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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Schule „divers“ denken: Anregungen und Beispiele für Unterricht und Schulalltag

Viertes Faktenpapier zu Intergeschlechtlichkeit zur Umsetzung einer vielfaltsbewussten Pädagogik in Grundschule und weiterführenden Schulen

Das Thema Intergeschlechtlichkeit sollte an allen Schulen präsent sein: In der Schulordnung, im Bereich Verwaltung (z.B. in Formularen und Anreden), im Schulgebäude (z.B. bei der Beschriftung von Toiletten und Umkleideräumen), im Schulmaterial (z.B. in der Mediothek und in Schulbüchern) und im Unterricht.

Screenshot vom Cover: Viertes Faktenpapier zu Intergeschlechtlichkeit. Schule divers denken. Anregungen und Beispiele für Unterricht und Schulalltag

Hier dokumentieren wir das vierte Faktenpapier "Schule „divers“ denken: Anregungen und Beispiele für Unterricht und Schulalltag" des Vereins Intergeschlechtliche Menschen. Die Broschüren "Fakten zu Intergeschlechtlichkeit" entstehen seit 2020 im Rahmen des Kompetenznetzwerkes "Selbst.verständlich Vielfalt" und können dort auf der Webseite auch als pdf kostenlos heruntergeladen werden.

Für das Kompetenznetzwerk hat der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) gemeinsam mit dem Bundesverband Trans* und der Akademie Waldschlösschen die "Demokratie leben!" Förderung erlangt. Der Verein Intergeschlechtliche Menschen e.V. bereichert das LSVD-Projekt mit seiner Expertise zu den Varianten der geschlechtlichen Entwicklung.

Geschlechtliche Vielfalt in der Schule?

„Die Menschenwürde ist die wichtigste Werteentscheidung des Grundgesetzes. Sie kommt allen Menschen allein schon kraft ihres Menschseins zu und ist unantastbar. Somit ist auch Schule kein wertneutraler Ort. Das pädagogische Handeln in Schulen ist von demokratischen Werten und Haltungen getragen, die sich aus den Grundrechten des Grundgesetzes und aus den Menschenrechten ableiten lassen.“

Kultusminister*innenkonferenz 2018 (1)

Schätzungen zufolge leben in Deutschland etwa 160.000 intergeschlechtliche Menschen. Darunter sind etwa 22.000 Kinder und Jugendliche, die eine Schule besuchen. Auch diese Kinder und Jugendlichen haben das Recht, dass ihnen im Schulalltag vorurteilsfrei und wertschätzend begegnet wird und sie sich nicht verstecken müssen. 

Um das von der Kultusminister*innenkonferenz gesteckte Ziel zu erreichen, muss das Thema Intergeschlechtlichkeit an allen Schulen präsent sein: In der Schulordnung (2), im Bereich Verwaltung (z.B. in Formularen und Anreden), im Schulgebäude (z.B. bei der Beschriftung von Toiletten und Umkleideräumen), im Schulmaterial (z.B. in der Mediothek und in Schulbüchern) und im Unterricht.

Nur so können Wissenslücken beseitigt und Vorurteile abgebaut werden. Dieses Faktenpapier bietet Argumente und Literaturhinweise zur Umsetzung einer vielfaltsbewussten Pädagogik.

Wissen für alle zugänglich machen

Wie für alle Kinder ist es auch für intergeschlechtliche Kinder wichtig, dass sie in Schulalltag und Unterricht wahrgenommen werden. Und zwar nicht als „andere“, sondern als ganz „normale“ Kinder. Aufklärungsarbeit an Schulen kann wesentlich dazu beitragen, dass die Kinder und Jugendlichen selbst besser mit ihrer Intergeschlechtlichkeit umgehen können.

Schulpsycholog*innen, Schulsozialarbeiter*innen und Vertrauenslehrer*innen sollten Schulungen zum Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt besuchen und Adressen für entsprechende Unterstützungsangebote für Schüler*innen bereithalten. Und alle an Schulen Tätigen brauchen ein solides Grundwissen über Intergeschlechtlichkeit. So sollten sie etwa wissen, dass es eine Vielzahl intergeschlechtlicher Körper gibt und dass oft die Intergeschlechtlichkeit nicht schon bei der Geburt, sondern erst im Pubertätsalter erkannt wird, also in einem Alter, in dem sich die Kinder bereits in einer weiterführenden Schule befinden.

Das Basiswissen gilt es zu erwerben, bevor ein intergeschlechtliches Kind an die Schule kommt. Das erleichtert den Umgang mit dem Kind und auch mit den Eltern. Eltern erleben sich notgedrungen in der Rolle der Aufklärenden – über Intergeschlechtlichkeit, die Besonderheit ihres Kindes und ihren persönlichen Umgang damit. Wenn auf eine Information der Eltern kein überraschtes „So etwas gibt es?“ folgt, sondern ein „Wir sind informiert, wie sollen wir mit Ihrem Kind umgehen?“, entlastet dies auch die Eltern. Wichtig zu wissen ist, dass nicht alle Eltern und Kinder einen offenen Umgang mit der Variante der Geschlechtsentwicklung wünschen. Dies gilt es zu respektieren.

Rahmenlehrplan und Unterricht

Aufklärung über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt ist mittlerweile Bestandteil der Rahmenlehrpläne aller Bundesländer. Es gibt jedoch große Unterschiede bezüglich der inhaltlichen Tiefe, mit der dieses Thema behandelt werden soll, und der Zuordnung zu bestimmten Fächern.

Inwieweit das Thema Intergeschlechtlichkeit an Schulen tatsächlich angemessen behandelt wird, ist fraglich. Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Unsicherheiten, etwa bei der gelungenen Umsetzung im Unterricht, können entstehen, wenn das Thema in der Aus- und Weiterbildung von Lehrenden nicht ausreichend beachtet wird. 

Eine Beschränkung auf das Fach Biologie wird der Thematik nicht gerecht. Denn bei Intergeschlechtlichkeit handelt es sich nicht allein um körperliche Besonderheiten, sondern um ein hoch tabuisiertes Thema, das in vielen gesellschaftlichen Bereichen zu Diskriminierungen von Menschen führt. Schon deswegen sich Lehrer*innen nicht an das Thema herantrauen. Auch kommt Intergeschlechtlichkeit in vielen Schulbüchern nicht vor und die wenigen geeigneten Materialien, die es bereits gibt, sind nicht leicht zu finden. 

Konkrete Hinweise für eine geschlechtergerechte Erziehung und Bildung

Grundschule 

Bei der Behandlung des Themas Geschlecht im Sachkundeunterricht muss auch Intergeschlechtlichkeit thematisiert werden. Gleichzeitig kann im Deutschunterricht ein Buch über Intergeschlechtlichkeit als Klassenlektüre gelesen werden, in dem das Thema vorurteilsfrei behandelt wird.

Auch für Grundschulen gibt es Materialien zur Sexualkunde für die geschlechtersensibel sind und Diversität positiv darstellen. Intergeschlechtlichen Kindern kann es dadurch leichter fallen, ihre körperliche Besonderheit zu verstehen und sich so zu akzeptieren, wie sie sind.

Weiterführende Schulen

Hier bieten verschiedene Fächer die Möglichkeit, die unterschiedlichen Aspekte von Intergeschlechtlichkeit zu thematisieren:

Im Biologieunterricht lässt sich, Kindern und Jugendlichen zu vermitteln, dass körperliche Geschlechtlichkeit einer großen Vielfalt unterliegt. Thema kann hier auch die Ausbildung einer geschlechtlichen Identität sein, die der Körperlichkeit entsprechen kann, aber nicht in jedem Falle muss.

Weitere Aspekte der Intergeschlechtlichkeit lassen sich in den Fächern Ethik oder Sozialkunde aufgreifen, etwa wenn es um das eigene Ich, um Beziehungen zwischen den Geschlechtern, um Ausgrenzung oder Mobbing geht. Auch hier muss geschlechtliche Vielfalt immer mitgedacht werden, vor allem, wenn geschlechtliche Selbstbestimmung thematisiert wird.

Im Fach Politik können am Beispiel des gesellschaftlichen Umgangs mit Intergeschlechtlichkeit Menschenrechtsverletzungen an XY-Frauen oder die Genitalverstümmelungen an intergeschlechtlichen Babys thematisiert werden.(3)

Im Fach Deutsch lassen sich durch die Analyse von Gedichten oder Zeitungsartikeln mit Bezug zu Intergeschlechtlichkeit Perspektiven erweitert und im Fach Kunst kann der Blick von Künstler*innen auf intergeschlechtliche Körper Inhalt einer Unterrichtseinheit sein.(4)

In vielen Regionen in Deutschland gibt es ehrenamtlich arbeitende Initiativen, die sich um Aufklärung über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in Schulen bemühen und dabei auch Intergeschlechtlichkeit inkludieren. Für Schüler*innen sind Workshops durch externe Personen hilfreich, da durch diese Unterrichtsform Schamgefühle vermieden und Gesprächsbereitschaft gefördert werden können.

