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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Großeltern in Regenbogenfamilien

Mit der Familiengründung ihrer lesbischen Tochter oder des schwulen Sohnes werden die neuen Großeltern mit eigenen und fremden Vorurteilen konfrontiert

Erfüllt sich der Kinderwunsch der lesbischen Tochter oder des schwulen Sohnes werden zukünftige Großeltern mit ihren eigenen und Vorurteilen von anderen konfrontiert. Wie können sie sich auf ihre neue Rolle freuen und vorbereiten?

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Eltern von Lesben und Schwulen sein

  • Nach dem Coming-out der Kinder haben auch die Eltern ein Coming-out
  • Reaktionen der Eltern nach dem Coming-out der Kinder
  • "Inneres Coming-out" der Eltern
  • "Äußeres Coming-out" der Eltern - erzählen wir "es" Freund*innen und Nachbar*innen
  • Reagieren Großeltern auf ein Coming-out der Enkel*innen anders?
  • Eltern können wichtige Unterstützer*innen für gesellschaftliche Akzeptanz sein

3. Großeltern werden und sein

  • Generationenbeziehungen - Die Rolle von Großeltern in Familien
  • „Gelassene Distanz“ durch Entbindung von der Erziehungspflicht
  • Großeltern als wichtige Bezugspersonen für die Enkel*innen und Unterstützung für die Organisation des Alltags

4. Der Weg zur Großelternschaft in Regenbogenfamilien

  • Vorurteile und Fragen zu Reproduktionsmedizin und Familiengründung
  • Gegenargumente statt Interesse: angebliche Unvereinbarkeit von Homosexualität und Elternschaft
  • Normative Vorstellungen von Geschlechterrollen, von Sexualität, von Reproduktion sowie vom Kindeswohl
  • Bearbeitung der eigenen Vorurteile für selbstbewusstes Auftreten nach außen

5. Wer ist verwandt? (biologische und soziale Großeltern)

  • Gesellschaftliche Bedeutung von (biologischer oder genetischer) Verwandtschaft: „natürliche“ Verwandtschaft wird sozial und rechtlich reguliert
  • Verwandtschaftsverhältnisse in Regenbogen-, Adoptions- und Pflegefamilien hinterfragen Dominanz biologischer Verwandtschaft
  • Konfliktquelle: Hierarchie zwischen sozialen und biologischen Großeltern
  • Bonusgroßeltern: Beziehung ohne vermeintliche Stabilität biologischer Verwandtschaft

6. Großeltern in Regenbogenfamilien – Eine Rolle ohne Skript

  • Neue Auseinandersetzung mit eigenen Vorurteilen zu Homosexualität
  • Aktiv zum Wohle der eigenen Kinder und Enkelkinder
  • Eigene Grenzen wahren und kommunizieren
  • Herausforderungen für Großeltern in Regenbogenfamilien zusammengefasst

1. Einleitung

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Das Coming-out der Tochter oder des Sohnes ist meist auch eines für ihre Eltern, ein Prozess, der sie mit „heterosexuellen Vorannahmen“ über ihr Kind konfrontiert. Die Eltern fragen sich oft: „Habe ich etwas falsch gemacht?“, „Was wird jetzt aus meinem Kind? Warum muss er/sie es so schwer haben?“ und vor allem: „Dann werde ich ja nie Großmutter bzw. Großvater!“

Bekommen die lesbische Tochter oder der schwule Sohn ein Kind, bricht zwar das Stereotyp „Homosexuelle können keine Eltern sein“ zusammen. Doch die neuen Großeltern sind oft nicht einfach nur glücklich, sondern erneut mit eigenen und fremden Vorurteilen konfrontiert. Statt Glückwünschen oder Nachfragen zum Enkelkind ernten sie leider auch sensationslüsterne Fragen, verständnislose Kommentare, irritierte Blicke oder betretenes Schweigen.

Als mein heterosexueller Sohn Vater wurde, haben mir alle Leute, Nachbarn, Bekannte gratuliert. Als aber mein schwuler Sohn sich für eine Adoption angemeldet hat, habe ich von vielen Seiten gehört: ‚Müssen die jetzt auch noch Kinder haben? Die können doch schon heiraten. Das reicht doch!‘  Das tut weh! Ich habe mich so gefreut, dass er nun vielleicht doch noch Vater wird. Aber diese Kommentare sind einfach nur verletzend.“

Mutter bei einem Bundeselterntreffen des befah e.V. Berlin

Diese Abwertung kann die Freude am Enkelkind empfindlich stören und für die neuen Großeltern ein „zweites Coming-out“ voller Zweifel und Ängste mit sich bringen. Großeltern homosexueller Eltern zu unterstützen heißt daher nicht nur, ihnen bei vorurteilsbehafteten Reaktionen des Umfelds beizustehen, sondern auch bei der Bearbeitung möglicher eigener Vorbehalte, damit sie ihre neue Rolle mit Freude und positiver Energie ausfüllen können.

Noch vor einigen Jahren mussten sich die Eltern von Lesben und Schwulen vor allem mit Intoleranz gegenüber Homosexualität im Allgemeinen auseinandersetzen – sowohl mit ihrer eigenen als auch mit der ihres sozialen Umfelds. Inzwischen geraten zunehmend andere, vielfältigere Familienbilder in den Mittelpunkt der Debatte. Besonders die Eltern von Lesben und Schwulen sind gezwungen, ihre alten Familienbilder zu hinterfragen. Manchmal aufgrund der Reaktionen ihres Umfelds auf ihre neue Form der Großelternschaft. Manchmal sind es aber auch die eigenen Vorstellungen, die vom Kinderwunsch der lesbischen Tochter oder des schwulen Sohnes in Frage gestellt werden.

Welche Erfahrung es ist, Großeltern in Regenbogenfamilien zu werden und zu sein - dazu gibt es bislang keine wissenschaftliche Studie. Wir haben für diesen Artikel daher auf Arbeiten über Großelternschaft, über Regenbogenfamilien und über Eltern von Lesben und Schwulen zurückgegriffen.

2. Eltern von Lesben und Schwulen sein

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Großeltern in Regenbogenfamilien sind Eltern von Lesben und Schwulen. Als solche haben sie bereits das Coming-out ihrer Tochter oder ihres Sohnes erlebt. Für die Eltern ist damit ein eigenes Coming-out verbunden. Ebenso wie Lesben und Schwule bei ihrem Coming-out müssen auch Eltern sich mit ihrer „heterosexuellen Vorannahme“ über ihr Kind auseinandersetzen. Das heißt, dass sie zunächst „wie selbstverständlich davon ausgegangen sind, ihr Kind sei heterosexuell“ (Rauchfleisch 2012: 86).

Selbst wenn es in der Verwandtschaft oder im Freundeskreis Lesben und Schwule gibt, denken jedoch wenige daran, dass auch das eigene Kind homosexuell sein könnte. Das Coming-out als Eltern verläuft ebenso in Phasen wie ein Coming-out als Lesbe oder Schwuler (und kann ebenso in jeder Phase pausieren oder stagnieren).

Nach dem Coming-out der Kinder haben auch die Eltern ein Coming-out 

Stark vereinfacht kann von zwei Phasen gesprochen werden, die auf die oftmals als krisenhafte und Schock erlebte Nachricht von der Homosexualität der Kinder folgen: dem inneren und dem äußeren Coming-out.

Im Mittelpunkt der ersten Phase stehen das Gewahrwerden und die Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass die Tochter lesbisch oder der Sohn schwul ist. „Je nach Persönlichkeit und den Lebensumständen gehen Eltern mit dieser Situation ganz unterschiedlich um.“ (Rauchfleisch 2012: 86).

Die Auseinandersetzung mit Homosexualität bleibt dabei nicht auf einer abstrakten, theoretischen Ebene. Vielmehr ist dies ein emotionaler Prozess, der schwierig oder leidvoll sein kann. Der Prozess umfasst unterschiedliche Dimensionen, z.B. Fragen der Religion, der psychischen und physischen Gesundheit wie HIV und Aids, der Familienplanung, der sozialen Absicherung und beruflichen Folgen eines Coming-outs.

Wichtig ist, sich die Zeit zuzugestehen, die eigenen Gefühle zu klären, bis die gleichgeschlechtliche Orientierung des Kindes als Tatsache anerkannt und akzeptiert werden kann. Dabei ist der Moment, in dem sich die lesbische Tochter oder der schwule Sohn den Eltern gegenüber outet, für Kinder und Eltern bzw. Angehörige von Ungleichzeitigkeit bestimmt: Das Kind hat sich meist bereits längere Zeit mit der Frage der sexuellen Identität auseinandergesetzt. Für Eltern oder Angehörige hingegen ist die Mitteilung meist ein Schock oder zumindest eine Überraschung.

Reaktionen der Eltern nach dem Coming-out der Kinder

Die häufigsten ersten Reaktionen auf das Coming-out der Kinder sind folgende:

  • Habe ich etwas falsch gemacht?
  • Was wird jetzt aus meinem Kind? Warum muss er/sie es so schwer haben?
  • Dann werde ich ja nie Großmutter bzw. Großvater!

Diese Reaktionen unterscheiden sich durch ihre Perspektive. Die Frage nach vermeintlichen Erziehungsfehlern geht zum einen davon aus, dass Homosexualität etwas Falsches oder Minderwertiges wäre. Sie drückt also Abwertung aus. Außerdem stellt sie implizit die Frage nach der Entstehung von Homosexualität. Dagegen wird nach der Entstehung von Heterosexualität in Alltagsgesprächen ebenso selten gefragt wie in der Forschung.

Diese ist jedoch nicht eindeutig zu beantworten, bzw. „es gibt so viele Entstehungstheorien der Homosexualität, wie es Forscher gibt, die sich mit dieser Frage beschäftigt haben“ (Kentler 1985: 298). In den vergangenen Jahren wurden immer weniger Forschungen zu Ursachen von Homosexualität durchgeführt. Ein Grund dafür mag sein, dass jede Ursachenforschung früher oder später auch für sogenannte „Heilungsversuche“ benutzt werden kann. Die Ablehnung von Ursachenforschung ist mithin Ausdruck eines selbstbewussten Umgangs mit der nicht-heterosexuellen Identität oder Lebensweise, die sich nicht mehr rechtfertigen, erklären oder gar entschuldigen will. Dennoch ist dies eine der häufigsten Fragen, die auch Eltern sich stellen.

Die zweite Reaktion, warum das Kind es so schwer haben würde, legt den Schwerpunkt auf den Umgang mit Homosexualität im sozialen Umfeld und der Gesellschaft. Hier geht es also um die Sorge für das Kind, das nicht den gesellschaftlichen Normen entspricht. Und um die Befürchtung von daraus resultierender Diskriminierung.

Die dritte Reaktion drückt eigene Erwartungen aus, die enttäuscht zu sein scheinen. Hier geht es vor allem um den Wunsch, selbst Großeltern zu werden und die Familie fortgeführt zu sehen. Dass diese Erwartungen durch Homosexualität vermeintlich enttäuscht werden, ist Ausdruck des Vorurteils, dass Homosexualität und Familie bzw. Homosexualität und Elternschaft unvereinbar wären.

Auch wenn die Ansichten über Homosexuelle in den vergangenen Jahren vielfältiger, freier von Vorurteilen geworden und Bilder von sogenannten Regenbogenfamilien in den Medien präsenter sind, ist doch das letztgenannte Vorurteil eines der beständigsten. Dies ist eine der Herausforderungen für Eltern von Lesben und Schwulen, die es auch im zweiten Coming-out, nämlich als Großeltern in Regenbogenfamilien, zu meistern gilt, wenn der bereits verloren geglaubte Traum doch noch Realität wird.

"Inneres Coming-out" der Eltern

Zur ersten Phase des Coming-outs, dem inneren Coming-out als Eltern, gehört es, sich der eigenen Gefühle bewusst zu werden, sich mit dem Thema Homosexualität auseinanderzusetzen, Informationen zu sammeln und „ein differenzierteres Bild davon zu gewinnen, als Sie es bisher vielleicht gehabt haben“ (Rauchfleisch 2012: 91). Die lesbische Tochter oder der schwule Sohn sind Expert*innen, da sie das Coming-out bereits mehr oder weniger hinter sich haben. Sich zu informieren bedeutet nicht, dass man alles an lesbisch-schwulen Lebensweisen auch gut finden müsste.

Es ist „aber wichtig, (…) sich unvoreingenommen damit auseinander[zu]setzen und [das] Kind zu verstehen versuchen“ (Rauchfleisch 2012: 91). Auch Probleme müssen den Kindern gegenüber nicht verheimlicht werden. Offene und ernsthafte Diskussionen stärken vielmehr die gemeinsame Beziehung, wenn sie von Wertschätzung geprägt sind. Die Eltern erhalten die nötigen Informationen und können sich eine eigene Meinung bilden. Das Kind kann die eigene Sicht schärfen und in seiner Argumentation sicherer werden (Rauchfleisch 2012).

Aber auch Fachliteratur und Bücher, Gespräche mit anderen Lesben, Schwulen und bisexuellen Menschen, sowie Selbsthilfegruppen von Eltern von Lesben und Schwulen sind wichtige Informationsquellen. Der Austausch mit Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, gibt die Möglichkeit, auch über Vorbehalte oder Perspektiven zu sprechen. Die Solidarität in solchen Gruppen stärkt außerdem für die zweite Phase des Coming-outs. Gespräche mit Menschen in ähnlichen Situationen, z.B. in Selbsthilfegruppen, markieren den Übergang von der ersten zur zweiten Phase des Coming-outs, dem äußeren Coming-out.

"Äußeres Coming-out" der Eltern - erzählen wir "es" Freund*innen und Nachbar*innen

Im äußeren Coming-out geht es um die soziale Positionierung als Eltern eines homosexuellen Kindes vor Angehörigen, Freund*innen und Bekannten, also im sozialen Umfeld. Dazu gehört, auf Fragen von Nachbar*innen („Hat Ihre Tochter/ Ihr Sohn immer noch keinen Freund/keine Freundin?“) selbstbewusst zu antworten, beispielsweise mit „Nein, aber eine Freundin/einen Freund.“

Sich outende Eltern befinden sich in einer vergleichbaren Situation wie das Kind in seinem Coming-out. Daher ist es notwendig, das Kind vorher nach seinen Erfahrungen und quasi um „Erlaubnis“ zu fragen. Auch die Erfahrungen anderer Eltern und, sofern vorhanden, zwischen beiden Eltern des geouteten Kindes sind hier hilfreich, um die Konsequenzen eines Outings einzuschätzen. Oft gewinnen Beziehungen nach einem Outing an Tiefe: „[Diese] Mitteilung führt beim Gegenüber häufig dazu, dass dieses über eigene persönliche Themen zu reden beginnt, die bisher in [den] Gesprächen nie berührt worden sind.“ (Rauchfleisch 2012: 100).

Manche Beziehungen können sich aber auch verschlechtern oder ganz abbrechen. Ebenso kann ein Coming-out fatale Folgen haben, wenn z.B. das berufliche Umfeld Homosexualität ablehnt. Diese Konsequenzen gilt es kritisch und realistisch einzuschätzen. Die Akzeptanz der gleichgeschlechtlichen Orientierung ist jedoch nicht unbedingt vom Alter der anderen Person abhängig. So können gerade Großeltern von Lesben und Schwulen toleranter und verständnisvoller und den Eltern Verbündete in deren Coming-out sein: Es ist wichtig, Großeltern nicht zu unterschätzen.

Reagieren Großeltern auf ein Coming-out der Enkel*innen anders?

