Deutschland muss Menschenrechtsverbrechen an LSBTI in Tschetschenien strafrechtlich verfolgen!
Beschluss des 33. LSVD-Verbandstags am 09. Oktober 2021
Seit 2017 werden in der russischen Teilrepublik Tschetschenien massive Menschenrechtsverbrechen gegen LSBTI, vor allem gegen schwule und bisexuelle Männer verübt. Laut dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) umfassen diese „versuchte Anstiftung zur Tötung, Ausrottung, Folter, ‚Verschwindenlassen‘, Zufügen schwerer körperlicher und seelischer Schäden, Freiheitsentzug sowie Verfolgung“. Hierbei hetzen höchste tschetschenische staatliche Vertreter*innen zur massiven Gewalt und Auslöschung queerer Personen in Tschetschenien auf, und dies obwohl in der Teilrepublik russisches Recht gilt, wonach homo- und bisexuelle Lebensweisen und Handlungen nicht verboten sind. Die russischen Strafverfolgungsbehörden haben zwar seit 2017 Aufklärungsmaßnahmen ergriffen, diese dienten jedoch nur dem Schein eines Rechtstaates:
Sie wurden eingestellt, ohne dass auch nur ein*e Tatverdächtige*r identifiziert, geschweige denn ein*e Täter*in strafrechtlich belangt wurde.
Der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) fordert vor dem Hintergrund der Schwere der verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, aufgrund des fehlenden Aufklärungswillens der russischen Stellen und aufgrund der deutschen Verantwortung für die Sicherheit von LSBTI den Generalbundesanwalt auf, Ermittlungen wegen der vom ECCHR und dem Russian LGBT Network zur Anzeige gebrachten Völkerrechtsverbrechen gegen die dafür verantwortlichen Täter*innen einzuleiten. Die systematische Verfolgung von LSBTI in Tschetschenien muss als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt und strafrechtlich verfolgt werden.
Das Russian LGBT Network und ECCHR haben für den Zeitraum von 2017 bis 2019 die Gewalt tschetschenischer Sicherheitskräfte an über 150 LSBTI dokumentiert. Insgesamt über 235 Personen hatte das Russian LGBT Network dabei geholfen, das Land zu verlassen und sie zu dem Erlebten befragt. Darüber hinaus stützt sich die Strafanzeige auf Informationen unabhängiger russischer Journalist*innen und von Human Rights Watch.Hinzu kommen Berichte der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), des Europäischen Komitees des Europarats zur Verhütung von Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT Komitee), der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) und der Länderreport des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) von 2019 zu den Straftaten an LSBTI in Tschetschenien.
Das ECCHR und das Russian LGBT Network berufen sich in ihrer Strafanzeige auf das sogenannte Weltrechtsprinzip, das seit 2002 auch in Deutschland umgesetzt wird. Danach betreffen schwerste Verbrechen wie Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht nur die jeweiligen Staaten, sondern im Zweifelsfall die internationale Gemeinschaft als Ganze. Das erlaubt es Deutschland, Völkerrechtsstraftaten, wie die in Tschetschenien verübten, in einem nationalen 49 Verfahren zu verfolgen. Das Völkerstrafgesetzbuch benennt explizit Menschenrechtsverbrechen, die aus Gründen des Geschlechts begangen werden. Die in Tschetschenien an schwulen und bisexuellen Männern verübten Gräueltaten wurden gerade deswegen verübt, weil diese den heteronormativen Vorstellungen der Täter*innen widersprechen und nicht in das propagierte tschetschenische Männerbild passen. Der erforderliche Anknüpfungspunkt an eine geschlechtsspezifische Verfolgung ist eindeutig gegeben.
Deutschland hat hierbei eine besondere Verantwortung, diese staatlich geförderten Menschenrechtsverbrechen an LSBTI zu verfolgen. Von der Einführung des Paragraphen 175 im Kaiserreich, über die systematische Verfolgung im Nazi-Regime bis weit hinein in die Bundesrepublik, genauer bis zu seiner endgültigen Abschaffung 1994, und auch durch Strafverfolgung in der DDR wurden zigtausende Menschen Opfer der LSBTI-feindlichen Strafgesetzgebung in Deutschland. Mit der Rehabilitierung dieser Opfer 2017 hat sich die Bundesrepublik zu den Unrechtsurteilen, zu ihrer eigenen Schuld und auch zu ihrer Verantwortung für die Wahrung der Menschenrechte von LSBTI bekannt.
Deutschland hat im August 2018 die Einleitung des Wiener Mechanismus der OSZE mitinitiiert und in diesem Rahmen eine Aufklärung der Straftaten gegen LSBTI von Russland eingefordert. Als Reaktion auf die mangelnde Antwort seitens der russischen Regierung leitete Deutschland zusammen mit 15 weiteren OSZE-Mitgliedstaaten den Moskauer Mechanismus ein, damit eine Ermittlungskommission die Straftaten aufdeckt. Auch deren Veröffentlichung führte jedoch zu keinen weiteren Schritten seitens der russischen Regierung zum Schutz der Menschenrechte, wie von OSZE und Europarat gefordert.
(beschlossen auf dem 33. LSVD-Verbandstag am 09. Oktober 2021)
Weiterlesen
- Brutale Verfolgung von LGBTQ* in Tschetschenien: Fall, Kontext und Grundlagen auf der Seite des ECCHR
- 33. LSVD-Verbandstag: Berichte, Resolutionen und Tätigkeitsbericht
- LGBT-Rechte weltweit: Wo droht Todesstrafe oder Gefängnis für Homosexualität?
- LSBTI-Inklusionskonzept für die Auswärtige Politik und Entwicklungszusammenarbeit. Von der Forderung aus der Zivilgesellschaft zum Ministeriumspapier
- Yogyakarta-Prinzipien - Anwendung der Menschenrechte in Bezug auf sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität