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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Die Farben des Regenbogens erhalten!

Keynote von LSVD-Bundesvorstand Alfonso Pantisano, gehalten auf der Veranstaltung „Was die Pandemie für queeres Leben bedeutet“ der baden-württembergischen SPD-Landtagsfraktion am 27.07.2021 in Stuttgart

Die Dankbarkeit vor der Leistung, die meine Community jeden Tag leistet, kann die Politik jetzt nur damit zum Ausdruck bringen, wenn es die queeren Safe Spaces vor dem Ruin, vor dem Verschwinden, vor dem Sterben rettet. Daher ist mein Appell: Bitte helfen Sie uns die Farben des Regenbogens zu erhalten.

LSVD-Bundesvorstand Alfonso Pantisano am Pult

Wie lange hatte ich auf diesen Tag gewartet, von dem ich wusste, dass er nie kommen durfte? Doch jetzt war es so weit. Ich stand einfach da. An einer Freitagnacht, 1991. Am Bahnhof Stuttgart Stadtmitte. Es war kalt und nass. Bierflaschen auf dem Boden. Überfüllte Mülleimer mit Pappschachteln verschiedener Schnellrestaurants. Ein Obdachloser unter dem Vordach einer Brezelbäckerei. Das werde ich nie vergessen. Und ich mit einem Zettel in der Hand. Die Fotokopie des Stadtplans, die mir den Weg weisen sollte. Es war mein erstes Mal. Und es fühlte sich nicht gut an. Und ich kam mir wie ein Verbrecher vor, der niemandem in die Augen guckte. Der nicht erkannt werden durfte. Der nicht gesehen werden wollte. Aber ich musste der Tatsache ins Auge schauen. Ich war jetzt Sechszehn und ich merkte, wie ich es langsam nicht mehr aushielt. Gefangen in einer Welt, in der ich nicht ich war. Nicht ich sein durfte. Weil ich nicht wollte, dass… Ja, weil ich nicht wollte, dass sich Mamma vor ein fahrendes Auto wirft.

„Wenn einer meiner Kinder eine Schwuchtel werden sollte, dann schmeiß ich mich vor einem Wagen.“ Mit diesem Hammer hatte meine Mutter, rein vorsorglich, versteht sich, bereits zwei Jahre zuvor meinen Traum von einem anderen Leben zertrümmert. Damals, als sie zum ersten Mal meinen neuen besten Freund Michael traf, spuckte sie mir unaufgefordert diese Drohung vor die Füße. Einfach so. Ob sie damals schon was ahnte? Sie muss was geahnt haben. Vermutlich hat sie es immer gewusst. Und wenn sie es gewusst hat, dann war diese Ankündigung ihres Selbstmordes eben keine Drohung mehr. Sondern eine knallharte Erpressung, die sie immer wieder wie ein Mantra herausposaunte.

Ich weiß noch, als meine Mutter damit drohte, wie ich mich noch mehr versteckt habe. Und danach tagelang heimlich geweint habe, immer und immer wieder, weil mir klar war, dass ich mit meiner Trauer zu niemandem hinkonnte. Und weil ich verstanden hatte, dass ich meine Wut für mich behalten musste. Und weil ich ihr diesen Selbstmord zugetraut habe.

Dass sich meine Mutter wirklich umbringt, wenn ich, ihr Sohn, ihr sagen würde, dass ich eine „Schwuchtel“ bin, das war ihr echt zuzutrauen. Ich war verzweifelt. Weil ich wusste, dass ich ein Sünder war. Weil ich ihren Tod, diese neue Schuld, nicht auch noch auf mich bringen wollte. Und weil ich wusste, dass ich nicht mehr lange stillhalten konnte. Dass ich mich nicht mehr lange verstecken konnte. Weil meine Leidenschaft und auch meine Hormone so langsam außer Kontrolle gerieten. Seitdem ich mich erinnern kann, ich muss vermutlich fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, haben die Leute immer wieder gesagt, ich wäre viel zu sensibel für einen Jungen. „Man kann dem Jungen nichts sagen, sonst fängt er gleich an zu heulen. Schlimmer als ein Mädchen!“ Der Tenor war immer der Gleiche. „Wie ein Mädchen“, „besser als ein Mädchen“, „schlimmer als ein Mädchen.“ Es hörte einfach nicht auf. Das hat mich schon früh geprägt. Und es hat tiefe Wunden hinterlassen. Warum haben mich meine Eltern da nicht beschützt? Warum haben sie nicht gesagt, dass es okay ist, wie es ist? Dass ich okay bin, so wie ich bin? Oder, wenn das für die damalige Zeit angeblich zu viel verlangt war, weil man sich einbildete, dass es sowas wie schwule Gene in italienischem Blut nicht gibt, warum haben sie nicht einfach bestätigt, dass ich kein Mädchen war? Warum haben sie da immer geschwiegen?

Obwohl meine Eltern seit 1966 ihr Fischerdorf verlassen hatten und als Gastarbeiter nach Stuttgart kamen, waren sie immer noch gefangen in der Mentalität ihrer Vorfahren. Oder ihrer Vor-Vorfahren. Ich kann das gar nicht so genau sagen, an wen sie sich orientiert haben. Dafür aber an was: Nämlich an ihre Kirche. Obwohl sie nie wirklich gläubig waren. Also so mit Sonntags in die Kirche gehen und so. Nein, gläubig, das waren sie wahrlich nicht. Ob sie die Bibel jemals gelesen haben, wage ich stark zu bezweifeln. Sie haben vermutlich auch nie eine im Eiche-Rustikal-Regal stehen gehabt. Trotz der Tatsache, dass sie jahrelang Buchbinder waren und oft Bibeln in allen möglichen Sprachen gedruckt haben. Und obwohl sie angeblich katholisch waren. Religiös waren sie nie.

Somit war ich ganz auf mich allein gestellt. Gegen all diese bösartigen Menschen, die nie verstanden haben, wie unbedacht ihre Kommentare waren. Ich war kein Mädchen. Und wollte auch keins sein. Aber ich war auch kein Junge. Jedenfalls nichts so, wie er im italienischen Buche stand. Ich habe lieber kochen gespielt als Spielzeugautos durch die Gegend rollen zu lassen. Ich habe lieber Puppen frisiert als irgendeinem Ball hinterherzurennen. Raufen und fallen und mir dabei womöglich die Knie aufzuschürfen. Das was wirklich nichts für mich.

Heute weiß ich, dass die meisten Heteros eine Obsession mit der Frage haben, wann denn der Schwule gemerkt hat, dass er nicht auf Mädchen steht. Irgendwie werde ich das immer gefragt, wenn ich über meine Homosexualität erzähle. Es kommt immer aufs Gleiche raus.

Ich muss fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, als ich merkte, dass mir die Jungs besser gefielen. Aber ich wollte nicht nur mit ihnen spielen. Ich wollte ihnen lieber nah sein, sie umarmen. Und mich umarmen lassen. Das hat mich schon immer glücklich gemacht. Das muss doch meine Mutter mitbekommen haben. Und ja, Kinder sind anhänglich und zärtlich und liebevoll zueinander. Und Kinder nutzen die Jahre, die vor ihnen liegen und lernen sich selbst und irgendwann auch ihren Körper immer ein Stückchen besser kennen. Mag alles sein. Aber ich war mir schon immer sehr sicher. Ich wusste nicht, was es war. Aber es war anders. Und es war schön. Es machte mich glücklich, denn in diesen kurzen Augenblicken fühlte ich anders. Ich konnte das lange nicht definieren. Geschweige denn darüber sprechen. Wie denn auch? Aber heute würde ich es als Geborgenheit bezeichnen. Oder Glückseligkeit. Vielleicht beides gleichzeitig.