Wie im folgenden deutlich wird, bringt die Position als Großeltern die Chance zu einer „gelassenen Distanz zur Erziehungspflicht“ mit sich. Das führt dazu, dass Großeltern bei einem Coming-out der Enkel*innen weniger mit eigenen Schuldgefühlen oder Vorwürfen konfrontiert sind als die Eltern. Dennoch ist das Vorurteil weitverbreitet, dass gerade ältere Generationen mit gleichgeschlechtlichen Orientierungen besonders große Probleme hätten. Es kommt jedoch hier auch auf die Position im Verwandtschaftssystem und natürlich die Persönlichkeiten selbst an, wie die Menschen mit einem Coming-out umgehen.

Insbesondere beim Coming-out in der Familie, vor gemeinsamen Bekannten oder wenn Eltern mit einer dritten Person über die Homosexualität des Kindes sprechen möchten, braucht es Absprachen zwischen Eltern und ihren schwulen oder lesbischen Kindern über die nächsten Coming-out-Schritte.

Eltern können wichtige Unterstützer*innen für gesellschaftliche Akzeptanz sein

Der gemeinsame, unterstützende Weg sollte das Ziel für die gesamte Familie sein. So sollten die Eltern erst nach Rücksprache mit dem schwulen Sohn oder der lesbischen Tochter über deren Homosexualität mit befreundeten Nachbar*innen oder Bekannten sprechen. Ist das Coming-out erfolgreich bewältigt, haben heterosexuelle Eltern gesamtgesellschaftlich gesehen jedoch mehr Freiheiten als die lesbische Tochter oder der schwule Sohn selbst und sind potentiell nicht aufgrund der eigenen sexuellen Identität angreifbar. Damit können Eltern aus ihrer Position heraus einen wichtigen Beitrag zu Akzeptanz und Verständnis leisten.

Zudem ist der Stress, etwas zu verheimlichen, eine große Belastung, er kostet Kraft und kann die Beziehung zum Kind belasten: Man muss damit rechnen, dass die entsprechenden Personen (z.B. im Verwandt*innen- oder Bekannt*innenkreis) irgendwann von anderer Seite von der Homosexualität des Kindes erfahren. Die Energie, die das Verheimlichen und gegebenenfalls auch Lügen (z.B. vom Partner des Sohnes als seiner „Freundin“ zu reden oder ihn als Single darzustellen) bindet, kann viel effektiver in eine konstruktive Auseinandersetzung investiert werden.

3. Großeltern in Regenbogenfamilien werden und sein

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Großeltern-Enkel-Beziehungen gehören neben den Eltern-Kind-Beziehungen in heutigen Mehrgenerationenfamilien zu den „tragenden Säulen der Beziehungsstrukturen.“ Dabei wird ihre Bedeutung bis heute „zuweilen erheblich unterschätzt“ (Brake, Büchner 2007: 199), obwohl wesentlich mehr Kinder und Jugendliche heute noch lebende Großeltern haben als noch vor 60 Jahren.

Aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung teilen Großeltern und Enkel heute mehr Lebenszeit. Zusätzlich ist zu bedenken, dass viele Kinder der Nachkriegsgeneration kriegsbedingt keine Großeltern mehr hatten.

Generationenbeziehungen - Die Rolle von Großeltern in Familien

Großeltern zu werden, bringt Veränderungen auf verschiedenen Ebenen mit sich: hinsichtlich der Generationenfolge in der Familie, der eigenen Geschichte als Eltern und damit der Beziehung zu den eigenen Kindern, aber auch auf der Ebene von Alltagsorganisation.

Insbesondere das Aufrücken in der Generationenfolge ist eng verbunden mit Vorstellungen über das Alter, das Älterwerden und die entsprechende Position in Gesellschaft und Familie. Hier wirkt z.B. das Bild von den „weisen Alten“. Alte oder ältere Menschen als Großeltern werden entsprechend auch als „Vermittler von Werten“, als „Bewahrer von Traditionen“ und nicht zuletzt als „Zeugen der (Familien-) Geschichte“ verstanden.

Der Gedanke an Großeltern beinhaltet häufig auch Nachsicht, Geduld, Güte und Verwöhnen der Enkelkinder und fehlende Strenge. Im Gegensatz dazu steht die schon erwähnte Vorstellung von Großeltern als autoritär und weniger tolerant gegenüber nicht-normativen Lebensweisen, das heißt z.B. Homosexualität. Vorstellungen von Großeltern sind vielfältig und nicht eindeutig. Bei aller Vielfalt der Bilder stehen diese Vorstellungen stets im Kontext von Generationenbeziehungen (und Familie).

Wenn sich die Beziehungen zwischen Generationen wandeln, verändern sich entsprechend die Bilder von Großeltern (und umgekehrt). Ebenso variieren sie im Zusammenhang mit neuen Geschlechterrollen sowie mit Vorstellungen vom Lebensalter. Die Vorstellungen von Lebensalter wurde in den vergangenen Jahren stark relativiert und erneuert. So sind „bestimmte Lebensstile, Lebensgefühle, Konsumverhalten oder Geschmacksrichtungen“ (als ein Ausdruck von Lebensalter) „nicht mehr an bestimmte Altersgruppen gebunden“ (Schweppe 2007: 275).

Aber auch das Wissen und die Erfahrung, die bislang mit höherem Lebensalter einhergingen, haben an Bedeutung für die Strukturierung von Generationenbeziehungen verloren. Hier kehren sich „traditionelle Bildungsverhältnisse zwischen Jung und Alt“ zum Teil um.

Welche Konsequenzen dies für die Stellung von alten Menschen in der Familie hat, für Generationen-Beziehungen und für Familienbilder, ist noch rein spekulativ und unerforscht (Schweppe 2007: 274f.). Damit verlieren traditionelle Bilder von Großelternschaft ihre Wirksamkeit als Beispiele oder Orientierung. Angesichts der Veränderungen von Generationen-Beziehungen und von Vorstellungen von Alter bestehen gerade darin jedoch auch die Möglichkeiten zur Ausgestaltung der eigenen Rolle als Großeltern und zum Ausprobieren eigener Modelle. „Die Großelternrolle wird so zu einer „roleless role“, weil es weder institutionalisierte Normen noch einheitliche Erwartungen dafür gibt“ (Brake, Büchner 2007: 200).

Potenziale für Großeltern liegen außerdem im Verhältnis zu den eigenen Kindern und in den Möglichkeiten der Teilhabe und Aktivität. Durch die veränderte Position im Verwandtschafts-System und dem damit einhergehenden Abstand zur eigenen Elternschaft (die eigenen Kinder werden Eltern) wird eine Reflexion der Elternschaft, aber auch der eigenen Eltern möglich.

„Gelassene Distanz“ durch Entbindung von der Erziehungspflicht

Mit der Distanz zur Erziehungspflicht können Erziehungs-Erfahrungen (als Eltern und als Kind) aus einer neuen Perspektive erlebt werden und gegebenenfalls bei den Enkelkindern revidiert werden. Die Entbindung von der Erziehungspflicht geht in eine „gelassene Distanz“ auf, die es wiederum möglich macht, das Werden und Wachsen der Familie und der Enkelkinder einfach zu genießen.

Die Beziehung zu den eigenen Kindern verändert sich ebenfalls. Dank des Perspektiv-Wechsels und der möglichen Reflexion der eigenen Elternschaft kann sie an Tiefe gewinnen. Manche frischgebackenen Eltern beklagen sich über Einmischung ihrer eigenen Eltern in Fragen der Erziehung. Andere junge Eltern haben aus verschiedenen Gründen gar keinen Kontakt mit der Großeltern-Generation.

Dabei stellen Großeltern eine wichtige Ressource in der Alltags-Organisation und für die Betreuung dar, abhängig natürlich von räumlicher Nähe, aber auch entscheidend von der Art der Beziehung zwischen Eltern und Großeltern. So gehört „die engagierte Enkelkindbetreuung (…) [für viele] zu den unhinterfragten Selbstverständlichkeiten im Denken der Großelterngeneration, auch wenn es ‚distanzierte‘ Großeltern-Enkel-Verhältnisse mit nur gelegentlichen Kontakten gibt“ (Brake, Büchner 2007: 200). Großeltern spielen damit eine wichtige Rolle für die Entlastung der jungen Eltern, aber auch für die soziale Entwicklung der Kinder.

Großeltern als wichtige Bezugspersonen für die Enkel*innen und Unterstützung für die Organisation des Alltags

Großeltern gelten neben den Eltern als wichtige Bezugspersonen, die sich den Enkelkindern „in einer ganz persönlichen Weise zu[wenden]“ (Lüscher 2008: 50) und an denen die Enkelkinder soziale Fähigkeiten ausprobieren können.

Im Falle von homosexuellen Kindern heterosexueller Eltern können diese Potenziale jedoch auch komplett wegfallen: Wenn die Eltern auf das Coming-out der Kinder mit Beziehungs-Abbruch antworten, verlieren nicht nur die Kinder ihre Eltern als Unterstützungs-Personen für Alltag und Kinderbetreuung, sondern auch die Enkelkinder diese erwachsenen Bezugspersonen.

Grundsätzlich verändert sich die Beziehung zwischen Großeltern und Enkelkind(ern) auch mit dem Alter der Enkel*innen: Im Kleinkindalter stehen eher Betreuungs-Aufgaben im Vordergrund; mit zunehmendem Alter kommen mehr eigene Kontakte und gemeinsame Aktivitäten unabhängig von den Eltern dazu. Ebenso leisten Großeltern den jugendlichen oder jungen erwachsenen Enkel*innen emotionale und/oder finanzielle Unterstützung. Mit zunehmendem Alter der Großeltern kann die Unterstützung aber auch gegenseitig oder umgekehrt werden, wenn beispielsweise Großeltern pflegebedürftig werden.

Für die meisten Menschen stellt es eine freudige Nachricht dar, wenn sie Großeltern werden. Selten werden die damit verbundenen Veränderungen und Herausforderungen bewusst und im Voraus reflektiert, sondern im Verlauf der Zeit im Alltag wahrgenommen und gemeistert.

Im Falle von Großeltern in Regenbogenfamilien ist die Ausgangs-Situation eine andere. Das hat vor allem drei Gründe, die im Folgenden genauer dargestellt werden: Der Weg in die Großelternschaft ist in Regenbogenfamilien selten ein geradliniger und einfacher, die Frage der Verwandtschaft von biologischen und sozialen Großeltern spielt eine Rolle, und es gibt kaum Rollenmodelle für Großeltern von Kindern aus gleichgeschlechtlichen Partnerschaften.

4. Der Weg zur Großelternschaft in Regenbogenfamilien

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Für Eltern von Lesben und Schwulen gibt es verschiedene Wege, Großeltern zu werden. Ein auch heute noch weit verbreiteter Weg, wie Lesben oder Schwule Eltern geworden sind, ist über eine heterosexuelle Beziehung vor dem Coming-out.

Weitere Möglichkeiten zur Familien-Gründung sind die Pflege und Adoption. Für lesbische Paare besteht eine Möglichkeit zur Elternschaft in der Insemination (künstliche Befruchtung) mit einer Samenspende. Diese kann anonym (per Samenbank) oder von einem befreundeten bzw. bekannten Mann erfolgen.

Hierzu gehört auch das Modell einer Queerfamily, das heißt wenn ein befreundetes Lesben- und Schwulenpaar gemeinsam Kinder zeugen und dann auch die Elternpflichten teilen. In jedem Fall bedeutet dies, dass nur eine der beiden Frauen in einem Lesbenpaar bzw. einer der beiden Männer eines Schwulenpaars ein biologisches Elternteil ist. Die Partnerin oder der Partner sind dann soziale Eltern, können aber keine biologische Verwandtschaft für sich reklamieren. Damit gibt es auch, selbst wenn alle Großeltern (in Regenbogenfamilien zwei, in Queerfamilies vier Großelternpaare) leben, jeweils ein biologisches und ein soziales Großelternpaar.

Vorurteile und Fragen zu Reproduktionsmedizin und Familiengründung

Aktuell nutzen immer mehr lesbische Paare die Möglichkeit, ihren Kinderwunsch durch Insemination zu verwirklichen. Insemination als Weg zur Großelternschaft stellt für viele Eltern von Lesben eine Herausforderung dar: Erste Reaktionen auf diese Idee sind Ekel oder Aversion, gefolgt von Unverständnis über das „Wie?“.

Darauf schließen sich oft auch Gegenargumente an, die die gesamte Palette von Vorurteilen gegenüber Homosexualität widerspiegeln. Die emotionalen Reaktionen auf die Möglichkeit einer Insemination beziehen sich auf das tradierte Bild einer Zeugung. Ohne genaueres über den Ablauf einer Insemination zu wissen, werden Bilder von Zeugung in einer sterilen Umgebung und durch ganz in Weiß gekleidete Außenstehende wach. Schlagworte wie „Kinder aus dem Reagenzglas“, „Babymacher“ und „Fortpflanzungs-Industrie“ versuchen einen wertenden Gegensatz herzustellen zwischen künstlicher Befruchtung einerseits und andererseits einer moralisierenden und zugleich biologistischen Vorstellung über die Entstehung eines Kindes, nämlich in einem „Akt der Hingabe und Liebe“, bei dem das entstehende Kind dann das Geschenk sei.

Ausgeblendet wird dabei nicht nur, dass auch viele heterosexuelle Paare aus verschiedenen Gründen Reproduktions-Medizin in Anspruch nehmen. Ignoriert wird auch, dass lesbische und schwule Paare gleichermaßen mit der Realisierung eines Kinderwunsches einen Weg betreten haben, der die gründliche Auseinandersetzung mit der Verantwortung für ein Kind in einer ungewöhnlichen Familien-Konstellation und mit Elternschaft voraussetzt. Dies betrifft nicht nur die Möglichkeit der Insemination (für lesbische Paare), sondern auch der Adoption und Pflegschaft (für schwule Paare).

Alle, die einen solchen Weg bewusst auf sich nehmen, werden nicht zufällig Eltern und lassen es sicher nicht an Hingabe und Liebe mangeln – weder den gewünschten Kindern noch der Partnerin oder dem Partner gegenüber. Sind diese ersten emotionalen Reaktionen überwunden oder gar verarbeitet, folgt oftmals Unverständnis. Neugier kann ein hilfreicher Ausdruck des Unverständnisses sein. Fragen wie „Wie funktioniert denn das?“, „Wo bekommt ihr den Mann (oder das Sperma) dazu her?“, mögen zunächst unbeholfen klingen. Je nach Tonfall können auch solche Fragen natürlich Ablehnung und Abwertung ausdrücken. Sind sie aber Ausdruck ernsthafter Neugier, zeigen sie, dass die zukünftigen Großeltern beginnen, sich mit dem Gedanken zumindest auseinanderzusetzen.

Ähnlich wie im ersten Coming-out haben die (werdenden) Großeltern hier die Möglichkeit, vom Wissen der werdenden Eltern, nämlich ihrer Kinder, zu profitieren, sich zu informieren und unbewusste eigene Haltungen zu überdenken. Eine offene, interessierte Neugier und nicht-wertende Fragen nehmen die (erwachsenen) Kinder als gleichberechtigte Personen mit eigenen Erfahrungen und Wissen ernst und helfen so, die Beziehung zwischen den homosexuellen Kindern und ihren Eltern zu vertiefen.

Gegenargumente statt Interesse: angebliche Unvereinbarkeit von Homosexualität und Elternschaft

Nicht selten aber stehen vor der Neugier oder gar anstelle der Neugier und des Fragens Gegenargumente. Das häufigste Argument gegen Insemination besagt, dass ein heterosexueller Zeugungsakt der einzig wahre Weg zur Entstehung eines Kindes sei, weil Mann und Frau beteiligt sind und dieser Weg damit der einzig natürliche sei. Daraus resultiert die moralische und ethische Abwertung und Ablehnung von Insemination, insbesondere wenn es dabei um lesbische Frauen geht.

Bei heterosexuellen Paaren jedoch gilt Insemination für viele als legitime Methode der reproduktiven Medizin, z.B. bei Unfruchtbarkeit. Interessant ist, dass gesamtgesellschaftlich gesehen in und in Bezug auf heterosexuelle Beziehungen meist überhaupt erst dann über Sex gesprochen wird, wenn es mit der Reproduktion, also mit der Zeugung eines Kindes „nicht klappt“. Auf der anderen Seite wird ein homosexuelles Coming-out jedoch meist sofort (zumindest im Kopf des Gegenübers) begleitet von Fragen wie „Wer hat denn bei euch welche Rolle im Bett?“.

Hier steht also die Frage nach Sex im Vordergrund. Unabhängig davon, wie die heteronormative Fantasie die Rollen in einer gleichgeschlechtlichen sexuellen Beziehung verteilt, bleibt die Frage nach der Zeugung eines Kindes offen und wird erst im Falle eines Kinderwunschs gestellt. Dann aber wird diese Frage als Argument gegen homosexuelle Elternschaft verwendet: Wo das Nachdenken über Sex in heterosexuellen Beziehungen erst beginnt (nämlich beim Kinderwunsch), bleibt es beim Nachdenken über Sex in homosexuellen Beziehungen, ohne dass der Kinderwunsch oder Möglichkeiten der Reproduktion überhaupt in Betracht gezogen werden.

Ein weiteres Vorurteil, das gegen lesbische Mutterschaft angeführt wird, ist die Vorstellung von Lesben als männerfeindlich. Dieses wird oft gefolgt von einem abwertenden und gleichermaßen gekränkten Kommentar wie „Aber um ein Kind zu kriegen, ist der Mann dann auf einmal gut genug…“.

Normative Vorstellungen von Geschlechter-Rollen, von Sexualität, von Reproduktion sowie vom Kindeswohl

Hieran zeigt sich die Komplexität der Vorstellungen, die sich um die Möglichkeit homosexueller Elternschaft ranken: Geschlechter-Vorstellungen, Vorstellungen von Sex und von Reproduktion sind eng verwoben und dienen gemeinsam der Ablehnung von homosexueller Elternschaft.

Auch die werdenden Großeltern müssen sich mit solchen oder ähnlichen Bildern im Kopf auseinandersetzen, die nun durch die Familiengründung ihrer Kinder aktiviert werden. Die Bearbeitung dieser Vorstellungen ist nicht nur nötig, um selbst ihre Rolle als Großeltern auszufüllen, sondern auch, um auf eventuelle Anwürfe von außen adäquat und selbstbewusst reagieren zu können. Die Zeit der Familienplanung ist genau die richtige Zeit für diese Auseinandersetzung.

Weitere Argumente berufen sich auf das Kindeswohl, das angeblich infrage stünde. Bei genauerer Betrachtung erweisen sie sich jedoch als Ausdruck von Vorurteilen gegenüber homosexueller Elternschaft per se: Diese Vorurteile sprechen Homosexuellen die Qualifikation als Eltern ab; es wird befürchtet, Kinder aus gleichgeschlechtlichen Familien könnten selbst homosexuell werden; Homosexuellen mit Kinderwunsch wird Egoismus unterstellt, weil sie bewusst ihre Kinder möglicher Diskriminierung aussetzen usw.

Die Sorge, Kinder aus Regenbogenfamilien könnten selbst homosexuell werden, ist zum einen wissenschaftlich nicht belegbar und zum anderen Ausdruck der Abwertung von Homosexualität als etwas zu Vermeidendem. Es geht also schon bei diesem Beispiel nicht um das Kindeswohl, sondern um die Ablehnung von Homosexualität, wobei Kinder dafür instrumentalisiert werden.

Darüber hinaus belegt die erste repräsentative Studie zu Regenbogenfamilien und Kindern in Regenbogenfamilien in Deutschland im Auftrag des Bundesjustizministeriums, dass Kinder aus Regenbogenfamilien sich nicht nur ebenso gut entwickeln, wie Kinder aus heterosexuellen Familien. Vielmehr wird deutlich, dass sie, insbesondere mithilfe ihrer Eltern, selbstbewusste Strategien des Umgangs mit möglicher Diskriminierung entwickeln und einzusetzen wissen, gerade wenn ablehnende Reaktionen des Umfelds befürchtet werden (vgl. Rupp 2009). Es sind also persönliche und soziale Kompetenzen der Eltern als Bezugspersonen, die das psychisch und sozial gesunde Aufwachsen eines Kindes sichern. Dies zu akzeptieren und als selbstsichere Position als Eltern von Lesben und Schwulen mit Kindern zu vertreten, ist eine der Herausforderungen im Coming-out als Großeltern.

Auch Adoption und Pflegschaft sind Wege für gleichgeschlechtliche Paare, insbesondere für schwule Paare, Eltern zu werden und damit die eigenen Eltern zu Großeltern zu machen. Ebenso wie bei künstlicher Befruchtung müssen sich die (werdenden) Großeltern auch hier mit ihren Sorgen und Befürchtungen auseinandersetzen, die sich auf die scheinbare Unvereinbarkeit von Homosexualität und Elternschaft beziehen. Insbesondere im Falle von Adoption und Pflegschaft aber spielen auch Vorstellungen von Verwandtschaft eine Rolle. Adoptiv- und Pflegegroßeltern können ebenso wie soziale Großeltern in Regenbogenfamilien keine auf Blutsverwandschaft begründete Beziehung zu den Enkelkindern herstellen.

Bearbeitung der eigenen Vorurteile für selbstbewusstes Auftreten nach außen

Jeder der genannten Wege zur Elternschaft und damit zur Großelternschaft birgt also die Auseinandersetzung mit bestimmten Stereotypen und Vorurteilen. Es handelt sich hierbei um Vorbehalte, die vielleicht im ersten Coming-out als Eltern einer lesbischen Tochter oder eines schwulen Sohnes außer Acht gelassen wurden: Wenn nicht schon im ersten Coming-out die vermeintliche Enttäuschung, nie Großeltern zu werden, bearbeitet wurde, hat in der Regel auch keine Auseinandersetzung mit dem Stereotyp „Homosexuelle sind keine Eltern“ oder „können keine Eltern sein“ stattgefunden. Das muss nun nachgeholt werden.

Unter diesen Umständen stellen die (werdenden) Großeltern vielleicht auch fest, dass sie sich bei Weitem noch nicht mit allen möglichen Vorurteilen gegenüber Homosexuellen beschäftigt haben oder sie werden vom Umfeld mit neuen konfrontiert. Wie eine Mutter berichtete, wird bei der Frage nach Elternschaft die Abwertung von Homosexualität besonders deutlich. Diese Abwertung verletzt, selbst wenn Eltern von Lesben und Schwulen ihr eigenes (erstes) Coming-out erfolgreich gemeistert haben. Sie stört die ungebrochene Freude an der Großelternschaft. Sie zeigt, wie weitreichend die Vorurteile sind und wie sehr diese Vorurteile auch Angehörige, in diesem Falle die Großeltern, treffen.

Eine große Herausforderung in dieser Phase des zweiten Coming-outs als Eltern von homosexuellen Eltern besteht also in der Vorbereitung auf die Reaktionen des Umfelds. Die Bearbeitung der eigenen Vorbehalte ist eine wichtige Grundlage für diese Vorbereitung. Denn hier können die Großeltern Informationen sammeln, die schon beim Weg zum Kind in Regenbogenfamilien beginnen, sie können ihre Argumentationen stützen und sich bewusst in die kommende Rolle als Großeltern begeben.