Solche guten Ergänzungen zum normalen Schulalltag sollten keine einmaligen, isolierten Veranstaltungen sein, mit denen das Thema „sexuelle und geschlechtliche Vielfalt“ ein für alle Mal in der Schullaufbahn abgehandelt wäre. Erlangtes Wissen muss bekanntlich laufend wiederholt und erweitert werden und Einstellungen entwickeln sich nur durch kontinuierliche Arbeit.

Geschlechtervielfalt in Schulbüchern und pädagogischen Materialien

Auch in neu überarbeiteten Schulbüchern für den Biologieunterricht fehlt das Thema Intergeschlechtlichkeit bisweilen ganz oder wird nur kurz erwähnt. Manchmal findet sich hier noch immer eine pathologisierende Sichtweise auf Intergeschlechtlichkeit und meist wird das Thema erst gegen Ende der Schulzeit behandelt.

Die folgende Übersicht macht daher auf pädagogisches Material aufmerksam, das ergänzend zum jeweils eingeführten Schulbuch verwendet werden kann.

Didaktisches und pädagogisches Material sowie Kinder- und Jugendbücher

  • Bildungsinitiative Queerformat (Hrsg.): Unterrichtsbausteine zum Thema Intergeschlechtlichkeit für die Grundschule zum Buch PS: Es gibt Lieblingseis von Luzie Loda. Berlin 2018.
  • Elvau, Ika: Inter*Trans*Express. Eine Reise an und über Geschlechtergrenzen. Münster 2014.
  • Loda, Luzie: PS: Es gibt Lieblingseis. Hamburg 2018.
  • Lotz, Alexander. (Hrsg.): Vielfalt in Sexualität und Geschlecht: Biologie Klasse 5 – 10. Berlin 2020.
  • Rosen, Ursula und Rosen, Ingeborg: Alles divers: Unterrichtseinheiten zur Vielfalt des Lebens. Lingen 2021.
  • Rosen, Ursula: Jill ist anders. Ein Kinderbuch zur Intergeschlechtlichkeit. Lingen 2018.
  • Spahn, Annika und Wedl, Juliette (Hrsg.): Schule lehrt/lernt Vielfalt. Göttingen 2018.
  • Palzkill, Birgit; Pohl, Frank G. und Scheffel, Heidi: Diversität im Klassenzimmer. Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in Schule und Unterricht. Berlin 2020.
  • Queeramnesty (Hrsg.) Jede*r hat ein Geschlecht – das Eigene. Unterrichtseinheit zum Thema Intergeschlechtlichkeit: Sichtbarkeit und Menschenrechte. Berlin 2020.

Siehe auch: Bilderbücher, Spiele und Fachliteratur zum Thema Vielfalt: Familie, Geschlecht & sexuelle Identität. Materialempfehlungen des Konsultationsangebots Regenbogenfamilie und des Regenbogenfamilienzentrums

Quellenverzeichnis

(1) Vgl. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2018/Beschluss_Demokratieerziehung.pdf (letzter Zugriff 12.04.2021).

(2) Spahn, A. (2018): Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in die Schulordnung! In: Spahn, A. und J. Wedl (Hg.): Schule lehrt/lernt Vielfalt. Edition Waldschlösschen Materialien Heft 18, Göttingen, S. 92f.

(3) Mit dem Themenbereich „Menschenrechte und Intergeschlechtlichkeit“ beschäftigt sich beispielsweise ein 2020 erschienener Unterrichtsentwurf (geeignet ab der 8. Klasse) von Amnesty International, der in Zusammenarbeit mit Intergeschlechtliche Menschen e.V. entstanden ist. Am Ende der Einheit haben die Schüler*innen Basiswissen über Intergeschlechtlichkeit erhalten und sind über Menschenrechtsverletzungen an inter* Personen in Deutschland infor-miert.

(4) Vgl. Vogler, F. und Schweizer, K. (2018): Die Schönheiten des Geschlechts. Intersex im Dialog. Campus Verlag Frankfurt.

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