Spätestens dann, als meine Mutter meinen neuen besten Freund Michael zum ersten Mal traf, muss sie was geahnt haben. Ein drahtiger, sehr eleganter Junge, der sich schon mit fünfzehn die Augenbrauen zupfte und selbst im Sommer die Lippen mit reichhaltiger und glänzender Pflege eincremte. Einer, der Operndivas wie Maria Callas liebte, der im Tanzkurs immer eine gute Figur machte und der bei jedem Schritt wie ein ambitionierter Balletttänzer wirkte. Ich fand das großartig an Michael und ich bewunderte ihn dafür. Und überhaupt, ich verbrachte ständig meine Freizeit mit Michael. Wenn wir uns nach der Schule nicht zum Training im Tanzsportclub trafen oder uns über Mode unterhielten, dann quatschten wir über Belangloses. Es gab Tage, da hingen wir stundenlang am Telefon fest.

Es war immer das gleiche Bild. Ich schnappte mir unseren perlmuttgrünen Tastenapparat, der an einem langen Kabel hing, ging in mein Kinderzimmer, machte die Tür zu und verschwand in eine Welt, in der nur Michael und ich die Hauptdarsteller waren. Wir konnten über alles reden. Und taten es auch. Manchmal redeten wir auch über unser Verlangen nach Jungs. Leise, versteht sich, denn meine Mutter hatte immer wieder die Angewohnheit hinter der Tür zu stehen und zu lauschen. Damit sie den Anschluss nicht verliert.

Selbstverständlich hatte ich Michael erzählt, dass ich heute nach Stuttgart kommen würde. Wir sind mehrmals alles durchgegangen. Und er fand mein Vorhaben super und freute sich für mich. Und war mindestens genau so aufgeregt wie ich, denn ich hatte schlicht und ergreifend Angst. Meinen Eltern hatte ich erzählt, dass ich auf einen Geburtstag eingeladen wurde, dass wir reinfeiern wollen und ich dann eben spät mit dem Auto von irgend jemanden wieder nach Waiblingen, also Nachhause kommen würde. Sie solle sich keine Sorgen machen. Ich würde schon auf mich aufpassen. Sie könne sich auf mich verlassen. Aber das war gelogen. Ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich hier einlassen wollte. Mit meiner Kopie in der Hand suchte ich den Kings Club. Obwohl es ein englischer Name war, sprachen alle immer nur die Anfangsbuchstaben auf deutsch aus. Ka Ce. Die Eingeweihten nannten es so. Wie eine geheime Chiffre. Als wollte man verbergen, was es tatsächlich war. Ein Club für Könige. Und vor allem für Queens. Eine Schwulendisko eben.

Als ich in der Straße ankam, die ich mir auf meinen nassen Zettel mit einem roten Kreis markiert hatte, hatte ich Herzrasen. Angst. Freude. Unsicherheit. Ich habe alle Gefühle nacheinander und gleichzeitig gespürt. In dieser Straße, wo ich da nun stand, war nur ein Laden offen. Alles andere war zu. Büros und Geschäfte hatten längst geschlossen, so kurz vor Mitternacht. Nur dieses Ka Ce hatte offen. Vor dem Eingang standen viele Menschen in einer Schlange. Viele junge Männer und einige gleichaltrige Frauen. Aber auffällig viele Männer. Der Eingang war rot angestrahlt. Das Licht zog diese Männer aus allen Seitenstraßen an.

Völlig verunsichert stellte ich mich hinten in der Schlange an und schaute immer noch keinen wirklich an. Keiner konnte mir ins Gesicht schauen, weil ich jeglichen Blickkontakt vermied. Was, wenn jemand in der Schlange steht, den ich von irgendwo her kenne? Oder der meine Eltern kennt? Oder meine Brüder? Was, wenn mich jemand hier auf der rot angestrahlten Straße aus den vorbeifahrenden Autos sieht?