5. Wer ist verwandt? (biologische und soziale Großeltern)

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Das Verständnis von „Verwandtschaft“ variiert nicht nur zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen, sondern auch von Familie zu Familie. Ebenso komplex wie Familienbilder sind, so vielfältig sind auch die Vorstellungen von „Verwandtschaft“. Verschiedene Studien belegen, dass die Definition von Verwandtschaft (und die Bedeutung der Verwandten) sich nach Gesellschaftsstruktur und kulturellen Umgangsweisen, Familienform und individueller Bedürfnisstruktur unterscheidet (Ecarius 2007: 226–230).

Gesellschaftliche Bedeutung von (biologischer oder genetischer) Verwandtschaft: „natürliche“ Verwandtschaft wird sozial und rechtlich reguliert

Dass also jede Gesellschaft für sich definiert, was unter Verwandtschaft zu verstehen ist, welche verwandtschaftlichen Beziehungen mit kulturellen (und sozialen) Normen belegt werden und welche rechtlichen Konsequenzen daraus resultieren (vgl. Ecarius 2007). Auch innerhalb der Gesellschaft gibt es verschiedene Vorstellungen von Verwandtschaft. Es gibt jedoch kaum (kulturvergleichende) Studien über Netzwerk-Beziehungen von Familie und Verwandtschaft, z. B. im Kontext von Migration in Deutschland.

Die gesellschaftliche Bedeutung von (biologischer oder genetischer) Verwandtschaft jedoch drückt sich schon in der Redewendung „Blut ist dicker als Wasser“ aus. Diese Wendung besagt, dass Blutsverwandte sich näher stünden und verlässlicher wären als angeheiratete oder anderweitig angenommene Verwandte. Soziobiologische Studien legen im Gegensatz zu sozial- und kulturwissenschaftlichen nahe, dass soziales Verhalten biologisch bzw. genetisch bestimmt ist. Je nach Disziplin wird also entweder der Natur oder der Kultur der entscheidende Einfluss zugesprochen.

Da wir hier weder ausführlich sozio-biologische, noch kulturübergreifend soziologische oder ethnologische Verwandtschafts-Konstruktionen darstellen können, konzentrieren wir uns für unser Thema „Homosexualität und Familie“ auf zwei Aspekte: Wir gehen von der Beobachtung aus, dass in bestimmten Konstellationen nun die biologische (genetische) Grundlage von Verwandtschaft an Bedeutung gewinnt und zu einer Ressource erklärt wird bzw. ihr Fehlen zu einer Konfliktquelle zu werden scheint. Und zum zweiten betrachten wir die Frage, wofür das Verhältnis von biologischer (also genetischer oder Blutsverwandtschaft) und sozialer Verwandtschaft in Regenbogen-, Adoptions- und Pflegefamilien stellvertretend steht und wie die beteiligten Familienangehörigen unterstützt werden können.

Verwandtschaftsverhältnisse in Regenbogen-, Adoptions- und Pflegefamilien hinterfragen Dominanz biologischer Verwandtschaft

Nicht zu vergessen ist, dass „natürliche“ Verwandtschaft sozial und rechtlich reguliert ist. Dies wird z.B. deutlich an Diskussionen um den Status als eheliches oder nichteheliches Kind, um das Sorgerecht und um Regenbogenfamilien bzw. homosexuelle Elternschaft allgemein. Rechtlich gesehen sind diejenigen Personen miteinander verwandt, die durch Geburt bedingt direkt verwandt (also auch nichteheliche Abkömmlinge), durch Heirat verschwägert, also indirekt verwandt, und durch Adoption vermittelt sind. „Rechtliche Regelungen geben einen groben Rahmen und zeigen die gegenseitigen Verpflichtungen auf. Dennoch aber besagen sie wenig über tatsächlich gelebte Umgangsformen zwischen Verwandten.“ (Ecarius 2007: 226).

Das wird besonders deutlich, wenn es um das Thema Homosexualität und Familie geht. Hier gibt es deutliche Unterschiede, wenn nicht sogar Widersprüche zwischen gelebten Realitäten und rechtlichen Regelungen. In diesem Feld von Unklarheiten und Unstimmigkeiten müssen sich Großeltern in Regenbogenfamilien nun auch noch mit der Frage auseinandersetzen, welche Bedeutung verschiedene Grade von Verwandtschaft für die jeweilige Beziehung zum Enkelkind haben? Gemeinsam ist den in unseren Fällen wirkenden Definitionen von Verwandtschaft, dass die Familie eine kleine, wenn nicht die kleinste verwandtschaftliche Einheit bildet.

Wer aber gehört zur Familie? Die Antworten sind vielfältig wie die Familienbilder. Und sie sind im Wandel begriffen. In allen Formen von Regenbogenfamilien, sei es per Insemination, als Adoptiv- oder Pflegefamilien gegründet, gilt: Es gibt wenigstens eine Partnerin oder einen Partner, die oder der mit dem Kind nicht blutsverwandt ist. In Adoptiv- und Pflegefamilien sind in der Regel beide Eltern genetisch nicht mit dem Kind verwandt. Verwandtschaft kann dann „nur“ als soziale Verwandtschaft begriffen werden.

Gesellschaftlich dominant ist aber, wie bereits angedeutet, die biologische Bestimmung von Verwandtschaft – was im Übrigen konsequenterweise auch Affinal-Verwandtschaft, das heißt angeheiratete Verwandtschaft, ausschließen müsste. Dass die biologische Definition von Verwandtschaft in der modernen Gesellschaft eine solche Bedeutung erlangt hat, ist laut Schmidt (2008: 5) nicht überraschend, „da in der modernen Gesellschaft der Wissenschaft das Monopol in der Erzeugung wahren Wissens zugeschrieben wird“.

Zur Dominanz von biologischer Beschreibung von Verwandtschaft trägt auch bei, dass Verwandtschaft gesellschaftlich weitgehend entlastet ist, das heißt Verwandtschaft nicht mehr der gesellschaftlichen Positionsverortung und der Strukturierung der „primär interaktionsbasierten“ Gesellschaft dient (Schmidt 2008: 5). Wenn also Verwandtschaft von ihren gesellschafts-strukturellen Funktionen entbunden ist, sind andere interaktions-gebundene Erklärungsmuster vonnöten bzw. erhalten größere Bedeutung.

Konfliktquelle: Hierarchie zwischen sozialen und biologischen Großeltern

Mit den Verwandtschaftsverhältnissen in Regenbogen-, Adoptions- und Pflegefamilien wird nun diese Dominanz infrage gestellt. Dies ist grundsätzlich zunächst kein unlösbares Problem. Schließlich lassen sich auch bei anderen Vorstellungs- und Normsystemen wie Geschlechter-Rollen und Familienbildern seit Jahren Veränderungen beobachten und sie sind weiterhin im Wandel begriffen.

Problematisch wird dies jedoch, wenn – wie in Regenbogenfamilien – verschiedene Verwandtschaftsverhältnisse in Konflikt miteinander gebracht werden: Auch wenn in heterosexuellen Familien zwischen Großeltern durchaus eine Konkurrenz um die Sympathie und Nähe zum Enkelkind beobachtet werden kann, erhält die gleiche Konkurrenz in Regenbogenfamilien durch die gesellschaftliche Dominanz von biologischer Verwandtschaft eine andere Dimension, sodass sich z.B. nur die Eltern der biologischen Mutter oder des biologischen Vaters in einer Regenbogenfamilie als „richtige“ Großeltern und die Eltern der Co-Mutter oder des Co-Vaters (d.h. des nicht leiblichen Elternteils) sich als „Großeltern zweiter Klasse“ empfinden.

