sensibilisieren, indem wir den Zahlen ein Gesicht und ein Herz geben: zum Erleben. So kann es vielleicht auch in der Politik noch zu einem Umdenken kommen.
Die Parolen werden lauten: Frei_heit! A_za_di! Free Afghan LGBT!
Fußnoten
[1] Bild am 04.03.2023: Aus Afghanistan: Regierung soll Scharia-Richter importiert haben! | Politik | BILD.de
Cicero am 29.03.2023: Meistgelesene Artikel 2023: März - Bundesregierung holt Scharia-Richter nach Deutschland | Cicero Online
Cicero am 17.05.2023: Streit mit dem Innenministerium - Baerbock blockierte strengere Sicherheitsprüfung für Afghanen | Cicero Online
[2] Focus am 09.08.2024: „Außer Kontrolle“: So wird Baerbock-Ministerium in Visa-Affäre bewertet - FOCUS online
Cicero am 24.06.2024: Rechtsbeugung im Auswärtigen Amt? - Staatsanwaltschaft ermittelt in Baerbocks Visa-Affäre | Cicero Online
[3] Focus am 28.07.2024: „Nichts kann uns stoppen“: Ermittler machen in Visa-Affäre Ansage an Baerbock - FOCUS online