Dieses warme Licht enttarnte jeden einzelnen von uns. Zwischendrin hatte ich sogar Panik, meine Mutter hätte vielleicht doch etwas mitbekommen, als sie mal wieder im Flur hinter meiner Kinderzimmertür gelauscht hatte und wäre mir von Zuhause mit der S-Bahn bis dorthin gefolgt. Was, wenn sie mir vor all diesen Männern ein paar knallen würde? Oder sie genau vor diesem Laden ihre Drohung wahr machen würde. Zuzutrauen war es ihr. Alles.

Bis ich mich im Club tatsächlich unter die Jungs mischte und auf der Tanzfläche landete, verging noch bestimmt gut eine halbe Ewigkeit. Jetzt war ich bis hierher gekommen und anstatt reinzugehen, lehnte ich an der Wand zwischen Garderobe und Tanzsaal, genau vor den Toiletten und wartete auf den richtigen Moment, der nie so wirklich kommen wollte. Zwischendrin traute ich mich und warf einen schnellen Blick um die Ecke, Mitten in dem vollen Clubsaal. Und obwohl ich in der Mischung aus Rauch und Dunkelheit nichts wirklich sehen konnte, hatte ich immer noch Angst gesehen zu werden. „Was werden die Leute bloß denken?“ war jetzt das Monster, das ich besiegen musste. Die Angst erkannt zu werden. Die Sorge, unsere Familie in ein Unglück zu stürzen. Die Panik, schuld an allem zu sein. All das hatte mich mein junges Leben lang gefesselt gehalten und ich war jetzt hier, weil es mir für einen Moment egal war, was sein könnte. Ich wollte einfach mal spüren, wie es ist. Wie es ist, ich zu sei. Und mit anderen zu sein, die so waren wie ich. Gab es diese Menschen überhaupt?

Ich tanzte. Stundenlang. Ich suchte die Augen der Jungs. Und spürte zum ersten Mal diese Blicke. Diese sanften Blicke. Und irgendwann stand ich mir gegenüber. Ich merkte die vielen Spiegel an den Wänden. Sie sorgten dafür, dass der Raum größer wirkte. Und ich glaube auch, dass sie die Funktion hatten, unser Ego, mein Ego zu stärken. Und zu beschützen. Wie ein Schutzschild gegen all diesen giftigen Stimmen in meinem Kopf. Gegen diese betäubenden Gedanken. Anscheinend nicht okay zu sein. Nicht „männlich“ genug zu sein. Nicht „richtig“ zu funktionieren.

Um halb Drei stand ich wieder auf der Straße. Was, wenn ich jetzt jemanden treffen würde, den ich von irgendwo her kenne? Oder der meine Eltern kennt? Oder meine Brüder? Was, wenn mich jemand hier auf der immer noch rot angestrahlten Straße aus den vorbeifahrenden Autos sieht? An all das dachte ich nicht mehr. Jedenfalls nicht für den Moment.

Das war mein erstes Mal. Mein erstes Mal in einem sogenannten queeren Raum. In einem sogenannten queeren Schutzraum. Und im Laufe meines Lebens wurden es noch sehr viele. Und die haben irgendwie auch mein Leben gerettet.

Denn irgendwann, ich war gerade 19 geworden, haben mich meine Eltern von Zuhause rausgeworfen. Ich landete auf der Straße, habe also kein Abitur und auch keine Ausbildung - und ich hatte damals keine Ahnung, dass es so viele Organisationen gab, die einen solch sensationellen Job machen, wenn es zum Beispiel darum geht, jungen Menschen Halt und Geborgenheit, Sicherheit und ein Zuhause zu geben. Der Kings Club war für ein paar Jahre mein einziges Zuhause. Weil ich dort einfach so sein konnte, wie ich wirklich war.