Diese Schwierigkeit ist eng gekoppelt an die Sorge, den Bezug zum Enkelkind zu verlieren, sollten sich die gleichgeschlechtlichen Eltern trennen. US-amerikanische Studien belegen, dass die Beziehung eines Kindes zu den gleichgeschlechtlichen Eltern enger ist, wenn das Co-Elternteil das Kind adoptiert (Gartrell et al. 2011). Die Eltern des Co-Elternteils (Co-Großeltern) in Regenbogenfamilien in Deutschland werden (durch die Stiefkindadoption) zwar quasi zu Stiefgroßeltern (oder Bonusgroßeltern, in Anlehnung an einen Begriff von Juul 2011), jedoch ist durch den Generationenabstand potentiell die Distanz zum Enkelkind größer und damit auch die Unsicherheit in Bezug auf die Dauerhaftigkeit der Beziehung.

Weitere US-amerikanische Studien zeigen, dass der Kontakt zu den biologisch verwandten Großeltern häufiger und enger ist (Gartrell et al. 2006; Fulcher et al. 2002; Patterson, Hurt, Mason 1998). Dies ist besonders tragisch in Anbetracht der Bedeutung, die Großeltern im Allgemeinen als Bezugspersonen für die Enkelkinder haben und angesichts der Tatsache, dass diejenigen Kinder mit regelmäßigem Kontakt zu den Großeltern weniger Auffälligkeiten im Verhalten zeigen (Patterson, Hurt, Mason 1998).

Bonusgroßeltern: Beziehung ohne vermeintliche Stabilität biologischer Verwandtschaft

Bonusgroßeltern sind also herausgefordert, eine Beziehung zum Kind aufzubauen, die sich nicht auf die vermeintliche Stabilität biologischer Verwandtschaftsbande berufen kann, sondern ihre Qualität und Sicherheit aus den beteiligten Personen und sich selbst bezieht. Obwohl Juuls (2011) Empfehlungen sich auf die Elterngeneration in Patchwork-Familien beziehen, sind sie doch übertragbar auf die Situation von Großeltern in Regenbogenfamilien, wenn auch abgesehen von der Ausgangslage einer Trennung oder Scheidung und neuen Partnerschaft.

Auch für Bonusgroßeltern gilt:

  • Es ist die individuelle Präsenz in der Familie, die den größten Einfluss ausübt, Vergleiche, z.B. zwischen den anderen Großeltern und sich selbst sollten daher dringend vermieden werden (Juul 2011: 42).
  • Es empfiehlt sich, möglichst noch vor der Geburt des Enkelkinds sich mit seinen Eltern und gegebenenfalls mit den anderen Großeltern über Erwartungen und Rollen-Vorstellungen auszutauschen (Juul 2011: 43). Das beugt möglichen Enttäuschungen vor, wenn ein Großelternteil mehr in die Beziehung zu investieren meint als der andere.
  • Bonusgroßeltern können für die Kinder als erwachsene Vertrauens-Personen ein großer Gewinn sein. Dazu können und sollten sie, die Erlaubnis des Kindes vorausgesetzt und unter Wahrung der eigenen Grenzen, „sich selbst, ihre Gedanken, Erfahrungen, Erlebnisse, Gefühle, ihre Träume und ihre Ratlosigkeit zur Verfügung stellen“ (Juul 2011: 44).

Für alle diese Empfehlungen ist Kommunikation eine wichtige Grundlage. Kommunikation mit dem Partner oder der Partnerin, mit den eigenen Kindern, mit anderen Familienmitgliedern, aber auch mit anderen Menschen in einer ähnlichen Situation. Solche Gespräche werden deutlich machen, dass auch biologisch verwandte Großeltern nicht sofort eine beglückende Beziehung zum Enkelkind aufbauen. Auch sie müssen in die Rollen hineinwachsen.

Zwar vermittelt die biologische Verwandtschaft ein Gefühl von Kontinuität als Grundlage der Beziehung. Diese Grundlage ist aber relativ, sie ist bei Weitem nicht sicher und erst recht keine Garantie für die Großelternrolle. Denn die Rolle selbst muss persönlich, individuell und unter Einbeziehung der familiären Gegebenheiten ausgefüllt werden. Deshalb kann hier die Vorstellung von der Großelternrolle als einer Rolle ohne Skript („roleless role“, vgl. Brake, Büchner 2007: 200) Erleichterung verschaffen: sie gewährleistet den Gestaltungsspielraum, den biologische Erklärungen von Verwandtschaftsbeziehungen einengen.

Neben diesen Gemeinsamkeiten zu Patchwork-Familien aber gibt es auch eigene Herausforderungen, die wiederum mit dem Thema Homosexualität und Familie zusammenhängen. Großeltern in Regenbogenfamilien, egal ob diese durch Insemination, Spätes Coming-out, Adoption oder Pflegschaft entstand, sind erneut, wie im ersten Coming-out als Eltern, mit der Vorstellung von Homosexualität als vermeintlich unnatürlich konfrontiert.

Hier jedoch wirkt dieses Vorurteil zusammen mit der Präferenz biologischer Verwandtschaft dahingehend, dass soziale Großelternschaft (ähnlich wie soziale Elternschaft) in Regenbogenfamilien als nicht „gleichwertig“ behandelt wird. Auch hier kann der Austausch mit den eigenen Kindern helfen, denn diese sind als Co-Eltern gefordert, die soziale Elternrolle auszufüllen, und sich mit allen Herausforderungen als Bonuseltern auseinanderzusetzen.

6. Großeltern in Regenbogenfamilien – eine Rolle ohne Skript

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Die öffentliche Sichtbarkeit von Regenbogenfamilien hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Weit weniger sichtbar jedoch sind die dazugehörenden Großeltern. Ein Beleg dafür ist, dass in kaum einem Ratgeber für Großeltern, aber auch in keiner uns bekannten familiensoziologischen Arbeit Großeltern in Regenbogenfamilien überhaupt genannt werden

Neue Auseinandersetzung mit eigenen Vorurteilen zu Homosexualität

Gründe hierfür sind unter anderem in allen zuvor behandelten Vorurteilen gegenüber Homosexuellen zu finden. Vor allem das Stereotyp, dass Homosexualität und Familie sich gegenseitig ausschließen würden, trifft die Eltern von Homosexuellen auch dann, wenn die lesbischen oder schwulen Kinder Eltern werden oder bereits sind.

Manche Mutter oder mancher Vater eines homosexuellen Kindes meint vielleicht, dass die Vorurteile bereits mit dem ersten eigenen Coming-out ausreichend bearbeitet seien. Doch dann wird deutlich, dass dem vielleicht nicht so ist. Die Auseinandersetzung wird vielmehr neu belebt, wenn die lesbische Tochter oder der schwule Sohn ein Kind bekommt und die eigenen Eltern zu Großeltern macht. Denn „Enkelkinder hat man nicht ohne die dazugehörigen Eltern“ (Gürtler 2006: 10).

So spielt die sexuelle Identität der Eltern stets auch eine Rolle im Umgang mit den Großeltern. Die Vorurteile in Bezug auf Homosexualität begegnen den Großeltern in Form von Fragen oder von Kommentaren, als Blicke oder als irritiertes oder betretenes Schweigen anstelle von Glückwünschen oder Nachfragen zum Enkelkind. Die damit verbundenen tagtäglichen Zweifel, wer und was Familie ist, können die Freude über das Enkelkind schmälern – als hätte es noch nicht gereicht, sich im ersten Coming-out mit den eigenen Vorurteilen und Vorbehalten zu beschäftigen.

Der Unterschied ist nun jedoch, dass die (werdenden) Großeltern nicht mehr ganz unvorbereitet sind. Idealerweise haben sie ihre eigenen Vorbehalte reflektiert und gelernt, sich mit denen anderer auseinanderzusetzen. Wünschenswerterweise akzeptieren sie die Homosexualität ihres Kindes und nehmen die Partnerin der Tochter oder den Partner des Sohnes als Schwiegerkind an. Manche Vorbehalte jedoch wurden unter Umständen auch im ersten Coming-out nicht angerührt. Vielleicht wurde ganz kurz darüber gesprochen, die Hoffnung auf eigene Enkelkinder dann doch auf Eis gelegt, weil es so umständlich, kompliziert und aufwändig ist für Lesben und Schwule, Kinder zu bekommen.

Diese nicht ausgesprochenen Sorgen und Unsicherheiten, Vorbehalte und Vorurteile tauchen mit Sicherheit auf, wenn ein Kind ins Haus kommt. Selbst wenn es sich nicht um Fragen oder Kommentare wie die oben genannten handelt, tauchen doch Sorgen auf. Diese Sorgen beziehen sich zwar in allererster Linie auf das Wohl des Enkelkinds und den Umgang mit der sexuellen Identität in der Familie. Sie stellen aber auch die Fragen nach der Positionierung der Großeltern. Ihnen kommt hier eine wichtige Rolle zu – als in der Regel heterosexuelle Mitglieder in einer Regenbogenfamilie sind sie gefordert zum Wohle der eigenen Kinder, der Enkelkinder, aber auch zum eigenen Wohl aktiv gegen Vorurteile zu werden.

Aktiv zum Wohle der eigenen Kinder und Enkelkinder

War es im ersten Coming-out vielleicht häufig noch eine defensive Position, können sie nun viel zur Normalisierung von Regenbogenfamilien und damit zum täglichen Abbau von Vorurteilen beitragen: Das heißt nicht nur, in Krisensituation Partei zu ergreifen, auszugleichen oder zu unterstützen, wenn das Kind wegen der eigenen Familien-Konstellation tatsächlich gehänselt wird. Dazu gehört auch, beim Großelterntag in der Kinderbetreuungsstätte in Gesprächen mit den anderen Kindern und dem Kita-Personal die Vielfalt und Veränderung von Familienformen bewusst einzubringen. Das heißt, beim Spaziergang mit dem Enkelkind durchs Stadtviertel oder das Dorf auf die Fragen von Bekannten und Nachbarn die Normalität des Lebens in einer Regenbogenfamilie und die eigene Zugehörigkeit zu ihr zu zeigen.

Eine solche Strategie hat gleich mehrere Effekte: Großeltern brauchen sich nicht (mehr) zu verstecken – das gibt ein Gefühl der Sicherheit und Authentizität. Eine solche selbstbewusste Positionierung als Eltern eines Schwulen oder einer Lesbe (und deren Partner/in!) ist auch von außen weniger angreifbar, als wenn die Nachbar*innen oder Bekannten Unsicherheit spüren – eine Erfahrung, die im ersten Coming-out sicher schon gemacht wurde. Ein selbstverständlicher und offener Umgang mit der Regenbogenfamilie regt manchmal vorurteilsbeladene Köpfe mehr zum Nachdenken an als abstrakte Argumente. Und nicht zuletzt wird das Kind so von Anfang an darin bestätigt, dass seine Familie gut ist, wie sie ist.

Eigene Grenzen wahren und kommunizieren

Ebenso wie Großeltern in heterosexuellen Familien nicht immer und für alles zur Verfügung stehen, weil sie ein eigenes Leben haben, ist es auch für Großeltern in Regenbogenfamilien legitim und wichtig, die eigenen Grenzen zu wahren. Großeltern haben ihre Elternpflichten erfüllt, so gut sie konnten. Sie sind nicht mehr für das Wohl und Wehe ihrer Kinder verantwortlich. Zwar sind Großeltern in Regenbogenfamilien wichtige Verbündete für Akzeptanz und Gleichstellung homosexueller Eltern. Als Eltern von Lesben und Schwulen betreffen die Vorurteile gegen Homosexuelle auch sie selbst, und sie haben idealerweise mit dem eigenen Coming-out ein originäres Interesse an der Akzeptanz verschiedener Lebensweisen gestärkt oder entwickelt.

Insofern ist es logisch, auch in der Großelternrolle den Kampf um Anerkennung fortführen zu wollen. Dennoch ist es nicht nur für das eigene Wohl, sondern auch für die Beziehungen zu den Kindern und Schwiegerkindern und für das Wohl des Enkelkindes entscheidend, Grenzen des (familiären und gesellschaftlichen) Engagements zu erkennen und zu wahren.

Wer genervt und erschöpft ist von den Auseinandersetzungen mit Vorurteilen gegenüber Homosexuellen, kann weder die Rolle als Großeltern genießen und hat vielleicht das Gefühl, nur noch über die sexuelle Identität der eigenen Kinder definiert zu werden. Noch können Großeltern in einer solchen Situation sicher, selbstbewusst und selbstverständlich zur Akzeptanz von Regenbogenfamilien beitragen.

Wenn auf der anderen Seite Großeltern die Enkel*innen bei jedem Besuch nach Diskriminierungs-Erfahrungen befragen (weil sie vielleicht meinen, die Kinder würden dies den Eltern nicht erzählen), fördert dies bei den Kindern ein Gefühl von Unsicherheit, von riskantem Anderssein und von der Gefahr ausgeschlossen zu werden.

Hier helfen wiederum offene Kommunikation mit den Eltern des Enkelkindes, ebenso wie das Bewusstsein für eigene Bedürfnisse und die Achtsamkeit und Respekt vor der Autonomie der anderen Familienmitglieder – der eigenen erwachsenen Kinder und der Enkelkinder natürlich.

Herausforderungen für Großeltern in Regenbogenfamilien zusammengefasst

Über die Lebenssituation, die Herausforderungen und Chancen von Großeltern in Regenbogenfamilien wird mit der Zeit hoffentlich noch mehr bekannt werden. Forschungen sind nötig, Erfahrungs-Berichte werden gesammelt und Einrichtungen der Familienbildung und -beratung werden sich öffnen. Wir konnten hier nur einen kleinen Ausschnitt skizzieren, der auf unseren Erfahrungen in Fortbildungen mit Fachleuten und auf Gesprächen mit Betroffenen beruht.

Nach heutigem Stand lassen sich die Herausforderungen für Großeltern in Regenbogenfamilien folgendermaßen zusammenfassen: Es gilt, in jeder Phase des Großeltern-Werdens und -Seins eine Balance zu finden zwischen der Reflexion eigener Vorbehalte und gesellschaftlich vorgegebener Rollen, der Auseinandersetzung mit den Vorurteilen anderer, dem Austausch über Sorgen, Hoffnungen und Wünsche und dem Akzeptieren eigener Bedürfnisse und Befürchtungen. Das Großeltern-Werden in Regenbogenfamilien kommt einem zweiten (oder dritten oder vierten…) Coming-out gleich.

Tatsächlich ist ein Coming-out niemals gänzlich abgeschlossen. Es ist ein anhaltender Prozess, sich mit Neuem zu befassen und sich selbst immer wieder wahr- und ernst zu nehmen. Aber es ist auch eine große Chance, auf individueller, familiärer und auf gesellschaftlicher Ebene. Oder mit den Worten eines Vaters bei einem Bundeselterntreffen des befah e.V. in Berlin:

„Erst habe ich gedacht, jetzt fängt das Ganze mit dem Reflektieren und Comingout wieder von vorne an. Diese ganzen Vorurteile gegen unsere Kinder als Eltern sind so schwer zu ertragen. Wie könnten wir denn dann glückliche Großeltern sein? Aber jetzt habe ich die Hoffnung, dass die ganze Auseinandersetzung sich ja doch lohnt. Und jetzt kann ich es gar nicht mehr abwarten, bis ich endlich Opa werde!“

Ilka Borchardt & Heiko Reinhold

Dieser Text wurde erstmalig 2014 im erschienen LSVD-Handbuch für familienbezogenes
Fachpersonal "Homosexualität in der Familie" veröffentlicht.

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