Und weil ich aus eigener Erfahrung weiß, wie wichtig diese queeren Räume für uns alle sind, freue ich mich, dass Sie sich alle mit diesem wichtigen Thema auseinandersetzen.

Corona hat mit uns allen was gemacht. Ich vermisse die Nachmittage in meinem queeren Café und die Abende im Club und auch Stammtische. Weil es dort nicht nur ums Feiern geht. Sondern auch darum, mit Menschen Zeit zu verbringen, die die eigenen Erfahrungen teilen. Die einem helfen können, zu verstehen, was man da eigentlich fühlt. Die einem Bücher empfehlen und Begriffe erklären. Die einen, wenn man neu dazu stößt, bestärken, dass man richtig ist, wo und wie man ist.

Queer aufzuwachsen, kann einsam sein: Ich dachte lange, niemand wäre wie ich. Dass ich nie über dieses diffuse Gefühl sprechen würde, Jungs irgendwie ein bisschen zu sehr zu mögen. Festzustellen, dass viele andere diese Gedanken auch kennen, war eine große Erleichterung.

Viele queeren Menschen, viele junge queeren Menschen haben im letzten Corona-Jahr eine katastrophale Zeit erlebt. Manche waren fast nur mit Leuten zusammen, die sie nicht akzeptieren. Die sie beleidigen, gefährden, ändern wollen. Manche können sich dort, wo sie leben, nicht outen. Geflüchtete Queers zum Beispiel sind in Unterkünften oft gemeinsam mit denjenigen untergebracht, vor denen sie geflohen sind. Ihnen allen fehlen Orte, an denen sie Schutz finden, bestimmt sehr. Genauso wie persönliche, professionelle Beratung und Unterstützung. Und ich will nicht vom jungen Begehren sprechen. Diese Jugendlichen hatten über ein Jahr lang oft keine Gelegenheit, sexuelle Erfahrungen zu sammeln.

Und wir waren alle mal in dem Alter und können nicht annähernd begreifen, was es mit jungen Menschen macht, wenn sie all diese Erfahrungen und Entdeckungen nicht mehr erleben können. Das sind alles auch soziale Punkte, soziale Fragen, die für das Empowerment von jungen queeren Menschen überlebensnotwendig sind.

Queere Bars, Clubs und Stammtische sind auch politische Orte. Ich muss Ihnen nicht sagen, dass der aktive Kampf queerer Menschen gegen Diskriminierung in einer queeren Bar, im „Stonewall Inn“ in der New Yorker Christopher Street begann.

Queere Safe Spaces sind wichtig, das wissen wir. Und wir müssen als Politik diese queeren Safe Spaces finanziell unterstützen, damit sie überleben. Denn das, was queere Räume an Aufgaben übernehmen, kann der Staat einfach nicht bewältigen. Die Dankbarkeit vor der Leistung, die meine Community jeden Tag leistet, kann die Politik jetzt nur damit zum Ausdruck bringen, wenn es die queeren Clubs und Bars, die nicht-kommerziellen Räume, die Vereine und Organisationen vor dem Ruin, vor dem Verschwinden, vor dem Sterben rettet. Daher ist mein Appell: Bitte helfen Sie uns die Farben des Regenbogens zu erhalten.

Eigentlich hatte ich für heute einen ganz anderen Vortrag vorbereitet. Im Zug von Berlin nach Stuttgart habe ich dann alles umgeworfen. Denn wir können noch so viele queere Räume erhalten, noch so viele neue Safe Spaces schaffen – doch wenn wir uns um die Sicherheit im öffentlichen Raum nicht kümmern, wenn wir den öffentlichen Raum nicht endlich zu DEM Safe Space für meine Community machen, werden wir keine wirkliche Verbesserung geschaffen haben.

Ich will Ihnen die Geschichte von Jan Luca erzählen. 21 Jahre alt. Aus Hessen. Sozialdemokrat. Kommunalpolitisch aktiv. Jan Luca war am vergangenen Samstag zum ersten Mal in seinem jungen Leben auf dem Christopher Street Day in Berlin. Er demonstrierte mit uns und vielen anderen unter freiem Himmel. Am Abend war er dann in Berlin Mitte unterwegs, um genau zu sein am Hackeschen Markt. Er wollte mit 3 Freund*innen zu einem Späti und sich noch ein Getränk besorgen. Aus seinem Rucksack ragte eine Regenbogenfahne mit SPD Logo raus. Plötzlich spürte er einen harten Tritt in seiner Hüfte, er torkelte, drehte sich um und bekam einen Schlag ins Gesicht verpasst. Einen einzelnen Schlag. Er viel zu Boden, die Täter zogen seine Fahne aus dem Rucksack, brachen mit Füßen den Stab, traten auf seiner Fahne und rannten davon. Die Täter brachen nicht nur den Holzstab seiner Fahne, nein, mit dem Schlag haben sie ihm auch einen doppelten Kieferbruch verpasst. Not-OP! 18 Schrauben und 2 Titanplatten stecken jetzt in Jan Lucas Kiefer. Und er könnte bleibende Schäden davon getragen haben, denn ein Nerv wurde so schlimm verletzt, dass es eventuell zu einem partiellen Taubheitsgefühl oder zu einer Lähmung des Kiefers führen kann.

Und von den schweren seelischen Wunden und Verletzungen will ich gar nicht erst sprechen. Jan Luca ist 21 Jahre alt. Es war sein erster CSD in Berlin.

Und wieder war es ein gewalttätiger homophober Angriff, ein feiger Angriff gegen einen von uns. Gegen einen jungen queeren Menschen. Gegen das Kind von einem Vater und einer Mutter. Und wieder ist es ein schwerer Angriff in unserem Land. In meiner Regenbogenstadt Berlin.

Das macht mich wütend. Und ich hoffe, dass es Sie auch wütend macht. Diese Gewalt muss nämlich aufhören. Allein in Berlin werden jeden einzelnen Tag Schwule und Lesben, Bisexuelle, trans* und intergeschlechtliche Menschen angegriffen. Die homo- und trans* feindlichen Angriffe ereignen sich an jedem Tag der Woche, unabhängig ob morgens, mittags, abends oder nachts. Und diese Angriffe finden überall statt – auf belebten Straßen und ruhigen Gassen, auf öffentliche Plätze, im Bus und in der Bahn, in Schöneberg, in Mitte, in Marzahn und überall sonst in Berlin. Jeden Tag bekommt in meiner Stadt, in unserem Land jemand aus meiner Community eins auf die Fresse. Jeden einzelnen Tag.

Der Regenbogen ist in unserem Land Zuhause. Die Homophobie aber leider auch. Das ist ein trauriger Fakt, den wir so nicht weiter hinnehmen können, nicht hinnehmen dürfen, nicht hinnehmen werden.

Die Hasskommentare, die sich gegen die queere Community entluden, bereiten uns Sorgen und machen auch Angst. Ganz oft fällt die Frage, ob wir denn keine anderen Sorgen in unserem Land hätten, als uns immer wieder auch um Themen zu kümmern, die die vermeintlichen Minderheiten, wie die queere Community, betreffen.

Doch, wir haben auch andere Sorgen in unserem Land. Aber eine dieser Sorgen ist die verbale und körperliche Diskriminierung, der Hass, die Gewalt, die viele Menschen in unserem Land jeden Tag aufs Neue erleben – in der Schule, im Beruf, in den Vereinen, in den Kirchen, in den Familien und im öffentlichen Raum. Homophobie und Transphobie, wie auch Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Sexismus, bereiten uns große Sorgen. Denn diese Hasskriminalität nimmt zu und das dürfen wir nicht zulassen.

Wir brauchen die Einsetzung einer Expert*innenkommission durch die Bundesregierung. Diese soll eine systematische Bestandsaufnahme aller Erscheinungsformen von LSBTI-Feindlichkeit und damit verbundener Hasskriminalität erarbeiten sowie Empfehlungen für einen Nationalen Aktionsplan entwickeln. Bestandteil dieses Aktionsplans muss ein Bund-Länder-Programm gegen LSBTI-feindliche Gewalt sein.

Bislang ist die Bundesregierung bei der realen rechtsstaatlichen Bekämpfung von LSBTI-feindlicher Hasskriminalität ein Totalausfall. Seit Jahren weigert sich die Große Koalition bei der von ihr eingeführten Bestimmung zur Hasskriminalität im deutschen Strafrecht homophobe und transfeindliche Motive im Gesetz ausdrücklich zu benennen. Zuletzt hat unsere Bundesjustizministerin diese Forderung im Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität.

Seit 1954 gibt es die Innenministerkonferenz als ständige Einrichtung. Es wird Zeit, dass sie sich endlich auch mit der Sicherheit und Freiheit von queeren Menschen in unserem Land befasst und die spezifisch gegen sie gerichtete Hasskriminalität zum Thema macht. Noch nie stand auf einer dieser Innenministerkonferenzen homophobe und transfeindliche Gewalt als Besprechungspunkt auf der Tagesordnung. Der Kampf gegen LSBTI-feindliche Gewalt muss endlich ihren angemessenen Stellenwert in der deutschen Kriminalpolitik, bei der Erfassung, Prävention und Strafverfolgung erhalten.

Warum diskutieren wir nicht darüber, dass wenn queere Menschen in unserem Land angegriffen werden, es immer auch eine Gefährdung der Inneren Sicherheit ist? Und warum machen wir eine Gefährdung der Inneren Sicherheit immer davon abhängig, wer die Täter*innen waren und nicht wer die Opfer sind?

Stattdessen diskutieren wir politisch an manchen Stellen lieber, ob trans* Männer Männer sind und ob trans* Frauen Frauen sind. Oder ob es uns und Ihnen allen zumutbar ist, ein verdammtes Gendersternchen zu lesen oder ausgesprochen zu hören. Echt jetzt? Selbstverständlich sind trans* Männer Männer und trans* Frauen Frauen! Und auch sie haben ein Recht darauf, dass WIR ihre Würde schützen.

Ich will, wir wollen, frei und sicher leben. Das ist unser Menschenrecht. Aber leider ist es aktuell ein Privileg, dass nur Heterosexuellen für sich in Anspruch nehmen können. Immer dann, wenn Heterosexuelle Hand in Hand durch die Straßen laufen, immer dann, wenn sie auf der Straße die Hand ihrer Liebe berühren, genau dann, denken sie immer an die Zuneigung, an die Vertrautheit, an die Liebe zwischen ihnen. Wenn queere Menschen, wenn Schwule und Lesben Hand in Hand durch die Stadt laufen, dann denken sie zuerst immer an die Angst. Immer. Und das ist echt ätzend!

Auch ich möchte gerne meinen Freund in der Öffentlichkeit küssen dürfen und dabei die Augen schließen. Aber wir müssen dabei immer die Augen offenhalten, aus Angst angegriffen zu werden.

Und weil sich das ändern muss, will ich Ihnen vorab danken. Danke, dass Sie sich heute die Zeit genommen haben, sich mit diesem wichtigen Thema auseinanderzusetzen. Danke, dass Sie meine Community im Blick haben und sie hoffentlich im Blick behalten. Und schützen!

Sie können nämlich politisch was verändern und sie können uns dabei helfen, die Farben des Regenbogens zu erhalten. Tun sie es bitte für all die Jan Lucas da draußen und auch für alle Kinder und Enkelkinder in unserem Land."

(es gilt das gesprochene Wort)

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